Ich habe schon immer ein gewisses Misstrauen gegenüber vielen deutschen und englischen Übersetzungen alter Texte gehabt. Einfach deshalb, weil ich in vielen keinen Sinn erkenne und mir die Erklärung, das wäre halt ein Koan o..ä. oft nicht plausibel erscheint.
Jetzt kam aber noch etwas hinzu, dass mir gezeigt hat, dass das Übersetzungsproblem vermutlich viel größer ist, als ich dachte.
Ich habe zwei "Primärquellen" für das Nachfolgende:
Die erste ist unser Jüngster, er lebt sein ein paar Jahren in Taiwan und studiert seit letztem Jahr dort an der National Taiwan University Political Sience. Er hat mit 15 angefangen Mandarin zu lernen. Inzwischen ist er so weit, dass sein Mandarin gut genug ist für den Uni-Alltag und er sich nun auch mit klassischer chinesischer Literatur und Poesie der Tang-Zeit beschäftigt.
Die andere Quelle ist unsere Nachbarin. Eine Deutsche, die Mandarin studiert, lange in China und Taiwan gelebt hat und als staatlich akkreditierte Chinesisch-Übersetzerin tätig ist.
Hier ist, was diese mir über chinesische Texte erklärt haben:
1. Das Chinesische ist voll von Redewendungen und Anspielungen. Es gilt aber schon von je her als Zeichen besonderer Eleganz, sich so knapp wie möglich auszudrücken. Dies geschieht dadurch, dass ein Ausdruck nur angedeutet wird. Also von einem Ausdruck oder einer Redewendung, die acht Zeichen lang ist, werden nur vier wiedergegeben. Von einem Ausdruck, der vier Zeichen umfasst, werden nur die ersten zwei wiedergegeben und von einem Ausdruck oder Wort, das zwei Zeichen hat, nur das erste.
Man kann sich leicht denken, was das korrekte dechiffrieren solch verkürzter Sätze an Wissen über Geschichte, Gesellschaft, situativem Kontext erfordert. Das wäre heute schon schwer, aber mit einem 1.000 Jahre alten Text .... ?
2. In der Tang Zeit war es aus unbekannten Gründen ein "Sport", in buddhistischen Texten den normalen Satzbau (Satzbau trifft es nicht ganz, aber wer Chinesisch kennt, weiß, was ich meine) zu durchbrechen. Also die Wörter z.B. in anderer Reihenfolge zu schreiben, als es üblich war.
3. Viele Wörter wurden im Buddhismus umgedeutet. Das kenne ich selbst, kann man in jedem Wörterbuch klassischen Chinesisch sehen. Da steht hinter einem Eintrag erst die normale Bedeutung, dann in Klammern "buddh.: irgendeine völlig andere Bedeutung".
4. Chinesisch ist so kontextbezogen, dass wenn man sich zu einer Gruppe von Menschen dazugesellt, die sich unterhalten, es sehr schwierig ist und viel länger als bei uns dauert, bis man versteht, worum sich die Unterhaltung dreht.
5. Zu guter Letzt, und das hat mich am meisten umgehauen, haben beide berichtet, dass das Chinesische so facettenreich ist in seinen Ausdrucksmöglichkeiten, dass wenn man mit dem Gegenüber nicht "in Schwingung" wäre, man sich nicht verstehen würde. Und sie meinten das beide wörtlich. Also es ist keine Sprachbarriere, man versteht natürlich die Worte des Gegenübers, aber wenn man nicht auf gleicher Wellenlänge wäre, dann ergeben diese keinen Sinn, man könnte sich nicht verständigen (ich kann mir das selbst nicht vorstellen, aber beide haben genau diese Erfahrung gemacht).
Wenn ich das alles zusammen nehme, stellen sich für mich viele Fragen nach der inhaltlichen Sinnhaftigkeit vieler Übersetzungen.
Jetzt gibt es m.W. nach ja hier ein paar Menschen, die sich mit Übersetzungen beschäftigen. Könnt ihr die oben geschilderten Punkte bestätigen, wie seht ihr das und was bedeutet das für euren Umgang mit den Texten?