Hallo zusammen.
Ich möchte hier mal ein interessantes Zitat von Arno Gruen zur Diskussion stellen, das auch uns Buddhisten möglicherweise auf besondere Art und Weise betreffen könnte. Es geht um das Verhältnis des Menschen zu seinen Gefühlen, Bedürfnissen und zum Leiden.
Er möchte die Macht haben, die es ihm ermöglichen würde, der Wirklichkeit der Gefühle und Bedürfnisse anderer wie der seiner eigenen zu entgehen. Das ist seine (und eine unausgesprochene gesellschaftliche) Idee von Freiheit: sich nicht um diese Wirklichkeit kümmern zu müssen. [...] Dadurch wird unsere Empfindsamkeit verschüttet. Der wahre Sachverhalt ist der, dass man dem eigenen Leiden entkommen möchte. Denn man hat nicht die Kraft, das eigene Leid oder das der anderen wahrzunehmen.
Die Schlussfolgerung drängt sich auf, dass in unserer Gesellschaft die wirklich Schwachen nicht diejenigen sind, die leiden, sondern jene, die vor dem Leiden Angst haben. Die Menschen, die am erfolgreichsten angepasst sind, sind die eigentlich Schwachen. Darum propagieren sie seit Jahrtausenden den Mythos, das Empfindsamkeit Schwäche sei. Sie sind es, die allem Schmerz und Leiden durch Spaltung ihres Bewusstseins zu entkommen suchen. Sie sind die eigentlichen Träger einer verzerrten Realität, das heißt der Ideologie der Macht und des Herrschens.
Aus: Arno Gruen, Der Verrat am Selbst, S. 43
Es gibt eine Facette in der buddhistischen Lehre, die den Anschein erweckt, es ginge um das Erlernen einer bestimmten Technik, mit der der Mensch das Leiden, die Abneigung und das Begehren zunächst kontrollieren und ihnen schließlich entgültig entgehen kann. Und dann gibt es andere Aspekte, die eine unbedingte Annahme und Akzeptanz von Gefühlen, Bedürfnissen und Leiden in den Vordergrund treten lassen (wie z.B. bei Thích Nhất Hạnh). Jedenfalls scheinen mir manche Anwendungsbereiche der buddhistischen Lehre z.B. in Seminaren zur Steigerung der Leistungsfähigkeit eher das Zitat von Arno Gruen zu bestätigen. Auch die unbedingte Unterwerfung des eigenen Willens unter den eines Meisters scheint in diese Richtung zu gehen. Zudem habe ich den Eindruck, dass die buddhistische Lehre oft genug die Hoffnung nährt, dem Leiden und den Bedürfnissen ein für alle Mal entgehen zu können. Ob das aber das Ziel sein kann?
Viele Grüße
Thorsten