1.Ich verneige mich vor den glorreichen Unzerstörbaren,
die den Erleuchtungsgeist verkörpern,
und werde hier die Entwicklung des Erleuchtungsgeistes
erklären, der samsarischer Existenz ein Ende setzt.
2.Die Buddhas gehen davon aus, dass der Erleuchtungsgeist
nicht von den konzeptionellen Vorstellungen
eines „Selbst“, der „Aggregate“ und dergleichen behindert wird
und stets das Merkmal der Leerheit hat.
3.Mit einem von Mitgefühl benetztem Geist
solltet ihr euch bemühen, den Erleuchtungsgeist zu entwickeln.
Die Buddhas, die das Mitgefühl verkörpern,
entwickeln ihn immerzu.
4.Untersucht ihr mittels der Logik gründlich
das Selbst, das die Tirthikas postulieren,
werdet ihr es in den Aggregaten
an keiner Stelle irgendwo finden.
5.Die Aggregate existieren, doch sind sie nicht beständig,
auch haben sie nicht das Wesen eines Selbst.
Etwas Beständiges und Unbeständiges existieren
nicht als Grundlage bzw. als das darauf Beruhende.
6.Wenn das sogenannte „Selbst“ nicht existiert,
wie kann der sogenannte „Handelnde“ beständig sein?
Nur wenn etwas, das Eigenschaften hat, existiert,
vermag man, dessen Eigenschaften in der Welt zu untersuchen.
7.Da etwas Beständiges weder aufeinanderfolgend
noch gleichzeitig wirksam ist,
kann ein solch beständiges Ding
weder innen noch außen existieren.
8.Hätte es [inhärentes] Potenzial, wie könnte es abhängig sein?
Es brächte [alle] Dinge auf einmal hervor.
Was von anderen Dingen abhängig ist,
ist weder beständig noch hat es [inhärentes] Potenzial.
9.Ist etwas ein wirksames Ding, so ist es nicht beständig,
denn wirksame Dinge bestehen immer nur für einen Augenblick.
Darum wird in Hinsicht auf unbeständige Dinge
auch nicht verneint, dass sie etwas hervorbringen.
10.Diese Welt, die frei vom Selbst und dergleichen ist,
wird überwältigt von der Wahrnehmung der Aggregate,
der Elemente und Sinnesquellen, des Objekts und des Subjekts.
Sie wird überwältigt von der Wahrnehmung.
11.Die [Buddhas], die danach streben, [den Lebewesen] zu nutzen,
lehrten darum die Shravakas
die fünf Aggregate – Form, Empfindung, Unterscheidung,
gestaltende Faktoren und Bewusstsein.
12.Die Besten der Menschen lehrten stets auch:
„Formen erscheinen wie eine Masse von Schaum
Empfindungen ähneln Blasen im Wasser
unterscheidende Wahrnehmungen sind wie Luftspiegelungen.
13.Gestaltende Faktoren ähneln dem [kernlosen] Holz des Bananenbaumes,
Bewusstsein ist wie eine magische Illusion.“
So lehrten [die Buddhas] die Bodhisattvas
über die Aggregate.
14.Das, was die Natur der vier großen Elemente hat,
wird deutlich als das Aggregat der Form erklärt.
Die Übrigen gelten somit
unweigerlich als formlos.
15.Dadurch sind Augen, sichtbare Formen und dergleichen,
die als die achtzehn Komponenten beschrieben werden,
auch als die [zwölf] Sinnesquellen
sowie als Objekte und Subjekte zu verstehen.
16.Weder die Atome der Form noch die Sinneskräfte existieren.
Eine Sinneskraft, die etwas hervorbringt, existiert keineswegs.
Das Erzeugende und das Erzeugte
sind ungeeignet für wahre Erzeugung.
17.Die Atome der Form bewirken keine Sinneswahrnehmung,
denn sie liegen jenseits des Sinnesvermögens.
[Nimmt man an, die Atome] erzeugen sie durch ihr Zusammenkommen,
so wird auch [ein solches Erzeugen durch] Anhäufung nicht akzeptiert.
18.Durch das Aufteilen in räumliche Dimensionen
sieht man, dass selbst das Atom Bestandteile hat.
Wie könnte etwas, das hinsichtlich seiner Teile
untersucht werden kann, als [unteilbares] Atom gelten?
19.In Hinblick auf ein einziges äußeres Objekt
entstehen verschiedene Wahrnehmungen.
Eine Form, die einige schön finden,
mag für andere etwas anderes sein.
20.In Hinblick auf denselben weiblichen Körper
gibt es drei verschiedene Sichtweisen:
für einen Asketen ist er „eine Leiche“, für einen Liebhaber
„begehrenswert“ und für einen wilden Hund „Futter“.
21.„Es ist die Gleichartigkeit des Objekts, die wirksam ist.“
– [Doch] ist das nicht so, als erleide man Schaden im Traum?
Zwischen dem Traum und dem Wachzustand gibt es
bezüglich der Wirksamkeit der Dinge keinen Unterschied.
22.In Hinblick auf Objekte und Subjekte,
was immer dem Bewusstsein erscheint,
gibt es nirgendwo ein äußeres Objekt,
das getrennt vom Bewusstsein existiert.
23.Die völlige Nichtexistenz äußerer Objekte
ist also die Wesensart der Dinge.
Die Erscheinungen für das jeweilige Bewusstsein
treten als Erscheinungen von Formen auf.
24.So wie eine Person mit verwirrtem Geist
magische Illusionen, optische Täuschungen,
Städte von Gandharva-Geistern und dergleichen sieht,
so werden auch Formen und so weiter wahrgenommen:
25.Um das Festhalten am Selbst zu überwinden,
wurden die Aggregate, Elemente und so weiter gelehrt.
Indem sie bei der Nur-Geist[-Lehrmeinung] verbleiben
geben die vom Glück Begünstigten sogar diese [Lehre] auf.
26.Für jene, die die [Nur-]Geist[-Lehrmeinung] verkünden,
existiert die Vielfalt der Dinge [nur] als Bewusstsein.
Was ist die Natur dieses Bewusstseins?
Eben dies werde ich nun erklären.
27.„All dies ist nur der Geist.“
Der Fähige Buddha lehrte dies,
um kindischen Wesen die Angst zu nehmen.
Er [schilderte damit jedoch] nicht die Wirklichkeit.
28.Das Zugeschriebene, das Bedingte
und das Vollständige:
Ihre Essenz ist einzig die der Leerheit,
ihre Wesensart wird vom Bewusstsein erstellt.
29.Jene, die dem universellen Fahrzeug zugetan sind,
lehrte der Buddha in wenigen Worten,
dass Phänomene gleich sind in ihrem Nicht-Selbst
und dass der Geist von Anbeginn nichts Erzeugtes ist.
30.Die Yogacharins sagen:
Ein reiner Geist — erwirkt durch Kontrolle über den eigenen Geist
und völlige Veränderung seines Zustands —
ist die Sphäre des eigenen selbst-erkennenden Gewahrseins.
31.Das Vergangene existiert nicht mehr,
was in der Zukunft liegt, ist noch nicht erreicht;
wie soll etwas in der Gegenwart existieren,
wenn seine Grundlage sich völlig ändert, während es verweilt?
32.So, wie es ist, erscheint es nicht,
und wie es erscheint, so ist es nicht.
Die Wesensart des Bewusstseins ist das Nicht-Selbst;
das Bewusstsein hat keine andere Grundlage.
33.In der Nähe eines Magneten
bewegt Eisen sich rasch nach vorn.
Auch wenn es keinen Geist hat,
scheint es so, als besäße es einen.
34.Ähnlich ist das grundlegende achte Bewusstsein:
Es scheint wirklich zu sein, ist es jedoch nicht.
Es bewegt sich vor und zurück
und hält so fest an samsarischer Existenz.
35.So wie das Meer und die Bäume sich bewegen,
auch wenn sie keinen Geist haben,
so bewegt sich das grundlegende achte Bewusstsein
in Abhängigkeit vom Körper.
36.Bedenkt ihr, dass es
ohne Körper kein Bewusstsein gibt –
so sagt doch: Was ist die Wahrnehmung dieses
sich selbst-erkennenden Gewahrseins?
37.Beschreibt ihr es als selbst-erkennendes Gewahrsein,
so erklärt ihr es zu einem Ding.
Sagt ihr: „Es ist dies“,
beschreibt ihr es als „unvermögend“.
38.Um selbst Gewissheit zu erlangen
und anderen Gewissheit zu verschaffen,
gehen die Gelehrten stets
auf fehlerlose Weise vor.
39.Ein Bewusstsein erkennt ein Erkenntnisobjekt;
ohne Erkenntnisobjekt gibt es kein Bewusstsein.
Warum also akzeptiert ihr nicht, dass weder
das Betrachtende noch das Betrachtete existieren?
40.Der Geist ist ein bloßer Name;
anders als ein Name existiert er nicht.
Betrachtet das Bewusstsein als bloßen Namen;
auch der Name existiert nicht durch seine eigene Natur.
41.Weder innen noch außen
noch irgendwo dazwischen
haben die Siegreichen Buddhas den Geist gefunden;
der Geist hat also die Natur einer Illusion.
42.Die Unterteilung in Farbe und Form,
in Objekt und Subjekt
oder in Mann, Frau, Zwitter und dergleichen
– der Geist verweilt nicht in solchen Wesensarten.
43.Kurzum: Die Buddhas haben [einen solchen Geist]
nie gesehen, noch werden sie ihn jemals sehen.
Wie könnten sie etwas, das nicht durch seine eigene Natur existiert,
als etwas wahrnehmen, das durch seine eigene Natur existiert?
44.Ein „wirksames Ding“ ist ein begriffliches Konzept.
Die Abwesenheit von begrifflichen Konzepten ist die Leerheit.
Wie könnte es die Leerheit dort geben,
wo begriffliche Konzepte erscheinen?
45.Die Tathagatas betrachten den Geist nicht unter dem Aspekt
von Wahrnehmbarem und Wahrnehmendem.
Wo sich Wahrnehmbares und Wahrnehmender befinden,
da gibt es keine Erleuchtung.
46.Frei von Merkmalen, frei von Entstehen,
frei von substanzieller Wirklichkeit und jenseits von Sprache —
Raum, Bodhicitta und Erleuchtung
haben die Merkmale der Nicht-Dualität.
47.Buddhas — die großartigen Wesen,
die im Herzen der Erleuchtung verweilen —
und all jene, die von Zuneigung erfüllt sind,
wissen zu allen Zeiten, dass Leerheit so wie Raum ist.
48.Darum meditiert stets über die Leerheit,
die die Grundlage aller Phänomene ist.
Sie ist friedvoll, einer Illusion ähnlich, ohne Basis
und das, was samsarischer Existenz ein Ende setzt.