Zum Erfahrungsfetischismus im Buddhismus

  • Im Buddhismus, und insbesondere im Zen, hört man immer wieder, dass man den Tee selbst trinken muss, um zu wissen wie er schmeckt. Das reicht aber nicht. Erst einmal muss ich wissen, was Tee ist und was Kaffee ist. Erfahrung muss interpretiert werden - was auch Unterscheidungswissen bedarf. Dieser Erfahrungsfetischismus – einfach nur trinken - baut kein Wissen auf, sondern Erfahrung plus Unwissen: es ist nur die Idee der Erfahrung des Teegeschmacks, wenn es tatsächlich Kaffee ist. Klar, eine oberflächliche Erfahrung wie 冷暖自知 (kalt, warm: wisse es selbst) ist in ihrer Interpretation noch recht simpel. Ist die Einheitserfahrung im Zazen aber leidhaft oder eventuell doch eine Gotteserfahrung? Es bedarf Theoriewissen, um die Erfahrung im Sinne der praktizierten Tradition zu interpretieren. Weil sonst malt man der Schlange Füße an (畫蛇添足) und sie ist keine Schlange mehr und Zen nicht mehr Zen.


    Das nötige Interpretationswissen kann man sich mühsam selbst aneignen oder man lässt es sich von einem Lehrer vorkauen und baut so Abhängigkeiten auf. Wenn es heißt 明珠在掌 (das Juwel in der Hand) muss man schon unterscheiden können, dass das in der Hand ein Juwel ist und nicht der gemeinschaftliche Scheißspatel.


    Sowohl in den alten Lehrreden als auch zum Beispiel von Hongren heißt es, dass das Publikum während des Zuhörens in den Strom eingetreten ist oder anders ausgedrückt Kensho erfuhr. Entweder sage ich Theorie – verstanden als Lesen, Hören und Durchdenken von Dharma - führt zum Erwachen oder, wenn mir dies zu heikel ist, nehme ich den Umweg und sage zuerst: Theorie ist Praxis (知行合一). Das Wissen (知), anfänglich die Theorie, motiviert uns, zu praktizieren (行) - aus rechter Ansicht folgt rechte Absicht. Die rechte Praxis, sie ist recht weil durch Wissen begleitet, ist angewandtes Wissen und führt in der Einheit zu Weisheit und wahrem Wissen. Beides 知行 muss aber harmonieren, um sich zu vereinen (合一). Und es ist dann diese Praxis, die in ihren verschieden Ausprägungen, zum Erwachen führt: 实践出真知 (aus Praxis entsteht wahres Wissen).


    Dass diese Harmonie nicht Buddha gegeben ist, weiß auch Guifeng Zongmi, wenn er schreibt: 多談禪理, 小談禪行 (Viel reden über die Prinzipien des Zen, wenig reden über die Praxis des Zen.) Aber nur weil man aus der Balance kommen kann, sollte man nicht versuchen auf einem Bein zu stehen. Da gibt es nämlich gleich gar keine Stabilität. Des Geistes Dinge, ohne Bücherwissen zu betrachten, ist wie Segeln ohne Karten. Nur die Karten studieren ist wie gar nicht erst zur See fahren. Wissen und Tun gehen Hand in Hand.


    Letztendlich gilt 百聞不如一見 (Hundertmal hören ist weniger als einmal sehen). Aber wenn du nie gehört hast, wie willst du dann wissen wo du suchen sollst und wie erkennen was du gefunden hast. Dem Sehen und Erkennen der Natur der Dinge (見性) geht das Hören und Lesen voraus.

  • Letzlich ist die Unterscheidung von Theorie und Praxis nur ein Gedankenfurz. Wenn beides in Harmonie ist, löst sich diese Blähung in nichts auf. Wo Theorie und Praxis als verschieden gedacht werden, ist Ungleichgewicht - da entspricht entweder die Theorie nicht der Praxis oder die Praxis nicht der Theorie.


    Es gibt die Überlieferung außerhalb der Schriften und die Überlieferung durch die Schriften. Wo sich Theorie und Praxis wechselseitig aufheben, zeigt sich auch, dass es nur eine Überlieferung gibt. Diese sollte man sorgfältig studieren, in all ihren Facetten.

    OM MONEY PAYME HUNG

  • Ich verstehe es so - ihr kennt euch da bestimmt viel besser aus - dass die Ausgangslage die war, dass in der Zeit von der Han bis zur Tang Dynastie eine große Menge buddhistischer Texte ins Chinesische übersetzt wurde:

    Bereits in der Östlichen Han-Dynastie (25–220) sollen während eines Zeitraums von rund 150 Jahren fast 300 buddhistische Texte ins Chinesische übersetzt worden sein. Die Übersetzungen erfolgten aus dem Sanskrit, Prakrit und Pali. Von der nachfolgenden Wei-Dynastie (220–265) bis zur Östlichen Jin-Dynastie (317–420 n. Chr.) kamen noch einmal über 700 Texte dazu. Unter ihnen sowohl solche des Mahayana-Buddhismus (wie die Prajñāparamita-Sutren) als auch Werke des Theravada. Neben der Linguistik erschwerten auch Unterschiede in den literarischen Ausdrucksformen das Verständnis. Das Chinesische bevorzugt Bilder und Metaphern, um Ideen zu vermitteln. Die starke Betonung des Bildlichen hängt sicherlich mit der Schrift zusammen. Das Konkrete hat immer Vorrang vor dem Abstrakten, das weniger fesselt und dem man nur ungern in all seine feinen Verzweigungen folgen möchte. Die Gesamtergebnisse buddhistischer Übersetzertätigkeit in China sind beeindruckend: Bis zum Jahr 1285 waren 1353 Werke von fast 200 namentlich bekannten Autoren übersetzt worden. Zum Schluss enthielt der chinesische Tripitaka insgesamt 1440 Werke in 5586 Bänden und übertrifft so vom Volumen her die christliche Bibel um das ungefähr siebzigfache.

    Und weil die Fülle der Texte so groß war und auch ihre inhaltliche Vielfalt so breit

    war, Stelle ich mir das sehr verwirrend vor da auch nur einen Überblick zu bekommen. Gerade da es den Chinesen so wichtig ist ihre Klassiker zu beherrschen, ist das doch eine hirnschalenspregende Herausforderung.


    Von daher kommt dann ein Bedürfnis, die Vielfalt wieder auf einen Punkt zu bringen. Also z.B indem man wie Tientai Zong einen Text ( da Lotussutra ) in das Zentrum stellt oder wie Chan sich an der Praxis orientierte.

  • Letzlich ist die Unterscheidung von Theorie und Praxis nur ein Gedankenfurz. Wenn beides in Harmonie ist, löst sich diese Blähung in nichts auf.


    Wie die alten Daoisten zu sagen pflegen, Ein Furz ist Gold wert für einen alten Mann, weil Gift den Körper verlässt. _()_

  • Da stimme ich zu, void. Ergänzend ...


    ... oder wie Chan sich an der Praxis orientierte.


    Greene schreibt in Chan before Chan:


    Zitat

    "the early Chan School proposed neither new methods of meditation nor, conversely, merely a new rhetoric of meditation that had little impact on the ground. It introduced, rather, a new semiotic ideology of meditative experience, a new set of claims about what should count as the evidence of meditative attainment.}".


    Zen hat demnach primär eine neue Meditationsinterpretation populär gemacht. Ebenda wird auch Huisi zitiert: "Only you could have witnessed (zheng 證) this [i.e., the meditation experience], and only I could have recognized (shi 識) it”. Huisi ist zwar nicht Zen, aber ich denke, da die Bestätigung auch im Zen eine prominente Rolle innehat, ist dies auch für Zen relevant. Erfahren und interpretieren (識). Ich sage jetzt, dieses Wissen, welches für die Bestätigung/Interpretation erforderlich ist, ist zu einem hohen Maße auch durch Texte anzueignen. Greene schreibt in The Secrets of Buddhist Meditation, einem Kompendiumwerk zu Chan before Chan, über Meditation (chan) vor dem Chan:


    Zitat

    "Sources from fifth- and sixth-century China often imply that the ability to accurately judge the import of the meditative experiences of others was a key attribute of the true chan master. To this extent, the Chan Essentials and Methods for Curing present themselves not so much as manuals of instruction for those wishing to practice meditation, but as authoritative texts containing the knowledge needed to judge the meditative experiences of others".


    Das frühe Zen hat die Praxis nur anders interpretiert, also eine neue Theorie an die Seite alter Praxis gestellt.

  • Ein anderer wichtiger Punkt war denke ich Nagārjuna. Ich denke zu deiner Zeit war das Hauptproblem, dass der Buddhismus in so viele theoretische Richtungen aufgespalten hatte. Allein im "Hinayana" gab es ja 18 Denkschulen die sich darüber stritten, was als Daseinsfaktor (dharma zu gelten habe. Nagārjuna durchschlug diesen gordischen Knoten indem er den Blick von dem was durch Worte ausgedrückt wird weg und zu dem hinlenkte, was nicht durch Worte ausgedrückt wird.


    Wie anders war die Situation im christlichen Westen: Auch da gab es ja bald nach Jesus Ableben die unterschiedlichsten Glaubensvorstellungen (trinitarische, arianische, pelagianische, nestorianische, donatistische oder marcionitische Linien) aber man ging mit den unterschiedlichen doxien dadurch um indem man sich selber als"orthodox" sah und alle anderen als Ketzer disste- der heilige Nikolaus soll ja während des Konzils von Nicäa sogar handgreiflich geworden sein.


    Was Nagārjuna machte, war statt sich gegenseitig die Bücher um die Ohren zu hauen, den Blick von den Büchern wegzudenken hin zum Körper und zur Erfahrung. Aber was war der Preis dafür?

  • Erfahrung taugt nur dann zum kollektiven sprachlichen Austausch, wenn sie

    1. jederman unabhängig vom Glauben zugänglich ist und der sprachliche Ausdruck dazu einer Konvention folgt, die vom Kollektiv anerkannt wird. Das aber gilt nur für sinnliche Wahrnehmungserfahrung im Kontext der materiellen Wissenschaft.

    oder

    2. ausschließlich durch einen speziellen Glauben zugänglich ist, der auf einer einzigen Konvention sprachlichen Ausdrucks beruht (= sprachlicher Austausch einer Glaubensgemeischaft).

    mankind ... must act and reason and believe; though they are not able, by their most diligent enquiry, to satisfy themselves concerning the foundation of these operations, or to remove the objections, which may be raised against them [Hume]