Spricht man von Leid denkt man an großes Leid, spricht man von Stress denkt man nicht an Leid. Spricht man unter Buddhisten von Dukkha so hat man einen gemeinsamen Begriff der sich eben auch in den buddhistischen Schriften findet.
Ja, so ist es landläufig: man denkt dabei an Leid im negativen, schmerzvollen Sinne.
Aber aus buddhistischer Sicht wird Leid noch übergeordnet betrachtet: auch die scheinbaren Freuden sind leidvoll. "Einfachversteher" merken das erst mit Verzögerung, nämlich, wenn die scheinbaren Freuden zu Negativem und Schmerzvollem führen.
Beispiele:
heftig Party machen -----> nächsten Tag Kater haben, Brummkopf, Übelkeit.
Spaß im fremden Bett haben, obwohl verheiratet -----> Baby gemacht, Trennung, kostspielig.
Schlecht über den Chef reden (was ja auch Spaß machen kann) -----> Kündigung.
Jahrelang zu viel geraucht -----> Lungenkrebs.
Kaufsüchtig sein, sich übernommen haben -----> Wohnung verloren, Armut.
usw. usw.
Also, zuerst hat man "Spaß" aus Dummheit und fehlender Weitsichtigkeit, und dann gibt es ein böses "Erwachen".
Jedoch, fortgeschrittene Versteher erschauen den Fehler von Anfang an und erkennen, dass scheinbares Glück bereits das Leid mit einschließt.
Ich habe hier nur primitivste, einfachste scheinbare Glücksphasen/Freuden genannt, die zu vordergründigem Leid führen.
Die meisten Vorgänge dieser Art sind aber viel subtiler und da ist es schwer, ihnen auf die Schliche zu kommen.
Was ich sagen will:
Erstens, es ist sehr schwierig, herauszufinden, wie man selber tickt und in mentalen eingefahrenen Spuren fährt. Es braucht dazu viel Erfahrung in Meditation und/oder Achtsamkeit im Alltag. Es braucht regelmäßige innere Einkehr. Doch nur so kann man rechtzeitig Korrektur-Weichen stellen.
Zweitens: es erfordert zusätzliche innere Erfahrung, scheinbares Glück, Beispiele siehe oben, schon in seiner Basis als Leid zu erkennen und innerlich zu verwerfen. Arthur Schopenhauer beispielsweise wurde von seiner Umwelt als komischer Kauz und womöglich verbittert wahrgenommen, doch in Wirklichkeit zog er sein wahres inneres Glück aus der selbstgewählten Einsamkeit. Das ist ein kostbares Gut.
Drittens, und damit wiederhole ich mich gewissermaßen: das "Glück", die scheinbaren Freuden zu erfahren, z. B. ins Kino oder Konzert/Theater gehen, sich den täglichen Schwimmbadbesuch leisten können oder edel essen zu gehen usw., beinhaltet schon allein in der Erfahrung an sich, ob man es wirklich als Glück erfährt oder schon in seiner Gegenwart (ich meine, ohne das bereits Folgen eingetreten wären) subtil als Leid zu erfahren.
Viertens: Wahres Glück ist in Wirklichkeit was anderes, nämlich, alles dies Genannte als heilsam zu betrachten in dem Sinne, es als Werkzeug benutzen zu können, um sich weiterzuentwickeln.
Das ist die wahre Sichtweise, das wahre Unterscheidungsvermögen.
Wenn wir landläufig von "Sichtweise" sprechen, meinen wir meistens: ich habe diese Meinung und du hast eine andere Meinung, so hat jeder seine Sichtweise.
Das aber ist in Wirklichkeit nicht mit "Sichtweise" gemeint, obwohl die meisten Buddhisten das glauben, genauso wie andere Religionsangehörige dieses oder jenes glauben. Leider hat dieses Wort gerade unter Buddhisten eine gewisse Inflation erfahren. Wenn man sich selbst dabei erwischt, sollte man denken: Holzauge sei wachsam!
Nein, Sichtweise ist etwas ganz anderes. Das ist das Verständnis, der Durchblick (empirisch erarbeitet), welche Gegebenheiten uns zum Heil führen und welche nicht.
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P. S.: Ein Mensch, der sich nach Definition "unter der Armutsgrenze" befindet, sich z. B. kein Kino, keine regelmäßigen Schwimmbadbesuche usw. leisten kann, ist nicht wirklich arm. Er ist nur arm, wenn er damit nicht umgehen kann.