Buddhistisches Tantra ist eine Methode, buddhistische Ziele zu erreichen. Das Besondere an tantrischen Methoden ist die unmittelbare Arbeit mit Energieflüssen in uns. Ein Vorteil ist, dass man weitgehend nonverbal auf das Ziel hinarbeitet, d.h., man entgeht auch weitgehend dem Problem, sich an den Grenzen unserer Worte den Kopf einzurennen (frei nach Wittgenstein formuliert). Bei der Arbeit mit unseren Energien (Anhaftung, Abneigung z.B) geht es am Anfang der Praxis um gezieltes Wahrnehmen derselben, später um Nicht-Einhaken, Auflösen, Umleiten, Konzentrieren, Verschmelzen und dergleichen mehr. So etwas sollte man aber nicht tun, ohne genau zu wissen, worum es geht, wohin man will und wo die Gefahren liegen. Deshalb sind tantrische Praktiken erst nach Einweihung durch eine 'sachkundige Person' durchzuführen.
Im letzten Jahr, bevor meine Mutter (zuletzt bettlägerig) starb, habe ich sie gelegentlich oben auf dem Kopf gekrault, dort, wo sich die Große Fontanelle befindet, genau dort. Dabei habe ich jedesmal zu ihr gesagt: "wenn du mal rausgehen willst, dann musst du hier rausgehen!", und sie antwortete ernsthaft: "Ja, mach' ich!"
Dieses Rausgehen war zwischen uns von Bedeutung, denn sie war zuletzt im Altenheim, und als es ihr noch besser ging, fragte sie mich bei jedem Besuch: "Fahren wir jetzt nach Hause? Lass uns nach Hause fahren!" (was mir fast das Herz brach).
Bis ganz zuletzt war ich aber, trotz ihrer sehr schweren Demenz, die Einzige, die sie noch kannte, und sie wusste, dass ich ihre Tochter bin. Alle anderen Menschen waren fremd und vielleicht auch bedrohlich für sie.
Das gab mir die Chance, ihr großes Vertrauen zu mir zu nutzen, und das ist der Grund zu meinem Entschluss, sie oben am Kopf zu kraulen. Denn ich weiß: das große bedingungslose Vertrauen, das ist der entscheidende Katalysator, um Energieflüsse anzuregen und in Bahnen zu lenken. Auch, wenn ein Mensch im Leben nie meditiert hat und solche Lehren und Gemeinschaften immer abgelehnt hat, funktioniert das. Wir alle wissen aus Geschichten von plötzlichen Erleuchtungserfahrungen, dass die betreffenden Kandidaten manchmal auch gar nicht vorbereitet waren. Diese subtilen Vorgänge sind wie Kugelblitze. Manche meditieren nie, so wie meine Mutter, und Andere, die ihr Leben lang meditieren und vielleicht auch Einweihungen hinterherjagen, bewegen sich in ihrer Entwicklung keinen Zentimeter weiter. Nebenbei bemerkt: das ist auch der Grund, warum wir im Wert eines Menschen nicht unterscheiden sollten. Selbst der größte Verbrecher trägt die Buddhanatur in sich, sogar Hitler, dessen Privatleben ja im Fernsehen schon mehrfach dokumentiert wurde und was ich mit großem Interesse verfolge! Aber ich will hier nicht abschweifen.
Ich sagte schon an anderer Stelle: Einweihungen und dergleichen sind nur glitzerndes Beiwerk.
Und füge hier hinzu: wer es braucht, der soll ruhig dran teilnehmen. Aus tantrischer Sicht wird empfohlen, alles auszuprobieren, alles. Auch wenn es darum geht, eine Flasche 80prozentigen Rum in sich zu kippen. Wenn es denn sein muss, dann muss man eben diese Erfahrung machen.
Irgendwann in dieser weiten, unvorstellbar vernetzten Erscheinungswelt kommt jedes Wesen einmal zum Erwachen, und die Wege sind oft so krumm, wie unsere vorgefasste Meinung und Vorstellung es sich nie ausmalen kann.
Aber es gibt einen entscheidenden Faktor, den "spirituellen Motor", der alles übertrifft und diese Prozesse mit Abstand beschleunigt: das bedingungslose Vertrauen.
So weit, so gut.
Wir haben hier das Thema: "Tibetischer Buddhismus ohne tibetische Lamas", und ich möchte betonen, dass ich mich eng ans Thema halte, auch wenn es sich dem/der Einen oder Anderen nicht unmittelbar erschließt.
Während ich in der Zeit des letzten Verfalls meiner Mutter mal ein paar Tage zum Kamalashila-Institut verreist war und ich mit den Lamas bei Frühstück saß, erzählte ich, dass ich meine Mutter öfter über der Großen Fontanelle kraule und sie ermuntere, da rauszugehen, wenn es so weit ist. Da antwortete der Lama, den ich besonders gern mag (und der ausgerechnet schon einmal zu mir gesagt hatte, dass Vertrauen und Hingabe das Wichtigste seien), dass ich das auf keinen Fall tun solle! Das sei gefährlich!!!
Ich war fassungslos, versuchte aber mir nichts anmerken zu lassen.
Selbstverständlich habe ich das nicht befolgt. Denn die Bindung zwischen meiner Mutter und mir war sehr speziell - wie konnte er das beurteilen?!
Dass mein Verhalten richtig war, habe ich daran gemerkt, dass die Lieblingsfarbe meiner Mutter die letzte Zeit Rot war, obwohl sie ihr Leben lang Grün bevorzugt hatte. Rot ist die Ausstrahlung von Amitabha, dem Dhyani-Buddha der Unterscheidenden Weisheit, aber auch der Buddha-Aspekt des Grenzenlosen Lichts. Aus ihm hat sich vor Jahrhunderten eine spezielle Richtung in Japan entwickelt, dabei er ist auch der Buddha des Reinen Landes Sukhavati. Im Tibetischen Buddhismus nimmt er unter den Dhyani-Buddhas eine hervorgehobene Stellung ein, und er ist von Bedeutung, wenn man Praktiken ausübt, um sich auf die Endlichkeit des Lebens einzustellen und auf das Sterben vorzubereiten.
Das alles konnte meine Mutter natürlich nicht wissen, aber ich habe gestaunt, dass sie im letzten Jahr ihres Lebens noch die Lieblingsfarbe wechselte, und darum weiß ich, dass wir beide es zusammen richtig gemacht haben und sie auf einem guten Weg war und ist.
Ein Lama ist auch nur ein Mensch und man muss ihm nicht übernatürliche Fähigkeiten andichten. Er kann sich auch nur an das halten, was er von seinen Lehrern gelernt hat. Am wichtigsten ist es für einen selbst, dass man, basierend auf früherer Erfahrung in der Praxis, das Richtige tut, und das kann man nur selbst fühlen, ein Lama kann das nicht.
Hat man aber bedingungsloses Vertrauen in den Lehrer (ich meine auf eine subtile Weise, und nicht indem man sich blind missbrauchen lässt), dann ist es das Vertrauen, welches wirkt. Das darf man nicht mit der Person des Lehrers verwechseln. Dieses ganz spezielle Vertrauen wirkt wie ein Sog, den man auch spüren kann.
Ich habe mich allerdings gewundert, dass eben dieser Lama, den ich immer noch am liebsten mag, mich vor meinem Vorgehen mit meiner Mutter warnte, obwohl gerade er es war, der gesagt hatte, dass bedingungsloses Vertrauen und Hingabe das Allerwichtigste sei. Diesen Widerspruch kann man sich nur damit erklären, dass die Lamas, wenn's drauf ankommt, sich doch lieber auf die Theorie berufen, um auf Nummer Sicher zu gehen.
Es ist völlig unwichtig, dass ich kein Lama bin, sondern nur ein einfacher Mensch. Entscheidend war nur die innere Ausrichtung meiner Mutter. In diesem Fall war ich für sie der Katalysator.