2.4 Die zehn Stufen der Bodhisattva-Laufbahn
Auf der 1. Stufe seiner Laufbahn übt der Bodhisattva besonders die Freigiebigkeit. Er nimmt sich vor, allen Wesen Gutes zu tun. Die Freude über den neu eingeschlagenen Weg, darüber, dass nun ein Bodhisattva ist und ein Buddha werden wird, lässt er in Wohlwollen und Mildtätigkeit gegenüber allen Wesen strömen. Die Freude ist also der innere Antrieb für die Freigiebigkeit auf der 1. Stufe; deshalb heißt sie auch "freudevolle Stufe". Vollkommene Freigiebigkeit und Mildtätigkeit, die weit ausstrahlt, kann der Bodhisattva aber nur üben, wenn er frei von Giergedanken, Leidenschaften und einem an Formbegriffen verhafteten Geist ist. Auch unterlässt es ein Bodhisattva bei vollkommener Freigiebigkeit, auf sein Wohlwollen und seine Mildtätigkeit zu reflektieren. Wenn er das täte, dann wollte er sich damit nur selbst bestätigen und dächte an sein Selbst, das letztlich nicht existiert. Aber soll seine Freigiebigkeit vollkommen verdienstvoll sein, denkt er nicht an ein eigenes Selbst, sondern betrachtet seine Freigiebigkeit als Besitz aller Wesen.
Die 2. Stufe, die "fleckenlose Stufe", dient der Pflege sittlicher Zucht. Der Bodhisattva beobachtet auf dieser Stufe besonders die zehn Gebote Buddhas: nicht töten, nicht stehlen, keusch sein, nicht lügen, keine zweideutige Sprache führen, nicht schmähen, nicht schmeicheln, nicht habgierig sein, nicht zornig sein, keinen Ketzereien anhängen. Zu dieser Stufe gehört auch die Selbstlosigkeit der Mildtätigkeit, die oben erläutert ist.
Auf der 3. Stufe, der "glänzenden Stufe", übt der Bodhisattva besonders Gleichmut und Geduld.erträgt alles, jedes Missgeschick gelassen, hegt keinen Gedanken an ein eigenes Selbst und zeichnet sich aus durch Leidenschaftslosigkeit.
Durch Tatkraft, Energie und heldenhafte Ausdauer zeichnet sich der Bodhisattva auf der "strahlenden Stufe", der 4. Stufe, aus. Er übt Selbstbeherrschung und hat Kraft zu guten Werken. Mit besonderer Energie widmet er sich dem Schriftstudium, um sie den Menschen zu erklären und näher zu vollkommenen Erkenntnis zu gelangen.
Die 5. Stufe, die "unüberwindliche Stufe", ist der Pflege der Meditation gewidmet. Der Bodhisattva richtet alle Denken und Wollen auf die vollkommene Erleuchtung. Er züngelt ganz seine Sinne, sein Geist ist völlig unabgelenkt und konzentriert, nur auf die Erleuchtung und Allwissenheit ausgerichtet. Der Gedanke, dass er alle Wesen zur Erlösung führen will, hilft dem Bodhisattva bei der Konzentration und macht ihm so das Erlangen der vollen Erkenntnis leichter.
Auf der 6. Stufe, die "(der Weisheit) zugewandten Stufe", erlangt der Bodhisattva die vollkommene Erkenntnis und Erleuchtung, die volle Weisheit und Allwissenheit. Damit hat er die höchste Vollkommenheit erreicht, die alle anderen Vollkommenheiten zusammenfasst und deren Spitze bildet. Erkenntnis und Weisheit bestehen aber für den Bodhisattva nicht auf intellektueller, verstandesmäßiger Ebene, sondern sie sind intuitiv, haben den Charakter einer intuitiven Erleuchtung. Sie können schon deshalb nicht intellektuell gemeint sein, da Bewusstsein und Verstand für den Bodhisattva letztlich "leer" sind, bloße Erscheinungen der letzten Wirklichkeit, die unbegreifbar und unergründlich ist.
"Es gibt keine Formulierung der Wahrheit, genannt Vollendung der unvergleichlichen Erleuchtung, weil die Dinge, welche vom Tathagata gelehrt werden, in ihrer wesentlichen Natur unbegreifbar und unergründlich sind; weder sind sie noch sind sie nicht, sie sind weder Phänomena noch Numena. Was bedeutet dies? Dies bedeutet, dass Buddhas und Bodhisattvas nicht durch feststehende Lehren erleuchtet werden, sondern durch einen intuitiven Prozess, der spontan und natürlich ist."
Weisheit bedeutet dann intuitives Erkennen der letzten Wirklichkeit. Das ganze Gemüt, der ganze Mensch ist gepackt von der Existenz der letzten Wirklichkeit, der Buddhaheit. Die Erkenntnis der Buddhaheit ist ihm innerlich zu eigen geworden; er lebt aus ihr und fühlt sich von der Buddhaheit getragen. Wenn der Boddhisattva nun die sechs Stufen erreicht hat, könnte er ins Nirvana eingehen. Aber er verzichtet darauf. Diesen Verzicht kann er nur mit Hilfe der Buddhas und der Großen Bodhisattvas leisten, die ihn durch überirdische Kräfte zu diesem Verzicht befähigen.
Auf der 7. Stufe nun, der "weitgehenden Stufe", praktiziert der Bodhisattva die Geschickte Anwendung der Mittel zur Erlösung aller Wesen. Er hat auf Nirvana verzichtet und setzt nun seinen Entschluss, alle Wesen zur Erlösung zu führen, in die Tat um. Er führt die Wesen zur vollkommenen Erkenntnis und leidet mit ihnen, durchlebt alle Elendslagen, um sie alle zu erlösen. Alle pädagogischen Kenntnisse und Fähigkeiten setzt er ein, um sie zu den Tugenden und zur vollen Erleuchtung zu führen; um alle Möglichkeiten des Mitleidens müht er sich. Um jedes Wesen zu erlösen, ist ihm auch jedes Mittel recht, das diesem Ziel dient.
Mit dem Eintritt in die 8. Stufe, die "unbewegliche Stufe", geschieht ein vollkommener Wandel im inneren Leben es Bodhisattva. Im tiefsten Grund des Bewusstseins findet eine "Umschaltung" statt. Der Geist hat sich nun völlig von allem Äußeren, von all den äußeren Wirklichkeiten, die nur Erscheinungen sind, und von allen Gedanken an ein Selbst gelöst. Der Bodhisattva ist geistig in die vollkommene Einheit der Buddhaheit eingegangen; er ist ins Reich des Absoluten, des Göttlichen, der Buddhaheit eingetreten, und lebt nun darin. Er lebt in der Einheit mit allen Wesen und damit in universalem Mitleid. All seine Entschlüsse und all seine Taten gewinnen nun weltweite Auswirkung, da sie ja aus der inneren Einheit mit der letzten Wirklichkeit fließen. Besonders sein Mitleiden und sein Streben, die Wesen zur Erlösung zu führen, besitzen weltweite Auswirkung. Ist der Bodhisattva der 8. Stufe noch ein Mensch? Ja, "der alte Körper fährt fort zu wirken", aber wie ein fremdes Ding, das man nicht spürt, das völlig getrennt ist vom inneren Kern, der in die mystische Einheit mit der Buddhaheit eingegangen ist. Es ist zwar kein biologischer Tod eingetreten, aber doch ein "unbegreiflicher Verwandlungstod", der sich auf der geistigen Ebene, auf der Bewusstseinsebene, im inneren Kern vollzogen hat. Die 8. Stufe könnte man vielleicht mit einem Zustand dauernder mystischer Entrückung vergleichen.
Die 9. Stufe, die "gut verstehende Stufe", geht noch weiter. Hier bekommt der Bodhisattva aus der Einheit mit der Buddhaheit und aus der der neu hinzukommenden Verbindung mit allen Buddhas die Kräfte und Wundermächte eines Buddhas, um die Wesen zur Erlösung zu führen. Er kann nun auch aus diesen Buddhakräften heraus alle Formen und Gestalten des Lebens annehmen, um mit den Wesen mitzuleiden und ihnen zu helfen. Die 9. Stufe schließt wohl auch den biologischen Untergang des alten Körpers des Bodhisattvas mit ein.
Mit der 10. Stufe, der "Wolke der Lehre", hat ein Bodhisattva die Buddhaschaft erreicht und wird der Buddhawürde teilhaftig.
In einem feierlichen kultischen Akt wird seine Buddhaschaft bestätigt.
"Hier wird sich der Bodhisattva auf einem lotusartigen Throne sitzend finden in einem pracht vollen edelsteingeschmückten Palaste und umringt von Bodhisattvas gleichen Ranges. Buddhas aus allen Budddhaländern werden sich um ihn versammeln und mit ihren reinen und duftigen Händen über seiner Stirn, werden sie ihm die Ordination erteilen und ihn als einen der ihrigen anerkennen. Dann werden sie ihm ein Buddhaland übergeben, das er besitzen und als sein Eigen betrachten möge."
Der Bodhisattva der letzten Stufe ist kein irdisches Wesen mehr, sondern wie ein Buddha vollkommen eins mit der Buddhaheit. Zwischen dem Bodhisattva, der über die zehn Stufen zur Buddhaschaft aufgestiegen ist, und Buddha, der immer ein überirdisches Wesen war, besteht kein wesensmäßiger Unterschied, aber dennoch liegt ein hauchzarter Abstand zwischen beiden.
"Wie eine Lampe von strahlender Helligkeit eine weniger helle Lampe an Leuchtkraft übertrifft, wie die Sicht bei vollem Tageslicht besser ist als in der Dämmerung, wie ein neugeborenes Kind sich von der Leibesfrucht unterscheidet, so übertrifft .... der Buddha den Bodhisattva …"
Der himmlische Bodhisattva steht den Menschen näher als ein Buddha; er ist ein Mittler zwischen den Menschen und den Buddhas. Sein ganzes Streben geht weiter dahin, die Menschen zu erlösen; er hilft den Menschen immer, wenn sie ihn anrufen. Mehr noch als einen Buddha flehen die Menschen den himmlischen Bodhisattva um Hilfe an und verehren ihn mit ihrem Kult auch mehr, da er den Menschen zugänglicher ist. Auch inkarnieren sich die himmlischen Bodhisattvas in die verschiedensten Daseinsweisen, um den Menschen durch ihr Mitleiden noch näher zu sein und ihnen so echter zu helfen. Avalokiteshvara, Mahasthama-prapta, Manjushri, Samantabhadra, Kshitigarbha, Akashagarbha sind die sechs Großen Bodhisattvas, die am meisten verehrt werden in den Ländern des Mahayana-Buddhismus.