Sichtweise, Meditation und Handlung - frei nach Milarepas Mahamudra-Gesängen
Sichtweise, Meditation, Handlung und Frucht (das Ergebnis) sind die Grundlage des Vajrayana.
Die Sichtweise des Vajrayana bezieht sich auf das Verständnis der wahren Natur der Phänomene. Intellektuelles Verständnis reicht jedoch nicht aus, um erleuchtet zu werden, weil wir über das, was verstanden werden soll, meditieren müssen, um eine Erfahrung darüber zu erlangen.
Nur zu meditieren reicht jedoch auch nicht aus, denn wir müssen wissen, ob wir vollkommen richtig meditieren oder nicht. Schliesslich, um Erleuchtung zu erlangen, müssen wir in der Zeit zwischen den Meditationen auf reine Weise in der Welt handeln.
Die Essenz des Vajrayana ist es, eine fehlerlose Sichtweise zu halten, korrekte Meditation zu üben und reine Handlungen auszuführen. Dazu gibt es jeweils drei Aspekte, die zu beachten sind.
Drei Aspekte der Vajrayana-Sichtweise über die wahre Natur des Geistes:
(1) Alle Erscheinungen und alles Existierende sind Teile des einen Geistes. Alle äußeren Formen, Klänge, Geschmäcker, Gerüche und Berührungsempfindungen entstehen innerhalb des Geistes. Innere Empfindungen wie Glück, Leid, Scham, Gedanken und alle anderen geistigen Objekte gehen ebenfalls aus dem Geist selbst hervor.
(2) Was ist Geist? Geist ist Klarheit und Information. Geist ist kein materielles Ding. Geist kann denken und sich verändern, kann sich mit klarer Bewusstheit in allen Arten von Gedanken ausdrücken.
(3) Doch der Geist selbst kann nicht gefunden werden, denn seine Natur ist Leerheit. Während einige Lehrer ihre Schüler zunächst in die Bedeutung von Leerheit einführen und dann in seine Klarheitsnatur, führt Milarepa zunächst die Klarheit des Geistes ein und dann die Leerheit - indem er darauf hinweist, dass die Klarheit nicht als 'etwas' gefunden werden kann.
Die drei Aspekte der Meditation sind:
(1) In der Meditation erscheinen viele Gedanken. Wenn die Natur des Geistes nicht erkannt ist, werden die Gedanken zu einem Problem; sie erscheinen fest und werden zu einem Hindernis. Wird jedoch die wahre Natur des Geistes verwirklicht, so befreien sich die in der Meditation weiterhin auftauchenden Gedanken selbst, indem sie als ungetrennt vom Wahrheitszustand (Dharmakaya) erlebt werden.
(2) Wenn Gedanken auf natürliche Weise als ungetrennt vom Dharmakaya erkannt werden, ist die Klarheit des Geistes ein Zustand der Ekstase, der frei von jeglicher Form von Leid ist. Meditation wird dann von einer Erfahrung höchster Freude begleitet.
(3) Diese Art der Meditation besteht nicht in der Erschaffung von etwas Neuem. Täuschung wird durch den Geist beseitigt, indem er in seinem eigenen natürlichen Zustand ruht, unverändert und ungekünstelt. Der Geist muss ruhig werden, in der Natur des Geistes selbst entspannt werden.
Die drei Aspekte der Handlung sind:
(1) Im Vajrayana ist es nicht nötig, sich bewusst um die Verwirklichung der 10 positiven Handlungen zu bemühen. Die Ausübung der guten Handlungen entsteht spontan aus der Verwirklichung, die aus der Meditation resultiert.
(2) In gleicher Weise werden die 10 leidbringenden Handlungen spontan vermieden, ohne dass eine bewusste Kontrolle der Handlungen notwendig ist. Mit der Verwirklichung der wahren Natur des Geistes ist es nicht nötig, auf eine gekünstelte Weise zu handeln.
(3) Es wird ausserdem keine Notwendigkeit dafür geben, Handlungen künstlich herbeizuführen, die der Wiedergutmachung dienen, um Verwirklichung durch Anstrengung zu erzeugen. Wenn man entspannt im natürlichen Zustand des Geistes ruht, wird die Verwirklichung von Klarheit und Leerheit auf natürliche Weise hervortreten.
Die drei Aspekte der Frucht sind schliesslich:
(1) In Buddhas aussergewöhnlicher Sichtweise des Vajrayana sind die Zustände von Nirvana und Buddhaschaft nicht an irgendeinem anderen Ort zu suchen. Wir müssen also nirgendwo hingehen, um sie zu erreichen. Sie sind ausserdem nichts, was neu erschaffen oder erst noch erlangt werden müsste.
(2) Samsara ist nicht zu vergleichen mit Abfall, der wegzuwerfen ist. Es gibt da nichts, das weggeworfen werden könnte. Die Wesensnatur von Samsara ist Nirvana - ob wir es erkennen oder nicht.
(3) Nirvana ist nichts, das erschaffen werden müsste und Samsara ist nichts, das eliminiert werden müsste, weil unser Geist schon Buddhaschaft ist. Es gibt keine Buddhaschaft, die etwas anderes wäre, als das, was wir sind; Buddhaschaft ist die Natur unseres eigenen Geistes.