Also, da wir schon dabei sind, möchte ich hier noch "TMI" offiziell vorstellen. Naja, zumindest mal grob umreißen. Der deutsche Titel ist leider vollständig aussagelos, aber unter dem Namen "The Mind Illuminated" ist das System recht bekannt und auch, zumindest im englischsprachigen Raum, ziemlich erfolgreich.
Zu Recht.- Es handelt sich hierbei meiner Meinung nach um eines der bedeutendsten Meditationsbücher der letzten Jahre. Ein überaus ambitioniertes Projekt, das bis auf wirkliche Kleinigkeiten gelungen ist.
Grundsätzlich handelt es sich um eine überaus detaillierte Anleitung zur Samatha-Vipassana-Meditation, mit einem Schwerpunkt auf Samadhi-Techniken, besonders am Anfang. Es ist überkonfessionell konzipiert und basiert großteils auf Theravada- und Vajrayana-Lehren. Aber nur diejenigen, die sich auf diese Meditation beziehen. Die Hauptquellen sind:
- Asangas neun Stufen
- Kamalasilas "Bhavanakrama" (Stufen der Meditation)
- Buddhagosas Visudhimagga (Pfad der Reinigung).
Das ist aber höchstens die halbe Miete. Yates hat aus den neun Stufen zehn gemacht und eine enorm ausführliche Anleitung geschrieben, mit dem Ziel, möglichst viele Fragen, die sich unterwegs stellen, vorwegzunehmen. Dazu muss man sagen, dass er nicht nur Jahrzehnte an Ausbildung im Theravada und Vajrayana hat, sondern auch Professor für Physiologie und Neurowissenschaften war. Er hat deswegen nicht nur wissenschaftliche Qualifikationen als Forscher, sondern kennt auch den aktuellen Stand was Gehirn- und Bewusstseinsforschung angeht.
Der Aufbau ist so, dass zwischen den Kapiteln, die die verschiedenen Stufen beschreiben, "Interludes" sind, theoretische Abschnitte, die theoretische Grundlagen unseres Bewusstseins beschreiben. Es gibt ein Einstiegskapitel, das den Plan umreißt, und dann Übungen in aufsteigender Komplexität, die aufeinander aufbauen. Damit es nicht so abstrakt bleibt, ganz grob die ersten drei Stufen:
1. Eine regelmäßige Meditationspraxis etablieren, sodass man jeden Tag sitzt. Es wird am Anfang weniger empfohlen, auf Dauer sollte man mindestens 45min am Tag sitzen, und zwar am Stück. Das ist ja schon eine recht ambitionierte Empfehlung. Es gibt Erklärungen zu Hindernissen, Prokrastination und Ausreden. Man soll eine starke Motivation aufbauen und seine Intentionen klar formulieren. Die Stufe gilt als gemeistert, wenn man täglich meditiert und keine Sitzungen ausfallen lässt.
2. Erstes Üben der Konzentation auf den Atem. Hier werden im Theravada-Stil mit geschlossenen Augen die Nasenlöcher gespürt. Großer Wert wird darauf gelegt, das Ärgern übers Abdriften abzulegen, es gilt, sich zu freuen, wenn einem auffällt, dass man abgeschweift ist. Die Stufe gilt als gemeistert, wenn man die Aufmerksamkeit zumindest für einige Minuten auf dem Meditationsobjekt belassen kann, ohne abzudriften.
3. Die Konzentration wird vertieft. Es geht nun auch darum, die auftauchenden Ablenkungen (Mahasi-Style) zu benennen, und die Atemzüge zu "verbinden". Die Stufe gilt als gemeistert, wenn man nur noch in Ausnahmefällen komplett vom Objekt abschweift.
Wer das geschafft hat, hat den ersten Meilenstein erreicht. Und so geht es dann weiter. Dann gibt es noch Anhänge, in denen Gehmeditation, Metta, analytische Meditation, Jhanas und die "dunkle Nacht der Seele" erklärt werden.
Diese enorme Komplexität ist auch der Hasenfuß der Methode. Es ist nämlich sehr leicht, von der enormen Anzahl an Techniken und Übungen eingeschüchtert und überwältigt zu werden. Man muss sich seine Praxis schon gut selbst organisieren können, um dies alles zu memorieren und dann zu entscheiden, was grade anzuwenden ist. Das ist am Anfang nicht einfach, weil man halt wirklich nahezu alle Informationen präsentiert bekommt. Deswegen ist das Buch auch als "TMI = too much information" verrufen.
Zudem birgt die Einteilung in Stufen natürlich die Gefahr, dass Ehrgeiz entflammt wird und man sich selber Leistungsdruck macht. Wer dafür sehr anfällig ist, für den ist evtl. eine Zen-Praxis besser zugänglich.
Yates ist schon ziemlich alt und bildet gerade mehrere Lehrer aus. In Europa sinds nur eine Handvoll, aber es gibt einen sehr aktiven Subreddit, in dem man Fragen stellen kann. Zudem ist, mit etwas Erfahrung, der Übergang zu anderen buddhistischen Meditationen sehr leicht, da er nur ausführliche Anleitungen gibt, aber sich auf die traditionellen Methoden stützt.
Das Buch ist sehr technisch und modern, aber dennoch buddhistisch. Es wird am Anfang klar gesagt, dass das endgültige Ziel der Praxis das Erwachen / die Erleuchtung ist, auch wenn es viele nebensächliche Vorteile gibt.
Für orthodoxe Buddhisten ist der moderne Ansatz sicher ein rotes Tuch. Da kann man nix machen. Und es ist auch am Anfang nicht leicht, da reinzukommen, da so viel Informationen gegeben sind. Sicher nicht für jeden ideal geeignet. Aber grade wenn man autodidaktisch veranlagt ist und die Internet-Ressourcen (welche fast komplett englischsprachig sind) nutzen kann und will, so findet man meiner Meinung nach eine hervorragend gelungene Anleitung auch für ein hohes Niveau der Samatha-Vipassana-Meditation.