Das neue kulturelle und wissenschaftliche Paradigma der menschheitlichen Zukunft heißt: Wechselseitig bedingtes Entstehen und Verbundensein.
Kennen wir das nicht schon irgendwie von irgendwoher?
Philosophie-Magazin: Abschied vom Einzelkämpfer
Theresa Schouwink
20. Dezember 2022
Neuerdings zeigen Naturdokus nicht mehr nur den blutigen Kampf ums Überleben, sondern immer öfter die Zusammenarbeit der Spezies. Dem entspricht ein gesellschaftlicher Wandel: An die Stelle der Rede von konkurrierenden Individuen tritt die von wechselseitiger Verbundenheit. Mit welchen Folgen?
Das Bild der Natur, das uns Tierdokumentationen vermitteln, hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Eindrücklich zeigt sich das etwa in „Kalahari – Gesetz der Wildnis: Gemeinschaften“ (derzeit in der 3Sat-Mediathek zu sehen). In der unwirtlichen Wüste, so die These des Films, ist Überleben nur durch Bündnisse „zwischen verschiedenen Arten, Großen und Kleinen, Starken und Schwachen“ möglich. Die gezeigten Beispiele artenübergreifender Zusammenarbeit beeindrucken: Kaptriele beschützen die Eier von Krokodilen vor Waranen, Zebramangusten entlausen Warzenschweine, Trauerdrongos warnen Erdmännchen vor Greifvögeln.
Den neuen Tierdokumentationen entspricht eine Veränderung im Verständnis der Evolutionstheorie. Überall, so wird inzwischen betont, lassen sich Formen der Kooperation und Symbiose finden. Das betrifft bereits die zelluläre Ebene: Der Endosymbiontentheorie zufolge wanderten einst Bakterien in Aracheen (Urbakterien) ein und wurden zu deren Atmungsorganellen – durch die Vereinigung der Arten entstand zu beiderseitigem Vorteil eine komplexere Form des Lebens. Auch Menschen sind wesentlich auf die Hilfe einer Vielzahl von Mikroben in ihrem Körper sowie auf die Zusammenarbeit mit Artgenossen angewiesen.
Paradigmenwechsel
Die neuen Beschreibungsweisen lassen sich nicht allein durch die Anerkennung zuvor übersehener Tatsachen erklären. Vielmehr zeichnet sich hier ein gesellschaftlicher Paradigmenwechsel ab. Kultur- und Naturverständnis spiegeln einander, unser Blick auf die Tierwelt erzählt auch etwas über uns selbst. Die frühere Evolutionstheorie zeichnete das Bild eines blutigen Selbstbehauptungskampfes von Individuen und Spezies bzw. Genen. Sie fand ihre Entsprechung in der Darstellung des Menschen als egoistischem Einzelkämpfer sowie in einer bestimmten Auffassung des Kapitalismus: In der Konkurrenz der Unternehmen und der Arbeitnehmer besteht nur der Stärkste – und durch den Wettbewerb kommen Innovationen zustande.
Mit dem neuen Naturverständnis geht eine Veränderung in unseren Vorstellungen von Wirtschaft, Kultur, und Mensch einher. In der Arbeitswelt ist inzwischen allerorten von Teamwork die Rede. Hierarchien und Autoritäten sollen abgeschafft, Empathie und Soft Skills gefördert und „Schwarmintelligenz“ und „Synergieeffekte“ genutzt werden. In der Pandemie wurde mit Nachdruck die Verletzlichkeit und Abhängigkeit aller Menschen betont und ein soziales Freiheitsverständnis beschworen. In den politischen Diskursen wird auf der Bedeutung diskriminierender „Strukturen“ und „Systeme“ insistiert.
Die Avantgarde der Theoretiker verkündet derweil den Abschied vom autonomen Subjekt. Die Anthropologin Marylin Strathern bringt an seiner Stelle den Begriff „Dividuum“ [Teilbahren] ins Spiel: Der Mensch nicht als unteilbare Einheit, sondern als „sozialer Mikroorganismus“. Donna Haraway plädiert in Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän ebenfalls dafür, uns nicht länger als Einzelwesen, sondern als Knotenpunkte in komplexen Verflechtungen zu begreifen: Statt an den Figuren des „Helden“ und des „Himmelsgottes“ sollten wir uns an Spinnen und Kraken orientieren – Gestalten, die sich nicht durch ihre „Vertikalspannung“ (Sloterdijk), sondern durch ihre horizontalen Bindungen auszeichnen. Die Botschaft ist klar: Wir sind keine klar abgegrenzten, souveränen und eigennutzorientierte Individuen, sondern die Schnittstelle unzähliger Beziehungen. Ich sind die Anderen.
Nach dem Individuum
Was ist von diesem Perspektivwechsel zu halten? Die Überwindung der alten Vorstellungen ist zweifellos zu begrüßen, denn das souveräne Subjekt war eine Lüge mit üblen Folgen. Wie ein naseweiser Halbstarker litt dieses Subjekt an chronischer Selbstüberschätzung. Es dachte, alles aus sich heraus zu können und ruinierte dabei seine Mitmenschen, die Natur und letztlich auch die eigene Person. Es griff nach den Sternen und zertrampelte den Boden unter seinen Füßen. Die Selbstverkennung führte gleichermaßen zur Erschöpfung der Erde und der Menschen.
Doch wer wird die Nachfolge des Individuums antreten? Die gegenwärtigen Entwicklungen bleiben hier zwiespältig. Die künftige Gesellschaft könnte eine der Demut und Verantwortung, der Sinnlichkeit und des Spiels werden. Die „Dividuen“ wären dann erfüllt von einem mystischen Bewusstsein der Verbundenheit, was ihr Innen- und Zusammenleben vielschichtiger machen und ihnen einen gelasseneren Umgang mit ihrer Endlichkeit ermöglichen würde.
Die künftige Gesellschaft könnte jedoch auch eine des krassen Konformismus und des zuckersüßen Selbstbetrugs werden. Die „Dividuen“ wären dann jene hypervernetzen Wesen, die sich seismographisch an jeden Trend anpassen und in Shit- und Lovestorms mitwirbeln, ohne dem irgendeinen Widerstand entgegenzusetzen zu haben. Währenddessen könnte es weiterhin Herrscher und Mörder geben, die uns netterweise als Verbündete und Partner bezeichnen. Um das zu verhindern, wird es darauf ankommen, die Pole zu verbinden: Verbundenheit und Freiheit, Erdgebundenheit und Transzendenz, Verletzlichkeit und Widerständigkeit.