Unterschied zwischen "Gewahrsein", "Achtsamkeit" und "Aufmerksamkeit"?

  • Es gibt inzwischen ja gute Glossare zu buddhistischen Fachbegriffen, die uns Fremdwörter aus dem Pali und Sanskrit übersetzen. Aber wie steht es mit den deutschen Fachbegriffen?

    Ich suche schon seit einiger Zeit eine genaue Erklärung der Begriffe "Gewahrsein", "Achtsamkeit" und "Aufmerksamkeit". Sie kommen fast in jedem buddhistischen Buch vor, aber irgendwie scheint es mir, als ob jeder die Begriffe etwas anderes verwendet.


    In Wikipedia [https://de.wikipedia.org/wiki/portal:buddhismus/glossar] steht als Erklärung für Achtsamkeit:

    "Achtsamkeit (pa. sati, skt. smriti): Sich seiner Gefühle, Gedanken und Handlungen in jedem Augenblick voll bewusst sein."

    Ich dachte tatsächlich bisher, das wäre Gewahrsein.


    Gewahrsein ist für mich "Sich bewußt sein, was innen und außen abläuft".

    Achtsamkeit hingegen ist für mich die "Fokussierung auf etwas bei gleichzeitigem Gewahrsein, was innen und außen abläuft".

    Und die Aufmerksamkeit bedeutet für mich "Einen kleinen Teil vom Rest isolieren, um es zu betrachten, zu analysieren usw."

    So ähnlich ist es auch im Duden definiert, aber das muß ja nicht bedeuten, daß im Buddhismus die Begriffe genauso verwendet werden. Ist da überhaupt irgendwas vereinheitlicht?


    Wenn ein Zenmeister als Meditationshilfe, wenn schmerzhafte Gefühle aufkommen, schreibt: "Umarme den Schmerz mit Achtsamkeit, bis er sich beruhigt hat", was genau meint er dann damit? Nach meiner Definition müßte das dann heißen, den Schmerz wahrzunehmen, ohne den Kontakt zum Körper oder umliegenden Raum zu verlieren, d.h. den Schmerz nicht wegzuschieben, aber auch sich nicht darin zu verlieren. Wie seht ihr das? (Das ist z.B. eines der Beispiele, warum ich gerne genauer wüßte, was gemeint ist. Ich habe diesen Satz lange Zeit nicht genau verstanden und da bin ich sicher nicht die Einzige.)


    Sind diese 3 Begriffe im Buddhismus festgelegt?

    Oder werden die je nach Lehrer, buddhistischer Richtung, Autor oder Buchübersetzer usw.,etwas anders verwendet?


    Ich freue mich auf eure Antworten!

    _()_

    User19823

  • Hallo User19823,


    'umarme den Schmerz mit Achtsamkeit" verstehe ich so:


    Man nimmt den Schmerz wahr und bewertet ihn nicht, man nimmt ihn genau so an, wie er ist.

    Ohne sich mit ihm zu identifizieren.

    Um ihn dann wieder loszulassen zu können. Nicht anhaften, nicht loswerden wollen.

    So wie es ist.

  • Weshalb du irgendwann in der Meditation merkst, dass deine Achtsamkeit auf das Meditationsobjekt weg war, das ist gewahrsein.

    Ich glaube, das nennt man peripheres Gewahrsein.

    Wenn man sich z.B. nicht mehr auf den Atem konzentriert sondern das Zwitschern der Vögel wahrnimmt.


    Konzentriert man sich auf den Atem (oder auf ein anderes Meditationsobjekt) ist das auch Gewahrsein, aber konzentratives Gewahrsein.


    Weshalb du irgendwann in der Meditation merkst, dass deine Achtsamkeit auf das Meditationsobjekt weg war, das ist gewahrsein.

    Das sehe ich genau anders herum:

    Merkt man bei der Meditation ob man beim Meditationsobjekt ist oder nicht, ist das Achtsamkeit.


  • Ich bin mir beim obigen Zitat nicht sicher, ob nicht doch eine Analyse des Schmerzes von Nöten ist, um ihn endgültig los zu werden.

    Wenn dieser Herkunftswurzel des Schmerzes keine Beachtung geschenkt wird, um überhaupt zu verstehen, was da los ist, könnte dieses nur oberflächlich verschwinden.


    Dann würde es aber bedeuten, dass man sich identifizieren müsste, um zu analysieren.

    Und ob die Analyse mit in die Achtsamkeit fließt, weiß ich jetzt leider nicht.


    Das sind nur meine Gedanken dazu.

    Liebe Grüße Schneelöwin


    Ein Geist, der an eine Idee gebunden ist, an ein Konzept, an eine Wertvorstellung macht Handlung immer korrupt. Wenn man an einen Glauben gebunden ist, wird die eigene Handlungsweise glaubensgemäß und daher korrupt sein. Wenn man nach seinem eigenen Erfahrungswissen handelt, wird die Begrenztheit des Wissens die Handlung immer korrupt sein lassen.

    Jiddu Krishnamurti




    Einmal editiert, zuletzt von Schneelöwin ()

  • Gewahrsein ist für mich ein Fühlen mit Bewertung: oh, ich habe das Objekt der Medi "verloren". Ich bin mir meiner Trauer gewahr.

    Achtsamkeit ist ein Prozess verbunden mit Konzentration. Achtsamkeit ist "weit", Konzentration ist "Fokus", der dann entsteht, wenn die Achtsamkeit etwas wahrnimmt, was z.B. bedrohlich ist.

    Aufmerksamkeit sehe ich auch als ein "Analysieren" davon, was ich sehe, höre, rieche, grundsätzlich wahrnehme. Z.B. wenn es nach Gekokeltem riecht, werde ich aufmerksam, weil ich vielleicht vergessen habe, auf den Herd zu achten.

    Ich merke auf!

    Aber eigentlich spielt alles zusammen. Und wer achtsam ist, dem fällt viel auf. Nur was ich weiß, kann ich auch sehen.

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    Ohne mich ist das Leben ganz einfach

    Ayya Khema

    Oder anders ausgedrückt: Die Beherrschung der Gedanken ist der Weg zum Glück (SH Dalai Lama)

  • 'umarme den Schmerz mit Achtsamkeit" verstehe ich so:

    Man nimmt den Schmerz wahr und bewertet ihn nicht, man nimmt ihn genau so an, wie er ist.

    Ohne sich mit ihm zu identifizieren.

    Das ist zu allgemein. Erstmal soll man sich nicht dem Schmerz

    ausliefern wenn es nicht nötig bzw, vermeidbar ist. Der Buddha

    hat die Schmerzenskasteiung abgelehnt.

    Schmerz nicht zu bewerten ist schwierig denn Schmerz ist schon

    eine Bewertung. Nämlich die Bewertung eines Gefühls als Schmerz.

  • Im übrigen ist Schmerz ein Signal, das - genau so wie Hunger und Durst - nicht einfach ignoriert werden darf.

    Man nimmt den Schmerz wahr und bewertet ihn nicht, man nimmt ihn genau so an, wie er ist.Ohne sich mit ihm zu identifizieren.

    Um ihn dann wieder loszulassen zu können. Nicht anhaften, nicht loswerden wollen.

    So wie es ist.


    Dennoch finde ich die Aussage gut, weil sie hilft, den Schmerz anzunehmen.

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  • Achtsames Gewahrsein ist eine heilsame Form von Gewahrsein. Worunter ich ein blosses Wahrnehmen verstehe: "Gewahrsein einer Sache"/Wahrnehmung einer Sache.


    Achtsamkeit lässt sich ebenso wie Unachtsamkeit fördern/entwickeln. Achtsame Zustände sind mit grösserer Abwesenheit von zB innerer Unruhe, Zweifel, Angst.


    Achtsameres Handeln ergibt sich (auch) aus achtsameren Gewahrsein.


    --


    Den Begriff Aufmerksamkeit würde ich nocheinmal gesondert behandeln. Es gäbe hier in meinen Augen einiges mehr zu sagen.





    :earth:

  • Die drei Begriffe, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Gewahrsein finden sich in einen Bewusstseinsmoment (Wirkunsprozess) wieder.


    Aufmerksamkeit: entspricht Aufmerken an den 5 Sinnen.

    Achtsamkeit: entspricht erkennen und beurteilen des Aufgemerkten.

    Gewahrsein: entspricht der Wahrnehmung des Erkannten
    und Beurteilten

  • Also manchmal ist das alles Haarspalterei und führt eher zu Verwirrung als zu Klarheit.

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  • Zitat


    Sind diese 3 Begriffe im Buddhismus festgelegt?


    Oder werden die je nach Lehrer, buddhistischer Richtung, Autor oder Buchübersetzer usw.,etwas anders verwendet?


    Das Zustandekommen dessen, was mit diesen Begriffen gemeint wird, wird im Buddhismus versucht zu erklären. Da ist es zuerst wichtig, Einigkeit darüber zu erzielen, was die deutschen Begriffe, auch unter Berücksichtung ihrer Bedeutungsgeschichte, bedeuten sollen.


    Der Begriff "Achtsamkeit" wurde und wird ja durch Übersetzer schon gefunden & bestimmt, als ein passender Begriff für eine GeistesHaltung, die man in buddhistischen Texten beschrieben bekommt. Für passend wurde der Begriff befunden, weil da eine ursprüngliche (aus der Geschichte der deutschen Sprache sich entwickelte) Bedeutung ist und war, mit deren Hilfe sich die Bedeutung im UrsprungsText (der Auffassung des Übersetzers gemäß) erschließen lässt. Das soll heissen: Achtsamkeit ist zuersteinmal die (deutsche) Achtsamkeit. Also eine Art geistesgegenwärtige Vorsicht/Behutsamkeit.


    Der (deutsche) Begriff Aufmerksamkeit verweist einerseits auf den Vorgang des Aufmerkens (des "plötzlichen Gewahrwerdens"), anderseits auf den Zustand "Konzentration", denn man kann etwas sehr aufmerksam lesen, zB. Der Begriff der Aufmerksamkeit wird im Zusammenhang mit der konzentrierten/genauen/konsequenten Betrachtung von Sinneseindrücken benutzt. "Aufmerksam denken" - so eine Formulierung habe ich noch nicht gelesen. "Aufmerksam handeln" - so eine auch nicht.


    Denken/Erwägen/Vorstellungsbildungen sind aber auch Handlungen. Achtsam soll man in Bezug zu allen drei Handlungsarten sein (Denken, Sprechen, Tun)


    Achtsamkeit, Behutsamkeit im Umgang mit Denkhandlungen - also dass man vorsichtig mit dem sein soll, was man sich wünschend oder ablehnend vorstellt und ausmalt, dafür finden sich im Deutschen so wie ich es sehe, wenige oder kaum entsprechende Formulierungen, weil es nicht bekannt ist oder war, dass es aus moralischer Sicht (dieser Begriff ist ja sehr prägend für unser Verständnis von den richtigen und falschen Handlungen und auch Betrachtungsweisen) vielleicht sogar angebracht wäre, ebenso die ("privaten") Denkhandlungen und Vorstellungen und Vorstellungsbildungen zu hinterfragen.


    Aufmerksam sein, auch in Bezug zu den Ideen, denen man anhängt und die man sich ausmalt - dafür sagen deutsche Buddhisten: achtsam auch in Bezug hierauf sein. Unsere Sprache kennt diese Idee nicht: dass es wichtig ist, auch hier sehr aufmerksam zu sein.




    :earth:

    • Achtsamkeit ist für mich der Vergleich mit dem "Wächter an den Toren der Sinne". Denn es fühlt sich für mich auch ganz anders an - mein Geist ist still.
    • Aufmerksamkeit ist für mich der Vergleich mit dem Hofhund, der bellt, wenn etwas oder jemand den Hof betritt. Aber es kann durchaus sein, dass er mit anderen Hunden spielt.
    • Gewahrsein ist für mich das Erkennen (Analysieren), "ob da was war oder nur in meinem Kopf".
    • Konzentration ist für mich die Fähigkeit, mich auf ein Objekt zu fokussieren und alles andere auszuschalten.
    • Achtsamkeit in Zusammenarbeit mit Konzentration ist die Fähigkeit, beides zu verbinden. Ich bringe gern das Beispiel vom Arzt, der sehr konzentriert einen Patienten behandeln muss, aber gleichzeitig wahrnimmt, dass es nach Feuer riecht, weil er achtsam seine Umgebung im Blick hat.

    Ohne mich ist das Leben ganz einfach

    Ayya Khema

    Oder anders ausgedrückt: Die Beherrschung der Gedanken ist der Weg zum Glück (SH Dalai Lama)

  • :like: Danke für eure interessanten Beiträge! :like:

    Was ich aus euren Beiträgen gelernt habe, ist, daß es doch zumindest im Detail unterschiedlich ist, wie diese Begriffe verwendet werden.

    Deshalb sollte man in Büchern mit Meditationsanweisungen genauer hinschauen, was genau der Autor mit diesen Begriffen gemeint hat.


    Und, ist euch was aufgefallen?

    Wir haben diese Diskussion tatsächlich ohne Richtungskampf und Abwertung anderer Meinungen geschafft. Fand ich richtig Klasse!:star::star: