Tagträume kreisen, das zeigen große Stichproben-Studien im Alltag, oft mehr um ‚Arbeit’ als um ‚Vergnügen’. In den meisten unserer
Alltagsfantasien thematisieren wir noch unerledigte Aufgaben […]
Der Hirnforscher „Singer stellte fest, dass sich unter Straftätern und Drogenabhängigen überwiegend starke ‚Reizsucher’ finden,
die überwiegend ‚nach außen leben’ und permanent Stimulation brauchen und suchen. Sie sind tendenziell unruhiger, angespannter,
impulsiver, unkontrollierter und reizabhängiger als Menschen, die ihr Gefühlsleben und ihre Realitätsverarbeitung zumindest
teilweise mithilfe ihrer Fantasie regulieren und kontrollieren können.
Auch Probleme wie Esssucht oder süchtiger Fernsehkonsum gehen nach Singers Untersuchungen maßgeblich auf einen Mangel an
fantasievollem Innenleben zurück.
Der Begründer der Logotherapie, Viktor Frankl, beschreibt in seinem Buch ‚Die Suche nach Sinn’, wie er als KZ-Häftling in Auschwitz
regelmäßig Zuflucht in einem bestimmten Tagtraum fand: In den kalten Nächten fantasierte er, wie er in einem hellen, warmen Raum einen
Vortrag hält.
Wir driften sehr viel öfter nach innen, als wir glauben oder schätzen. An durchschnittlichen, eher ereignisarmen und routinegeprägten
Tagen verbringen wir bis zu 40 oder gar 50 Prozent der Wachzeit im Reich der Fantasie. […] Es gehen uns täglich um die 2000
tagtraumartige Episoden durch den Kopf. […] Selbst dann noch, wenn wir sehr konzentriert und intensiv an einer wichtigen, uns
fordernden Aufgabe arbeiten, driftet unser Geist in mindestens zehn Prozent dieser Zeit ab
Wenn die Aufgabe mühsam ist und wir zudem noch verunsichert werden, tagträumen wir […] besonders häufig.
Tagträume sind Heldensagen, in Ich-Form erzählt, Nachtträume sind eher kafkaeske, befremdende Novellen.
Der amerikanische Psychoanalytiker Christopher Bollas bringt es auf diese Formel: Wir träumen unseren Tag. Das heißt, wir bewegen uns
in einer Welt, der wir gewissermaßen unsere Wunschstrukturen unterlegt haben. Für ihn ist das Leben eine von Fantasien geprägte Form
der Selbsterfahrung. Wir laden […] Objekte oder Beziehungen […] ständig mit seelischer Bedeutung auf und wandern […] ‚in unserer
eigenen Sinngebung umher’”
Die Unterschiede zwischen ‚wenig Tagträumenden’ und ‚aktiv und viel Träumenden’ liegen vermutlich darin begründet, dass Letztere
einfach aufmerksamer gegenüber […] inneren Prozessen sind
Je weiter die Entwicklung voranschreitet, desto häufiger lösen Aspekte der Nichtrealisiebarkeit und Unvollständigkeit Sehnsüchte aus.
Ihre Funktion besteht dann in der Regulation von irreversiblen Verlusten und unrealisierbaren Lebenswegen. Es ist zu vermuten,
dass Sehnsüchte sich oft auf ehemalige Ziele oder Zielsysteme richten, die unerreichbar sind, aber auf Fantasieebene weiter existieren.