Gedanken zum Herzsutra

  • Im Herzsutra geht es darum, wie man sich üben soll, wenn man die Praxis der Höchsten Weisheit ausführen möchte.


    Deshalb fragt Sariputra den Bodhisattva Avalokitesvara: "Wie sollen edle Söhne, Töchter üben, die die Praxis der Höchsten Weisheit ausführen möchten?" Der Bodhisattva Avalokitesvara antwortet auf die Frage, dass diese Personen erkennen sollten, dass die fünf Skandhas leer von inhärenter Existenz sind.


    Dann erläutert der Bodhisattva Avalokitesvara anhand des Körper-Skandhas wie diese Erkenntnis zu erlangen ist, indem er erklärt:

    • das Körperliche ist Leerheit
    • die Leerheit ist Körperliches
    • die Leerheit ist nicht anders als das Körperliche
    • das Körperliche ist nicht anders als Leerheit

    Das Wort 'ist' in den vier Aussagen kann einen zur Auffassung verleiten, dass hier eine Identität von Körper-Skandha und Leerheit postuliert wird. Es gibt aber keine Identität von Körper-Skandha und Leerheit; und zwar aus folgenden Gründen:

    • der Körper ist ein unbeständiges Phänomen, die Leerheit dagegen ein beständiges Phänomen
    • der Körper wird durch das Sinnesbewusstsein wahrgenommen, während die Leerheit nur analytisch durch das geistige Bewusstsein erkannt werden kann
    • Der Körper ist ein positives Phänomen, während die Leerheit eine Negation ist

    Weil Körper (Form) und Leerheit nicht identisch sind, heißt es in einem Kommentar in Bezug auf die Aussage 'Form ist Leerheit':

    "Wenn es also heißt Form ist Leerheit bedeutet das nicht: Form ist identisch mit Leerheit, sondern Form ist gekennzeichnet von Leerheit."


    Das 'ist' in Form ist Leerheit drückt keine Identität aus, aber es drückt eine Beziehung aus. So wie in der Aussage: Der Baum ist groß.

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Ich möchte dem von dir Gesagten zustimmen. Hier noch eine Anmerkung.


    In Aussagen wie "Form ist Leerheit. Leerheit ist Form" werden Form und Leerheit symmetrisch aufgefasst (was zu einem Mißvertständnis als Identität führen kann)


    Die eine Richtung "Form ist Leerheit" drückt natürlich aus, dass alle Skandhas leer von inhärenter Existenz sind.


    Die andere Richtung "Leerheit ist Form" drückt meines Erachtens aus, dass Leerheit keine unabhängig von den konkreten vergänglichen Phänomenen existierende Instanz ist. Sondern als die wahre Natur von allem, stets in allem präsent ist. Gerade in der Unbeständigkeit der Phänomene drückt sich ja deren Bedingtheit aus.

  • Das 'ist' in Form ist Leerheit drückt keine Identität aus, aber es drückt eine Beziehung aus. So wie in der Aussage: Der Baum ist groß.

    Die Aussage "Der Baum ist groß" wird in der Sprachphilosophie und Logik als Prädikation bezeichnet, d.h. von dem Subjekt "der Baum" wird ausgesagt, dass ihm die Eigenschaft "groß" zukommt bzw. er Element der Menge der großen Dinge ist. Wobei groß natürlich eine relative Eigenschaft darstellt. Groß im Verhältnis wozu? Man kann das auch empirisch überprüfen, indem man einen Maßstab zur Hand nimmt und ihn ausmisst.


    Dagegen ist "Leerheit" keine Eigenschaft, sondern eine substantivierte Eigenschaft und empirisch eher nicht messbar. Die Aussage "Form ist Leerheit" ist auch eine andere als "Form ist leer von inhärenter Existenz". "Leerheit" entspricht einem Allgemeinbegriff oder einer Universalie. Im Universalienstreit wurde im Mittelalter in der europäischen Philosophie die Frage verhandelt, ob diesen Universalien eine eigene Existenz zukommt oder ob nur Einzeldinge existieren.


    Gerade auch die Verbindung von zwei Subjekten in der Aussage "Form ist Leerheit" erweckt den Eindruck einer Identitätsaussage. Genau so auch die Aussage "die Form ist nicht anders als Leerheit", was ja heißt, es gibt kein anderes Prädikat, das von der Form als Subjekt ausgesagt werden kann außer "Leerheit". Die Wechselseitigkeit in der Umkehrung der Aussage verstärkt diesen Eindruck noch einmal.

    Die andere Richtung "Leerheit ist Form" drückt meines Erachtens aus, dass Leerheit keine unabhängig von den konkreten vergänglichen Phänomenen existierende Instanz ist. Sondern als die wahre Natur von allem, stets in allem präsent ist.

    Diese Eigenschaft der Leerheit allen Dingen universal zuzukommen ist wiederum eine Eigenschaft, die die Leerheit zu etwas Positivem macht. Sie ist nicht nur negativ als Abwesenheit von etwas bestimmt, sondern auch als universelle Eigenschaft aller Dinge. Aber in welcher Art und Weise existiert die Leerheit und wie können wir sinnvoll von ihr sprechen?

    Ich denke eher nicht als eine messbare Eigenschaft, die wir Einzeldingen zusprechen.

    "Das Siegel der erreichten Freiheit: Sich nicht mehr vor sich selbst schämen."

    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

  • Diese Eigenschaft der Leerheit allen Dingen universal zuzukommen ist wiederum eine Eigenschaft, die die Leerheit zu etwas Positivem macht. Sie ist nicht nur negativ als Abwesenheit von etwas bestimmt, sondern auch als universelle Eigenschaft aller Dinge. Aber in welcher Art und Weise existiert die Leerheit und wie können wir sinnvoll von ihr sprechen?

    Ich denke eher nicht als eine messbare Eigenschaft, die wir Einzeldingen zusprechen.

    Für mich ist "Leerheit" sehr eng mit Entstehen in Abhängigkeit verbunden.


    Letzteres tritt bei Buddha erstmal im Kontext der Frage nach der Entstehung von Leid ( Dukkha) auf.


    Aber gerade im Mahayana gab es einen Schwenk, wo man nicht mehr nur die Sicht eines verblendeten Wesen betrachtete, sondern begann die Sucht eines nicht-verblendeten Wesens ( also eines Arhats) mit einzubeziehen. So jemand bewohnt ja einerseits die gleiche Welt wie wir - mit ihren Häusern, Bäumen, Menschen aber andererseits ist alles als vergänglich, nicht-ich, abhängig entstanden durchschaut.


    In der Sucht eines Arhats ( nicht jedoch für ein verblendetes Wesen) ist tatsächlich kein Unterschied zwischen Form und Leerheit.


    Ich denke, dass Herzsutra spricht genau aus dieser Position - eben aus "Prajna Paramita" heraus.


    Natürlich liegt darin auch ein Gefahr des Mißverständnissen:


    Zitat

    Keine Unwissenheit, kein Beseitigen der Unwissenheit, bis hin zu: kein Altern und kein Tod. Gleichermaßen gibt es kein Leiden, keine Ursache, keine Beendigung, keinen Pfadgeist. Kein tiefes Gewahrsein, keine Errungenschaft, keine Nicht-Errungenschaft.


    Das klingt ja so, als wäre der ganze. buddhistische Pfad - die vier edlen Wahrheiten - bedeutungslos. Es ist aber lediglich vom "Ziel" aus aus gedacht, wo all die dort hin führenden Wege und Konzepte losgelassen werden können. Vom "Start" aus gedacht gilt dies alles nicht.

  • Die erste Frage die sich mir stellt: geht es um die skandhas, also um die Wahrnehmung des übenden in Herz Sutra, oder geht es um die Realität. Ich habe den Verdacht dass es da eine Umdeutung gibt, dass das Sutra sich auf die Wahrnehmung bezieht das aber später als Sutra über die Wirklichkeit interpretiert wurde.

  • Die erste Frage die sich mir stellt: geht es um die skandhas, also um die Wahrnehmung des übenden in Herz Sutra, oder geht es um die Realität. Ich habe den Verdacht dass es da eine Umdeutung gibt, dass das Sutra sich auf die Wahrnehmung bezieht das aber später als Sutra über die Wirklichkeit interpretiert wurde.

    Ich denke, das Herzsutra spricht nur ganz eng über Prajna Paramita und nicht "kosmologisch" über die Welt an sich.


    Buddha ging ja von der Frage nach der Ursache des Leidens und seiner Überwindung aus. Und weil Leiden etwas ist was in der Wahrnehmung existiert ging er viel von den Phänomenen der Wahrnehmung aus und zeigte, wie sie zu Leiden führen. Hier macht es Sinn alles Jenseits der Wahrnehmung als irrelevant auszuklammern.


    Wenn man eine physikalischen Zusammenhang erforschen will, ist es umgekehrt. Da muß man dann das Ausblenden was rein zur eigenen Wahrnehmung gehört. Sonst geht es einem wie dem unglückseligen Astronom Giovanni

    Schioparelli, der wegen einer optischen Täuschung auf dem Mars lauter Kanäle sah.

  • In der Sucht eines Arhats ( nicht jedoch für ein verblendetes Wesen) ist tatsächlich kein Unterschied zwischen Form und Leerheit.

    Ich hatte auch den Gedanken, ob es nicht letztendlich doch eine Identitätsaussage ist. Nicht das ich ein Arhat wäre. :moon: Aber diese Formulierung "Leerheit ist nichts anderes als Form und Form ist nicht anderes als Leerheit" legt doch nah, dass hier etwas gleichgesetzt wird: die permanente Veränderung (bedingtes Entstehen) in den Skandhas und die Leerheit als metaphysisches Grundprinzip.



    Die erste Frage die sich mir stellt: geht es um die skandhas, also um die Wahrnehmung des übenden in Herz Sutra, oder geht es um die Realität.

    Umfassen die skandhas nicht auch physische Aspekte? Also Form / Körper bezieht sich doch auf physische Dinge, oder?

    "Das Siegel der erreichten Freiheit: Sich nicht mehr vor sich selbst schämen."

    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

  • Die erste Frage die sich mir stellt: geht es um die skandhas, also um die Wahrnehmung des übenden in Herz Sutra, oder geht es um die Realität.

    Umfassen die skandhas nicht auch physische Aspekte? Also Form / Körper bezieht sich doch auf physische Dinge, oder?

    Ich dachte immer, dass es beim rūpa-Skandha um die körperlichen Wahrnehmungen geht. Vermutlich auch weil die deutsche Wikipedia schreibt

    Zitat

    Die menschliche Persönlichkeit kann vollständig durch die folgenden fünf Daseinsfaktoren definiert werden:


    Körperlichkeitsgruppe (skt./p. rūpa)

    Der materielle Körper, einschließlich der sechs Sinnesorgane der buddhistischen Philosophie: Auge, Ohr, Nase, Zunge, Tastsinn und Denkorgan. ....


    Und ich somit davon ausgegangen war, dass es konzeptionell eher um die Persönlichkeit und die Körperlichkeit dort auch eine Wahrnehmung ist.


    Wenn man den englischen Artikel liest findet man ein sehr breites Feld an Interpretationen der Skandhas. (auch der deutsche schliesst das physische nicht aus).


    Was nun auch immer die Skandhas genau bezeichnen, ich habe das Gefühl, dass es für die Interpretation des Herz-Sutras schon von belang ist, wie die Skandhas aufzufassen sind.

  • Aber diese Formulierung "Leerheit ist nichts anderes als Form und Form ist nicht anderes als Leerheit" legt doch nah, dass hier etwas gleichgesetzt wird: die permanente Veränderung (bedingtes Entstehen) in den Skandhas und die Leerheit als metaphysisches Grundprinzip.

    Diese beiden Formulierungen setzen Form und Leerheit nicht gleich. Es gibt keine Identität von Form und Leerheit, weil Form ein positives Phänomen und Leerheit ein negatives Phänomen ist.


    Die Formulierung "ist nichts anderes als" findet man in den meisten Übersetzungen. Ich halte diese Formulierung aber für problematisch, weil sie eine Identität suggeriert, die es nicht gibt. Das bedingte Entstehen ist ein unbeständiges Phänomen und die Leerheit ist ein beständiges Phänomen. Deshalb können sie nicht identisch sein.


    Die Leerheit ist kein metaphysisches Grundprinzip, sondern die natürliche Bestehensweise aller Phänomene, nämlich dass sie leer oder frei sind von einer inhärenten Existenz.


    Die unbeständige Form und ihre beständige Leerheit sind zwar nicht identisch, aber es gibt eine Beziehung zwischen beiden. Sie existieren nicht unabhängig voneinander. Um diese Beziehung geht es in allen vier Aussagen zur Form bzw. dem Körper-Skandha.


    In machen Kommentaren wird dies so zum Ausdruck gebracht: Das Körperliche (Form) und die Leerheit sind begrifflich verschieden, aber von einem Wesen. Von einem Wesen zu sein, bedeutet, dass Form und Leerheit nicht voneinander zu trennen sind. Sie existieren in gegenseitiger Abhängigkeit, die Form kann nicht ohne die Leerheit existieren und die Leerheit kann nicht ohne die Form existieren.

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Ich dachte immer, dass es beim rūpa-Skandha um die körperlichen Wahrnehmungen geht.

    Das Körper-Skandha kann man aus zwei Perspektiven betrachten:

    • als eines der fünf Daseinsgruppen (Körper, Empfindung, Unterscheidung, gestaltende Faktoren, Hauptbewusstsein)
    • als Objekt der visuellen Wahrnehmung

    Der Unterschied ist, grob gesagt:

    • Im ersten Fall beschäftigen wir uns mit der Bestehensweise des Körper-Skandhas
    • Im zweiten Fall mit der Art und Weise wie uns dieses Skandha in der alltäglichen Wahrnehmung erscheint

    Beide Perspektiven sind nicht identisch, weil die Phänomene nicht so existieren wie sie uns erscheinen.


    Im Herzsutra geht es um den ersten Fall, die Bestehensweise der Skandhas. Avalokitesvaras Antwort auf Sariputras Frage beginnt ja mit der Aussage:

    Zitat

    Sariputra, ein Sohn aus edler Familie oder eine Tochter aus edler Familie, die die tiefgründige Vollkommenheit der Weisheit zu praktizieren wünschen, sollten in folgender Weise sehen*: Sie betrachten* die fünf Skandhas als leer von einer Eigenexistenz.


    Worin diese Erkenntnis besteht, erläutert Avalokitesvara dann anhand der vier Aussagen über die Form.


    Dann überträgt Avalokitesvara dies auf die übrigen Skandhas, dass auch deren Bestehensweise die Leerheit, also die Freiheit von inhärenter Existenz, ist.


    ------------------------------

    sehen und betrachten fasse ich in diesem Kontext als erkennen auf.

    Gruß Helmut


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  • Aber diese Formulierung "Leerheit ist nichts anderes als Form und Form ist nicht anderes als Leerheit" legt doch nah, dass hier etwas gleichgesetzt wird: die permanente Veränderung (bedingtes Entstehen) in den Skandhas und die Leerheit als metaphysisches Grundprinzip.

    Diese beiden Formulierungen setzen Form und Leerheit nicht gleich. Es gibt keine Identität von Form und Leerheit, weil Form ein positives Phänomen und Leerheit ein negatives Phänomen ist.


    Die Formulierung "ist nichts anderes als" findet man in den meisten Übersetzungen. Ich halte diese Formulierung aber für problematisch, weil sie eine Identität suggeriert, die es nicht gibt. Das bedingte Entstehen ist ein unbeständiges Phänomen und die Leerheit ist ein beständiges Phänomen. Deshalb können sie nicht identisch sein.

    Ich glaube die japanische, koreanische und des Herzsutra kommen von der chinesischen Version und das "ist nichts anderes als" kommt von dort.


    In der Version bei Berzin heißt es:


    Zitat

    Form ist nicht getrennt von Leerheit; Leerheit ist nicht getrennt von Form. (Was Form hat, das hat Leerheit; was Leerheit hat, das hat Form)


    Das ist wohl aus der tibetische Version ( Shes-rab snying-po) aus dem Sanskrit ( Bhagavati Prajnaparamita-hrdaya ) übersetzt wurde.


    Bei Wikisource gibt es die Sanskrit Version.

  • Diese beiden Formulierungen setzen Form und Leerheit nicht gleich. Es gibt keine Identität von Form und Leerheit, weil Form ein positives Phänomen und Leerheit ein negatives Phänomen ist.

    Das setzt voraus, dass es zwischen Gegensätzen keine Einheit (Identität) geben kann. In einer dialektischen Sicht kann es das durchaus geben: Eine Einheit des Unterschiedenen (Gegensätzlichen).



    Die Leerheit ist kein metaphysisches Grundprinzip, sondern die natürliche Bestehensweise aller Phänomene, nämlich dass sie leer oder frei sind von einer inhärenten Existenz.

    Wenn Du über die Dinge aussagst, dass sie ohne eigenständige oder inhärente Existenz sind, dann ist das in gewissem Sinne doch eine sehr grundsätzliche oder prinzipielle Aussage. Ich will jetzt nicht auf dem Wort metaphysisch insistieren, weil ich vermute, dass du daran Anstoß nimmst. Aber wie dem auch sei. Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass es sich um eine prinzipielle Aussage über das Sein der Dinge handelt.

    In machen Kommentaren wird dies so zum Ausdruck gebracht: Das Körperliche (Form) und die Leerheit sind begrifflich verschieden, aber von einem Wesen. Von einem Wesen zu sein, bedeutet, dass Form und Leerheit nicht voneinander zu trennen sind.

    Und was genau soll darunter zu verstehen sein, dass sie von einem Wesen / nicht voneinander zu trennen sind, wenn nicht, dass sie eine Einheit bilden? Welchen anderen Sinn könnte diese Aussage haben?

    Quote

    3. Erscheinung ist nicht getrennt von der Leere,

    4. die Leere ist nicht gesondert von der Erscheinung;

    In der Übersetzung ist jetzt von Erscheinung die Rede. Erscheinung ist in der philosophischen Terminologie der Gegenbegriff zu Wesen. Wesen, Erscheinung und Leerheit stehen in einem Zusammenhang, der hier verstanden werden muss.


    Quote

    5. Form und Leerheit sind eins,

    6. ohne Leerheit keine Form.

    Und da ist sie wieder die Einheit (Identität). Mir ist nicht ganz klar wie man dies weginterpretieren oder mit Ungenauigkeit der Übersetzung wegerklären könnte.

    "Das Siegel der erreichten Freiheit: Sich nicht mehr vor sich selbst schämen."

    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

  • Ich habe den Artikel

    "Form is (Not) Emptiness: The Enigma at the Heart of the HeartSutra."

    von Jayarava Attwood gefunden, der der Anfangspassage des Herzsutra nachspührt und da eine Antwort hat.


    Zitat

    It has been known at least since the time of Kuījī’s commentary (T1710), i.e.

    ca. late 7th century CE, that the “form is emptiness” passage is part of a quote

    from Pañcaviṃśati (Nattier 1992: 206-7, n.33). The passage consists of four

    phrases, in two symmetrical pairs. Conze’s Sanskrit edition includes a further

    pair of statements: yad rūpaṃ sā śūnyatā and yā śūnyatā tad rūpaṃ. This was,

    in fact, a minority reading in his witnesses. The extra phrases are absent from

    the Sanskrit Pañcaviṃśati, from all the Chinese texts of the Heart Sutra and

    Pañcaviṃśati, and from the Tibetan canonical Heart Sutra (Nattier 1992: 204,

    n.19). I follow Nattier in treating them as a late interpolation and not properly

    part of the sutra.

    -------------------------


    Mindestens seit der Zeit von Kuījīs Kommentar (T1710), d.h.ca. Ende des 7. Jahrhunderts n.Chr.,ist bekannt, dass die Passage "Form ist Leerheit" Teil eines Zitats

    aus Pañcaviṃśati ist (Nattier 1992: 206-7, n.33). Die Passage besteht aus vier


    Sätzen in zwei symmetrischen Paaren. Conze's Sanskrit-Ausgabe enthält ein weiteres Paar von Aussagen: yad rūpaṃ sā śūnyatā und yā śūnyatā tad rūpaṃ. Dies war

    für die Nachfolgenden eine Minderheitslesart. Die zusätzlichen Sätze fehlen im Sanskrit-Pañcaviṃśati, in allen chinesischen Texten des Herz-Sutra und des Pañcaviṃśati sowie im kanonischen tibetischen Herz-Sutra (Nattier 1992: 204,n.19). Ich folge Nattier, indem ich sie als späte Interpolation und nicht als Teil des Sutras betrachte

    Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version)


    Conze hatte also eine Sanskrit-Version wie die oben von Wikisource, in der es die beiden zusätzlichen Zeilen


    5. yad rūpaṃ sā śūnyatā ( Form und Leerheit sind eins)

    6. yā śūnyatā tad rūpaṃ ( ohne Leerheit keine Form)

    gibt. Während diese in der Sanskrit-Version die der tibetischen Version aus der Berzin übersetzt nicht enthalten sind. Und es gibt Wissenschaftler, die dies als spätere Hinzufügungen sehen.


    Aber in obigen Text steht auch noch, dass die Passage aus dem Herzsutra aus einem älteren Prajna Paramita Text -

    dem Pañcaviṃśatisāhasrikā-prajñāpāramitā-sūtra ( Prajna Paramita in 25000 Zeilen) stammen.


    Und der Autor geht noch weiter und behauptet, dieses habe an eine ähnliche Passage im Aṣṭasāhasrikā-prajñāpāramitā-sūtra ( Prajna Paramita in 8000 Zeilen) angeknüpft.


    Zitat

    In Chapter One of Aṣṭa, we find a passage that begins with Subhūti asking a

    question of the Buddha:


    “If the Bhagavan were asked, ‘Can the man of illusions (māyā-puruṣa) train in omniscience (sarvajñā), will he come near it, and will he go forth to it?’ How would the Bhagavan explain the answer to this question?”


    Here sarvajñā “complete knowledge, omniscience” is a common synonym of

    Prajñāpāramitā.


    By way of answer, the Buddha asks Subhūti a related question:


    What do you think Subhūti:

    is illusion (māyā) different from form?

    Different from sensation, apperception, or volition? Is illusion

    different from cognition?


    Subhuti answers:

    Bhagavan, illusion is not different from form. Bhagavan, the illusion is form; form is the illusion. Bhagavan, illusion is not different from sensation, from perception, or from volition. The illusion is sensation, perception, and volition; sensation, perception, and volition are only illusions. Bhagavan, the illusion is not different from cognition. The illusion is cognition; cognition is the illusion.


    It is this paragraph that uses the familiar sentence structures, but with “illusion”

    (māyā) instead of “emptiness” (śūnyatā).

    -----------


    Im ersten Kapitel des Aṣṭa finden wir eine Passage, die damit beginnt, dass Subhūti


    dem Buddha eine Frage stellt:


    "Wenn der Bhagavan gefragt würde: 'Kann der Mensch der Illusionen (māyā-puruṣa) sich in der Allwissenheit (sarvajñā) ausbilden, wird er sich ihr nähern, und wird er zu ihr hinausgehen?' Wie würde der Bhagavan die Antwort auf diese Frage erklären?"


    Hier ist sarvajñā "vollständiges Wissen, Allwissenheit" ein gängiges Synonym für

    Prajñāpāramitā.


    Als Antwort stellt der Buddha Subhūti eine verwandte Frage:


    Was denkst du, Subhūti:

    ist Illusion (māyā) anders als Form?Anders als die Empfindung, die Wahrnehmung oder der Wille? Unterscheidet sich die Illusion vom Erkennen?


    Subhuti antwortet:

    Bhagavan, die Illusion unterscheidet sich nicht von der Form. Bhagavan, die Illusion ist Form; Form ist die Illusion. Bhagavan, die Illusion unterscheidet sich nicht von der Empfindung, von der Wahrnehmung oder vom Willen. Die Illusion ist Empfindung, Wahrnehmung und Wille; Empfindung, Wahrnehmung und Wille sind nur Illusion. Bhagavan, die Illusion unterscheidet sich nicht von der Kognition. Die Illusion ist die Erkenntnis; die Erkenntnis ist die Illusion.


    Es ist dieser Absatz, der die bekannten Satzstrukturen verwendet, aber mit "Illusion"(māyā) anstelle von "Leere" (śūnyatā).


    Übersetzt mit DeepL.com (kostenlose Version)

  • Verschoben

    Samadhi1876 ist hier zum Herzsutra das Shinjin Mei eingefallen. Ich habe seine Beiträge in einen extra Thread verschoben. Zum einen weil es da nicht um das Herzsutra geht - zum anderen weil das Herzsutra ja in vielen Mahayana Richtungen eine Rolle spielt.

  • Bei den kurz formulierten Aussagen des Herzsutras ist es schon schwer, etwas weg zu interpretieren. Es besteht eher die Gefahr, diese Aussagen unangemessen zu interpretieren. Die Bedeutung der Worte und die Bedeutung von Aussagen liegt nicht in den Worten und Aussagen selbst. Sie ergibt sich aus dem Kontext in dem sie stehen.


    Beim Herzsutra ist der Kontext durch Sariputras Frage, wie soll man sich schulen, wenn man die Vollkommenheit der Weisheit erlangen will, und durch Avalokitesvaras Aussage, sie sollen erkennen, dass die fünf Skandhas leer von inhärenter Existenz sind, bestimmt.


    Wir sind ja immer noch bei den beiden Aussagen von Avalokitesvara mit der er seine ausführlichen Erklärungen beginnt:

    Mit diesen beiden Aussagen beginnt Avalokitesvara mit der Erklärung wie man zu der Einsicht kommt, dass die Skandhas leer von inhärenter Existenz sind. Was bedeuten also diese beiden Aussagen?


    Das Wort "ist" stellt eine Beziehung zwischen Form und Leerheit her. Mit "ist" wird aber nicht zwangläufig eine Beziehung der Identität hergestellt. Weil Form ein unbeständiges Phänomen und die Leerheit ein beständiges Phänomen ist, ist keine Identität von Form und Leerheit gegeben. Trotzdem existieren beide und sie stehen in einem Zusammenhang zueinander.


    Die Form existiert nur in Abhängigkeit von Leerheit und die Leerheit existiert nur in Abhängigkeit von der Form. Sie bedingen einander und existieren immer gleichzeitig.


    Form und Leerheit sind auch Gegensätze. Da sie aber in gegenseitiger Abhängigkeit existieren, bilden sie auch eine Einheit. Aber nur weil sie eine Einheit bilden, ergibt sich daraus aber nicht die Identität von Form und Leerheit.

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Ich hatte doch oben den Artikel eines Autors zitiert, der meint, dass diese Zeilen im Herzsutra auf einer Passage in einem älteren Prajna Paramita Text basiert, wo statt "Leerheit" ( shunyata) noch "Illusion"(māyā) steht:


    Zitat

    Was denkst du, Subhūti:

    ist Illusion (māyā) anders als Form?Anders als die Empfindung, die Wahrnehmung oder der Wille? Unterscheidet sich die Illusion vom Erkennen?


    Subhuti antwortet:

    Bhagavan, die Illusion unterscheidet sich nicht von der Form. Bhagavan, die Illusion ist Form; Form ist die Illusion. Bhagavan, die Illusion unterscheidet sich nicht von der Empfindung, von der Wahrnehmung oder vom Willen. Die Illusion ist Empfindung, Wahrnehmung und Wille; Empfindung, Wahrnehmung und Wille sind nur Illusion. Bhagavan, die Illusion unterscheidet sich nicht von der Kognition. Die Illusion ist die Erkenntnis; die Erkenntnis ist die Illusion.


    Von daher, habe ich darüber nachgedacht, was dieser Ersatz des Wortes für einen Unterschied macht. Einerseits wird hier ja dass gesagt, was auch in Herzsutra steht "alle Dinge sind leere Erscheinungen". Leerheit meint also Illusion mit.


    Auf der anderen Seite steckt in dem Paar "Form und Leerheit" mehr als in dem Paar "Form und Illusion":


    Helmut schreibst ja:

    Quote from Helmut

    Die Form existiert nur in Abhängigkeit von Leerheit und die Leerheit existiert nur in Abhängigkeit von der Form. Sie bedingen einander und existieren immer gleichzeitig.

    Dies könnte man ja, wenn man "Illusion ( māyā)" für Leerheit einsetzt nicht sagen. Es wurde ganz seltsam klingen:


    Zitat

    Die Form existiert nur in Abhängigkeit von Illusion und die Illusion existiert nur in Abhängigkeit von der Form. Sie bedingen einander und existieren immer gleichzeitig


    Das hört sich falsch an, weil Illusion je eben nicht existiert. Die Begriffe "Illusion" und "Leerheit" stimmen zwar darin überein, dass sie den festen Augenschein leugnen, während aber "Illusion" da stehen bleibt, hat "Leerheit" gerade durch seine Nähe zum Entstehen in Abhängigkeit noch so eine prozesshaften Dimension.


    Von daher war es eine weiße Entscheidung, dass da "Illusion" durch "Leerheit" ersetzt wurde.

  • Ich finde diese Ansicht, dass Form "maya" ist sehr passend. Da fällt mir nämlich ein Dialog aus dem Zen dazu ein, den ich hier mal gepostet hatte.


    Es geht ja um die Skandhas als Gruppe des Ergreifens und da hilft diese Einsicht, dass Form Illusion ist, oder auch leer - denn wenn man Form ergreifen will, dann ist das immer ein Griff ins Leere. :grinsen:

    :zen:

  • Es geht ja um die Skandhas als Gruppe des Ergreifens und da hilft diese Einsicht, dass Form Illusion ist, oder auch leer - denn wenn man Form ergreifen will, dann ist das immer ein Griff ins Leere. :grinsen:

    Ja klar. Das ist ja die eine Richtung: Man hat eine "Form" aber es stellt sich heraus, dass diese nicht fest sondern illusionär ist. Hier kann man leer und Maya fast synonym verwenden.


    Interessant ist die andere Richtung das "Leere ist Form" Wie entsteht, so doch alles leer von inhärenter Existenz ist so etwas wie"Form"?


    Da ist der Hinweis, dass es nur eine Illusion ist, nicht sehr hilfreich. "Illusion" klingt ja auch so nach Beliebigkeit. Man stellt sich einen Zauberer vor, der einfach aus dem Nichts diese oder jene Illusion beschwört und sein Publikum staunen läßt.


    Aber wir stoßen ja eben in unserer Wahrnehmung auf ganz viel scheinbar Festes. Dieses ist nicht beliebig beschworen. Sondern es ist so, dass damit ein bestimmtes Phänomen entsteht, ganz viele Bedingungen in ganz bestimmten Konstellationen zusammentreffen.


    Statt wie beim Hervorbringen von Illusionen durch einen Zauberer ist es wie beim Schach, wo ja eine Handvoll Regeln eine Fülle von Konstellationen gebiert. Und wenn einer dieser Prozesse sich leicht anders verhält ( beim chinesischen Schach, indischen Schach, beim japanischen Schach) hat man auf einmal ganz andere Phänomenen. "Leerheit" bezeichnet nicht einfach nur die Illusionen sondern sagt auch etwas über deren Ursprung aus eben die konkrete Bedingtheit.


    Oder lese ich da zu viel hinein?

  • Das ist ja die eine Richtung: Man hat eine "Form" aber es stellt sich heraus, dass diese nicht fest sondern illusionär ist. Hier kann man leer und Maya fast synonym verwenden.


    Interessant ist die andere Richtung das "Leere ist Form" Wie entsteht, so doch alles leer von inhärenter Existenz ist so etwas wie"Form"?


    Da ist der Hinweis, dass es nur eine Illusion ist, nicht sehr hilfreich. "Illusion" klingt ja auch so nach Beliebigkeit. Man stellt sich einen Zauberer vor, der einfach aus dem Nichts diese oder jene Illusion beschwört und sein Publikum staunen läßt.

    Auf der konventionellen Ebene ist die Teetasse real, weil ich sie benutze, um daraus zu trinken. Ebenso ist das Auto real, denn wenn ich nicht aufpasse, könnte es mich überfahren. Auch mein Tod wäre auf dieser Ebene real – als das Sterben des Körpers. Doch wenn man nach dem "Ich" sucht, findet man keine inhärente, unveränderliche Essenz.


    Über Maya ( als die Illusion) zu sprechen, bringt wenig praktischen Nutzen, wenn ich akute Schmerzen empfinde; diese sollte ich dann natürlich lindern. Dennoch existieren Schmerzen nicht aus sich selbst heraus – genauso wenig wie ein intrinsisches „Ich".


    Die Leerheit und die Form lassen sich mit dem bekannten Bild aus der Gestalttherapie vergleichen: Entweder sehe ich die schwarze Vase oder die zwei weißen Gesichter – beide Perspektiven sind möglich, doch keine ist absolut .


    Die konventionelle Ebene und die absolute Ebene sind wie zwei Seiten derselben Medaille - untrennbar miteinander verbunden und gleichzeitig unterschiedlich in ihrer Erscheinung.

    Ein Leben ohne Selbsterforschung verdiente gar nicht gelebt zu werden.

    Sokrates

  • Die „Diskussionen“ um „Form und Leerheit“ tauchen in dem Forum ja immer wieder auf.


    „Form“ und „Leerheit“ sind zum Einen beides nur rein gedankliche Vorstellungen


    „Extreme“


    Wie: „das ist die Form“


    Und


    Wie: „das ist die Leerheit“


    Man beginnt zu unterscheiden und zu trennen…


    Das Gehirn fängt dann an zu „pendeln“, weil beides irgendwie im Widerspruch zueinander steht:


    Genauso wie „Hass“ und „Liebe“


    Genauso wie „Neigung“ und „Abneigung“


    Genauso wie „Du“ und „Ich“


    Das Gehirn liebt das…


    Und so kommt man auch immer wieder endlos ins Schleudern, wenn man wieder anfängt drüber nachzudenken, versucht zu „verstehen“, zu „begreifen“…


    Man darf an der Stelle dann auch fragen, „wer ist das“ der das „verstehen oder begreifen“ will und warum „will er das“?


    Hat „dieses Etwas“ Zweifel oder Angst an dem wie Alles ist?


    Muss „dieses Etwas“ das deshalb immer wieder neu versuchen zu ergründen und verstehen, so als könne es das nie wirklich verstehen?


    Aus Zweifel und Angst?


    Genauso wie das Ewige und Unendliche versuchen zu ergründen und verstehen zu wollen?


    Wie willst Du schwimmen im Meer und Dich davon tragen lassen, wenn Du anfängst darüber nachzudenken „was das Meer ist“ oder ständig Zweifel daran hast?


    Wie willst Du etwas „erklären“ wofür es gar keine Worte gibt?

  • Verstand und Vernunft sind wertvolle Instrumente des menschlichen Alltagsbewusstseins, um praktische Probleme zu lösen und technische Hilfsmittel zu erfinden.


    Für das tiefere Verständnis des Prajnaparamita Sutra und seiner Begriffe Leere und Form sind Verstand und Vernunft ungeeignet, hierfür benötigen wir "Zugriff" auf die Intelligenz eines "höheren" (einfacheren, klareren) Bewusstseins. Deshalb wird das Sutra oft am Ende eines Sesshins zitiert, wenn die Teilnehmer mit dem "Hishiryo-Bewusstsein" (hoffentlich) in einem Bewusstseinszustand sind, der über Verstand und Vernunft hinaus geht.


    Leere und Form im Sinne des Sutra sind keine physikalischen Begriffe, die mit Gleichungen, Algorithmen (Simulationen) oder Software-Modellen erfasst werden können.


    Es geht um das Verhältnis von Bewusstsein ("Geist") und den Inhalten des Bewusstseins.


    Im gewöhnlichen Traumzustand sind die Formen des Trauminhalts real, als Illusionen (als "leer von Substanz") werden sie erst nach dem Aufwachen erkannt. Die Illusion wird im Traum nicht als Illusion ("Dummheit") erkannt, deshalb erzeugen sie im Träumer die Erfahrungen von Euphorie und Panik, von Freude und Leid, dukkha. Erkennt der Träumer im Traum ("luzides Träumen"), dass er träumt, verliert das dukkha im Traum seine Qualität.


    Analog im menschlichen Alltagsbewusstsein.


    Im vollständig erwachten (Mahamudra-)Bewusstsein werden die Illusionen mit ihren Gedanken und Emotionen als Spiel des Geistes erkannt, dukkha zeigt sein anderes Gesicht.


    All das ist keine Theorie, sondern konkret in der Meditation erlebbar, deshalb tun wir uns die unendlichen Mühen der Meditations-Praxis letztendlich an, oder ?


    :medim: :mediw: :sunny:

  • Der zweite Satz ("Leerheit ist Form") drückt genauso wie der erste Satz ("Form ist Leerheit") keine Identität von Leerheit und Form aus, sondern eine Beziehung. Es ist die Beziehung von Eigenschaft und Eigenschaftsträger und beide existieren gleichzeitig.


    Da sich Avalokitesvaras Antwort an Sariputra anfangs auf die Skandhas bezieht, ersetze ich Form durch Körper-Skandha.


    Leerheit ist die Eigenschaft des Eigenschaftsträgers Körper-Skandha. Weil die Leerheit des Körper-Skandhas eine Eigenschaft des Körper-Skandhas ist, ist auch die Leerheit des Körper-Skandhas ein lediglich abhängiges Phänomen.


    Weil das Körper-Skandha die Eigenschaft der Leerheit von Eigenwesen besitzt, gibt es im Körper-Skandha nichts Unabhängiges.


    Das Körper-Skandha kann nur als abhängiges Phänomen existieren, weil es frei ist von Eigenwesen. Die Leerheit als Eigenschaft des Körper-Skandha gibt es nur als ein abhängiges Phänomen. Sie besitzt ebenfalls kein Eigenwesen.

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Die Bedeutung der Worte und die Bedeutung von Aussagen liegt nicht in den Worten und Aussagen selbst. Sie ergibt sich aus dem Kontext in dem sie stehen.

    Das ist eine problematische Behauptung. Man muss immer die Bedeutungen der Worte und Aussagen interpretieren und dann schauen, ob sie zu dem Kontext im Text passen. Ich sehe hier keinen Widerspruch.

    Das Wort "ist" stellt eine Beziehung zwischen Form und Leerheit her. Mit "ist" wird aber nicht zwangläufig eine Beziehung der Identität hergestellt. Weil Form ein unbeständiges Phänomen und die Leerheit ein beständiges Phänomen ist, ist keine Identität von Form und Leerheit gegeben. Trotzdem existieren beide und sie stehen in einem Zusammenhang zueinander.

    Wie du ja schreibst wäre die Aussage, dass Form und Leerheit identisch sind, widersprüchlich. Form und Leerheit können nicht identisch sein und doch wird deren Identität behauptet, wenn gesagt wird das Form und Leerheit eins sind beziehungsweise beide wechselseitig als ausschließliches Attribut des Anderen bezeichnet werden,


    Es wurde hier ja schon erwähnt, dass in dem Zusammenhang die Unterscheidung von relativer und letztendlicher Wirklichkeit eine Rolle spielt. Und zwar löst genau diese Unterscheidung den Widerspruch auf. Etwas kann zugleich beides sein, beständig und unbeständig, wenn es aus der Perspektive relativer und letztendlicher Wirklichkeit betrachtet wird.


    In deinem letzten Post beschreibst du ja sehr schön wie in dem Erkenntnisprozess der Eigenschaftsträger Form sich zur Eigenschaft wandelt und die Eigenschaft Leerheit zum Eigenschaftsträger wird und die wechselseitige Abhängigkeit beider voneinander deutlich wird. Das findet während dem Erkennen und Nachdenken statt, es ist ein dynamischer Prozess des Verstehens, in dem aus Subjekt Prädikat wird und umgekehrt.

    Leerheit ist die Eigenschaft des Eigenschaftsträgers Körper-Skandha. Weil die Leerheit des Körper-Skandhas eine Eigenschaft des Körper-Skandhas ist, ist auch die Leerheit des Körper-Skandhas ein lediglich abhängiges Phänomen.


    Weil das Körper-Skandha die Eigenschaft der Leerheit von Eigenwesen besitzt, gibt es im Körper-Skandha nichts Unabhängiges.


    Das Körper-Skandha kann nur als abhängiges Phänomen existieren, weil es frei ist von Eigenwesen. Die Leerheit als Eigenschaft des Körper-Skandha gibt es nur als ein abhängiges Phänomen. Sie besitzt ebenfalls kein Eigenwesen.

    Deine Interpretation berücksichtigt meines Erachtens nicht die Unterscheidung zwischen relativer und letztendlicher Wirklichkeit und daher fehlt hier ein wesentlicher Teil. Dieser Aspekt steckt ja in der Frage nach der "Vollkommenheit der Weisheit" und der Antwort, dass die Skandhas leer von inhärenter Existenz sind.

    Form und Leerheit sind auch Gegensätze. Da sie aber in gegenseitiger Abhängigkeit existieren, bilden sie auch eine Einheit. Aber nur weil sie eine Einheit bilden, ergibt sich daraus aber nicht die Identität von Form und Leerheit.

    Was ist der Unterscheid zwischen Einheit und Identität? Vielleicht könnte man sagen Körper-Skandha und Leerheit bilden eine widersprüchliche Einheit. Und darin sind sie identisch und nicht-identisch zugleich.

    "Das Siegel der erreichten Freiheit: Sich nicht mehr vor sich selbst schämen."

    - Irvin Yalom, Und Nietzsche weinte

  • Im Shobogenzo hat Dogen Zenji ein Kapitel über das Herz-Sutra verfasst und dort heißt es in seinem Kommentar:

    Zitat

    Während der Bodhisattva Avalokiteshvara das tiefe Prajnāpāramitā übt, durch sein ganzer Körper die fünf Seinselemente, und er sieht, dass sie alle leer sind. Die fünf Seinselemente sind Körper, Sinne, Denken, Wirken und Bewusstsein. Sie sind fünf Arten von Prajnā. Durchdringen und Sehen ist Prajnā selbst. Und wenn diese

    Wahrheit gelehrt und verwirklicht wird, dann sagen wir, dass „die Form Leer und die Leerheit Form“. [Und doch] ist die Form die Form und die Leerheit die Leerheit. [Form und Leerheit] offenbaren sich in den hundert konkreten Dingen und den zehntausend Phänomenen.


    Den Gedanken von Form ist Form und Leerheit ist Leerheit greift Shunryu Suzuki in seinem Buch Zen-Geist Anfänger-Geist im Kapitel "Keine Dualität" wieder auf. Dabei geht es darum sich der dualistischen Sichtweise bewusst zu werden, die in der Ansicht von "Form ist Leere und Leere ist Form" sich zeigen kann. Darauf will offenbar Helmut hinweisen. Aber auch Igor07 macht dazu einen Hinweis, in dem er deutlich machen will, dass es eben um die konkrete Wirklichkeit geht - den hundert konkreten Dingen und den zehntausend Phänomenen, von denen Dogen spricht.


    Die Frage aber, die hier eingangs gestellt war und im Anfang des Sutras einen Dialog wieder gibt, bezog sich ja auf das WIE der Übung:

    "Wie sollen edle Söhne, Töchter üben, die die Praxis der Höchsten Weisheit ausführen möchten?"


    Soweit ich das verstehe, sind hier Übung und Ausführung der Praxis der Höchsten Weisheit eins. D.h. die Übung verfolgt keinen Zweck und hat keine Nutzen, der von der Übung getrennt wäre. Erst wenn das "Ich" in der Übung verschwunden ist, kann sich dies dann als Höchste Weisheit erweisen.

    :zen:

  • Erst wenn das "Ich" in der Übung verschwunden ist, kann sich dies dann als Höchste Weisheit erweisen.

    Ja, sobald Ego und unterscheidender Geist sich beginnen aufzulösen wird sofort Alles kristallklar…


    Keine Vorstellung oder Zweifel mehr von:


    Form und Leere

    Richtig oder Falsch

    Gewinn oder Verlust

    Hass oder Liebe

    Man handelt ab da mehr nur noch intuitiv, aus seinem tiefstem Innern (Herz-Geist) heraus ohne Angst und Zweifel


    (Darum heißt das Sutra auch Herz Sutra)


    Dies ist aber auch nicht mit Nihilismus zu verwechseln


    Sondern:


    Diese tief(st)e ganz persönliche Erfahrung geben wir auch an andere weiter…


    Weil wir dies auch erst dann wirklich von tiefstem Herzen heraus können

    Weil wir uns nun auch sicher sind

    Auch wirklich frei sind von zuvor üblicheren Gedanken an:


    Gewinn und Verlust

    Richtig und Falsch

    Hass und Liebe

    Usw.


    Darum ist allein nur theoretisches Verstehen wollen des HerzSutra auch nur bedingt hilfreich


    Darum schreibt S. Suzuki auch:


    „Wisst ihr, die Schriften sind nicht die wahre Lehre…“

    (Es sind nur Hilfsmittel auf Papier)