Vielen Dank für die Beiträge! Meiner wird jetzt recht lange. Er ist aber geordnet und man kann vieles gut überspringen - meine Kritik an Kant folgt dann am Ende.
Zunächst zur „Glückseligkeit“ bei Aristoteles:
Aristoteles sieht spezifisch menschliches Glück im Gebrauch der Vernunft, welche die Formung des Charakters bestimmt. Dementsprechend ordnet er in seinem berühmten Tugendkatalog fünf Verstandestugenden und elf Charaktertugenden, nämlich Tapferkeit, Besonnenheit, Freigiebigkeit, Großherzigkeit, Ehrbewusstsein, Seelengröße, Sanftmut, Freundlichkeit, Gewandtheit, Wahrhaftigkeit und Gerechtigkeit. Seine umfangreichste Untersuchung gilt der letzten Tugend, der Gerechtigkeit. Die Tugenden Freigiebigkeit und Großherzigkeit betreffen den Umgang mit Geld und dessen rechte Mitte, sie sind keine Tugenden des Herzens. Überhaupt geht es bei allen Bestimmungen darum, das rechte, vernünftige Maß zu finden, Extreme zu vermeiden. Daher ist die wesentliche Eigenschaft der aristotelischen Ethik, emotional-kognitive Eigenschaften für das Leben in der Gemeinschaft zu ordnen und vernunftvoll zu regeln, zugleich unser Denken als das höchste, ja göttliche Glück zu empfehlen. Göttlich ist das Unbewegte, das sich ewig selbst denkt, der Mensch nimmt Anteil daran, so die metaphysische Lehre des Aristoteles.
Zur Aufnahme in die christliche Ethik:
Im Unterschied zur platonischen gerät die aristotelische Philosophie für lange Strecken in Vergessenheit; erst im späten Mittelalter kehrt sie aus dem arabischen Raum ins abendländische Denken zurück und wird sodann besonders von Thomas von Aquin (1224-1274) aufgegriffen. Dessen Umformulierung des aristotelischen Tugendkatalogs bringt aber zu Tage, was längst zum allumfassenden Prinzip geworden ist und sich schon Jahrhundert zuvor bei Augustinus (354-430) findet: Philosophie ist die Schau Gottes und die Liebe zu Gott, der Philosoph ist der Liebhaber Gottes, doch vollzieht sich diese Liebe in der reinen Liebe des Menschen zum Menschen. Auch handelte es sich längst nicht mehr um eine kleine Denkschule irgendwo in Griechenland, sondern um eine Religion, die sich in ganz Europa ausgebreitet hat. Die Bestimmungen, mit denen Thomas den Tugendkatalog erweitert, sind dann vor allem Liebe (caritas), Hoffnung (auf ein ewiges Leben) und Glaube an Gott.
Neuzeit:
Die Tugendethik als früher moralphilosophischer Ansatz prägt in ihrer christlichen Ausrichtung das Mittelalter. In der Neuzeit gerät sie jedoch für die Philosophie weitgehend in Vergessenheit. Der Grund dafür liegt einerseits darin, dass ihr metaphysischer Kontext fragwürdig wird. Auch wenn die Göttlichkeit des Menschen vielleicht schon in der Antike angezweifelt wurde, es fortan für Ethik galt, den Menschen zu verbessern, so wird nun die Göttlichkeit des Ganzen zum Gegenstand der Skepsis. Die Ethik der Aufklärung bildet die Opposition zur Theologie. Damit verwirft sie die Angelegenheit der Charakterbildung und der eigenen Glückseligkeit.
Besonders Immanuel Kant, der Aufklärungsphilosoph schlechthin, bestimmt die Frage nach dem moralisch gerechten Urteil als alleinigen Gegenstand der Ethik. Dafür aber taugt die eigene Glückseligkeit als Urteilsinstanz nicht. Diese Verengung und Spezialisierung hin zu einer normativen Ethik gilt ebenso für den Gegenspieler der kantischen Ethik, den Utilitarismus. Auch der Utilitarismus verfolgt keinen tugendethischen Ansatz, sondern argumentiert eine nur andere These zum moralischen Urteil. Der Gegenstand der Glückseligkeit aus Nächstenliebe verschwindet damit nicht nur aus dem ethischen Diskurs, sondern aus der Philosophie überhaupt, erscheint er doch als viel zu eng an metaphysische Spekulationen geknüpft. Erst in jüngster Zeit erfährt zumindest die Tugendethik eine Renaissance. Dennoch wird man in Lehrbüchern der philosophischen Ethik die Begriffe Mitgefühl und Liebe nicht leicht finden.
Immanuel Kant:
Was sind die Gründe, weshalb Kant das bislang dominante Prinzip Glückseligkeit aus der Ethik ausschließt? Kant verwendet sprachlich wunderbare und komplexe Argumentationen, die Semestervorlesungen füllen können. Doch lassen sich seine Gedanken durchaus auch verkürzt darstellen.
Kants Ethik versteht sich als Pflichtethik, als Selbstverpflichtung auf ein Testverfahren zum moralischen Urteil, den Kategorischen Imperativ. Dieser besagt, dass die Intention (Maxime), die wir mit einer Handlung verknüpfen, verallgemeinerbar sein muss. Diese Verallgemeinerung meint, dass sie ein allgemeines Gesetz abgeben können muss. Tut sie das nicht, ist unser Handeln unmoralisch.
Beispiel: Ich möchte Geld aus der Firmenkassa stehlen. Meine allgemeine Intention würde demnach lauten: Immer, wenn ich in Geldnot bin, entwende ich Geld aus der Firmenkassa, wo ich beschäftigt bin. Auf ein Gesetz verallgemeinert bedeutet dies: Das Bestehlen der eigenen Firma ist Menschen, die in Geldnot sind, erlaubt. Hier sagt die Vernunft jedoch, dass ein solches Verhalten der Wirtschaft schweren Schaden zufügen würde. Das System der Wirtschaft würde aufgrund mangelnder Integrität und Korruption kaum funktionieren, übermäßige Ressourcen müssten in Schutzmaßnahmen fließen, allgemeines Misstrauen, hohe Arbeitslosigkeit wäre die Folge. Damit würde sich die Not erst recht vergrößern. Das Testverfahren des Kategorischen Imperativs weist meine Absicht daher als unmoralisch aus. Wörtlich lautet es u.a.: Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. (Kants zweiter Grundgedanke betrifft den unveräußerlichen Wert des Menschen)
Kant möchte kein neues Verständnis dessen, was ethisch korrektes Handeln ist, postulieren. Sondern er möchte den Menschen über das, was sein eigenes Moralverständnis ist, aufklären. Wir wissen immer schon irgendwie, dass anderen die gleichen Rechte und Pflichten zukommen wie uns selbst. Kant gibt diesem Wissen einen Grundsatz, eine Formel; die Formel der Verallgemeinerung. Diese Aufgabe hat Kant freilich genial ausgearbeitet und sie bietet bis in die heutige Zeit einen hauptsächlichen Ansatzpunkt für Ethik. Denn egal, was zur philosophischen Ethik gesagt wird, die Auseinandersetzung mit Kant findet sich praktisch immer.
Kants Ausschluss der Glückseligkeit
Hier soll es also um die Argumente, weshalb Kant die eigene Glückseligkeit für eine Begründung von Ethik verwirft, gehen. Seine Argumente lauten:
* Der Kategorische Imperativ ist bewusst nur die reine Verallgemeinerung oder Gesetzesform und besagt nichts Konkretes. Vergleichbar wäre die Goldene Regel: Behandle andere so, wie du selbst behandelt werden willst. Auch hier wird nichts Konkretes genannt, sondern ein allgemeines Gesetz. Kant findet seine Regel allerdings besser, denn für sich kann man alles Mögliche wollen, aber als Gesetz? Eigene Glückseligkeit schließlich kann tatsächlich alles Mögliche präferieren. Daher ist sie als moralische Regel nicht zu brauchen, meint Kant.
* Eigene Glückseligkeit kann mit selbstsüchtiger Absicht zu tun haben: Ob das so ist, kann allein die Vernunft klären. Daher gilt ein unbedingter Vorrang für die Vernunft. Ethik darf nicht hinter das als gültig erkannte Prinzip, den Kategorischen Imperativ, zurückgehen.
Kritik an Kants Ausschluss der Glückseligkeit
Die Rezeption der Ethik Kants beinhaltet zu allen Zeiten viel Kritik. Meine Skepsis basiert auf folgenden Überlegungen:
* Kants Ethik sagt grundsätzlich nur, wie zu urteilen ist. Die Frage, was uns dazu motivieren soll, bleibt unbeantwortet. Jene wechselseitige Begründung von Freiheit, Vernunft und Moralität, mit der Kant eine Vorstellung von der Zukunft der Menschheit geben will, vermag nur nach intensiver Beschäftigung mit seiner Philosophie zu berühren.
* Damit wird ein moralisches Selbst, also die Bereitschaft, moralisch zu urteilen, von normativer Ethik immer schon vorausgesetzt. Dagegen stellt sich Tugendethik gerade dieser Frage. Dabei erklärt sie einen Ansporn zur Entwicklung innerer Werte, der mit eigenem Glück zu tun hat, und vermag derart Orientierung zu leisten.
* Dadurch, dass die eigene Glückseligkeit von Kant eben doch fortwährend in Zusammenhang mit Eigennutz und Selbstliebe gestellt wird, versperrt seine Ethik den Weg, eine andere Glückseligkeit zu erforschen.
* Das moralische Urteil verengt den Blickwinkel auf das Kognitive. Die Gestaltung liebevoller und fürsorglicher Beziehungen tritt in den Hintergrund, wird nicht genügend als moralische Qualität wahrgenommen.
* Kaum ein Mensch bestimmt sein Handeln nur aus Prinzipien. Wenn wir etwa vor der Frage stehen, ob wir fremdgehen sollen, bedenken wir diese Angelegenheit doch sehr konkret, denken an unsere Partnerin etc. Auch ist nicht jedes Fremdgehen im gleichen Maß unmoralisch, da Beziehungen sehr unterschiedlich sind.
* Die Gesetzesformel sagt uns nur das, was wir ohnehin wissen. Für ein moralisches Dilemma ist der Kategorische Imperativ aber nicht zu gebrauchen. Damit sind solche Situationen gemeint, wo sich Vor- und Nachteile von Menschen in ähnlichem Ausmaß gegenüberstehen.