Sudhana: Vieles von dem, was Deshimaru lehrte, hat sich für mich bestätigt. Es ist wie mit anderen Lehrern, die ich zustimmend erwähne oder zitiere. Die eigene Erfahrung deckt sich dann offenbar mit derjenigen der Lehrer. Da die eigene Erfahrung irgendwann als "tief" empfunden werden kann, erkennt man ggf. die des anderen als "tief" an. Das bleiben subjektive Kategorien (da es sowieso keine objektiven gibt), aber das ist ein legitimer Vorgang. Es führt in diesem Thread zu weit, betrifft aber sogar Details, die ich zunächst eher als esoterischen Unsinn abtat (z.B. wenn du Hilfe brauchst, bekommst du sie). Deshimaru lehrte das Feintuning der rechten Einstellung (hishiryo), aus der solche Wahrheiten erwachsen können. Er lehrte auch als einer der wenigen das Karma so, wie es funktioniert, vor allem, dass man es "abschneiden" kann (ich erinnere mich, wie eine Schülerin in seinem Gefolge, die von Nishijima später Nachfolge bekam, mir einmal schrieb, das sei aber nicht so einfach, blablabla, aber genau das, wie "einfach" es ist, lehrte Deshimaru treffend). Das Beste an Deshimaru ist im Übrigen, das man ihm nie begegnet sein muss, weil er über die gedruckten Texte präsent ist.
Was die Lesart von Liebe in einem buddhistischen Text angeht, sei dir das philologische Argument unbenommen. Allerdings scheinst du dich hier wieder bewusst kompliziert auszudrücken. Denn was ich da lese ist, dass der chinesische Text eine westliche Lesart von "Liebe" nicht hergibt. Und das sagte ich ja selbst, wobei ich agape nannte, weil ich davon ausging, dass diese weithin bekannt ist. Mit anderen Worten, ich habe vorausgesetzt, dass ein Buddhist "Liebe" so liest wie ein Buddhist und nicht wie ein Christ. Liebe ist dann selbstsüchtiges Begehren oder besser Anhaften (wie etwa im MPNS). Dass du dies mit "Anhaftung" besser übersetzt siehst - es sind nach diesem Verständnis zulässige Synonyme für mich - scheint ja letztlich sogar Einigkeit bei uns zu bedeuten. Ich könnte auch sagen, dass ich da wieder eine unnötig penible Pfennigfuchserei am Werk sehe. Das liegt daran, dass ich insbesondere bei Zentexten nicht den Eindruck gewann, dass sie Wortglaubereien Vorschub leisten wollen, sondern darauf abzielen, eine Kernaussage zu vermitteln. Diese lautet hier, dass man weder im guten noch im schlechten Sinne, um es salopp zu sagen, anhaften solle (und auch nicht "wählerisch" sein solle). Und das ist nach wie vor etwas überraschend, da die meisten Menschen ein "liebendes" Anhaften für in Ordnung halten.
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Stattdessen wurde von Morphos und Dir argumentiert, Liebe sei zwangsläufig mit Begehren verbunden.
Mit Anhaften, das fasst es besser. Schon Zuneigung, die über die Zuneigung zu anderen hinausgeht, reicht aus. Warum sollen wir bei einem buddhistischen Text nun ein paulinisches Weltbild diskutieren? Also muss ich das wieder so lesen, dass wir uns zunächst einig sind. Diese Liebe ist von Sengcan nicht gemeint. Er redet nicht von selbstloser, sich über alles gleichmäßig ausgießende Liebe, die nicht einmal Mutter Theresa gelang, wie wir wissen, und auch nicht jenem Papst, der eine heimliche Lieblingsfreundin hatte. Allerdings gehe ich davon aus, dass Sengcan davon auch deshalb nicht redet, weil er jene selbst-lose Liebe bereits als unmöglich durchschaut hat.
Dann kommen wir zum entscheidenden Problem. Du meinst, Bodhisattva-Praxis sei ohne die Werte dieser Praxis ja nicht möglich, wozu auch maitri und karuna gehörten, ich übersetze mal mit "liebende Güte" und "Mitgefühl". Und die könne Sengcan wohl kaum ausgeschlossen haben. Aber bei diesen handelt es sich ja dann, wie du selbst sagtest, eher um das, was im Abendland die "universale Liebe" ist. Ich sagte lediglich, dass diese dann aufgehoben ist, wenn man etwa in einer Partnerschaft lebt und einem Menschen besondere Liebe zuteil werden lässt. Abgesehen davon, dass ich niemanden kenne, dem universale Liebe ohne diese Ausnahme möglich ist, halte ich die Tatsache, dass die Menschen Ausnahmen machen, für den Gegenbeweis der universalen Liebe selbst. Das führt zu meiner schon geäußerten These - die hier ganz meiner Erfahrung entspricht -, dass die genannten Werte nur ein unrealistisches Ziel darstellen, dem man sich praktisch annähern kann, mehr nicht. Es ist falsch zu glauben, dass sie existieren, und zwar, weil es sich empirisch widerlegen lässt. Und das ist letztlich auch keine Diskussion um Personen, eben weil es keine Person gibt, die es schafft (ich weise nur gern darauf hin, wenn andere sich in Bezug auf einzelne Lehrer zu schöne Vorstellungen machen). Zum anderen ist es falsch im Abgleich mit dem, worum es im Zen wesentlich geht, wenn man von den Worten - ja, auch diesen Worten Güte und Mitempfinden - wegkommt.
Wesentlich geht es im Zen um die Erfahrung des Erwachens, die eine Auflösung jenes Ichs bedeutet, das Güte und Mitempfinden registrieren oder ausüben kann. Im Kern dieser Zen-Erfahrung gibt es weder paramita noch klesha noch karma noch brahmavihara noch pattica sammupada. Und ich glaube, dass das Xinxinming auf dieser Erfahrung beruht.
Auch brahmavihara sind Krücken (wobei das Theravada diese "himmlischen Verweilzustände" ja ebenfalls kennt). Um diese überhaupt irgendwie einschätzen zu können, bedarf es dualistischen Denkens und einer Wertung: Dies ist gleichmütig, jenes nicht usf. Für so etwas ist kein Platz in der Erfahrung von Satori. Aber da nähern wir uns einem Problem, das ja auch die Auseinandersetzung mit anderen Usern hier kennzeichnet. Wenn man an einen "Weg" der Tugend glaubt, mit dem man an den Kern des Zen herankommt, dann denkt man immer von diesen Krücken her und glaubt gewissermaßen an ihre absolute Existenz. Aber wie sieht denn 100%iges Mitempfinden aus? Wie 100%ige liebende Güte? Genau deshalb brachte ich noch den legendären Lebenslauf Sengcans ein. Denn wenn man tatsächlich erwartet, dass es einen kratzt, Güte und Mitempfinden zu leben, dann sollte man annehmen, dass er sich unter Menschen begibt und nicht in die Berge. Das gilt auch für die anderen brahmavihara, Gleichmut und Mitfreude. Oder soll es genügen, dass man sich gleichmütig beregnen lässt und mit Tieren, die nicht mal lachen können, freut? Es hat Sengcan also der Überlieferung nach offenbar nicht gekratzt, in diesem Sinne zu lieben. Jedenfalls nicht als Aufgabe, der er sich hätte stellen müssen. Sengcan kannte auch nicht das heute so populäre Verständnis des Bodhisattvaweges. Alles, was man dazu sagen kann, ist recht spekulativ, aber zumindest gibt es keinen Beweis dafür, dass er die Absicht hatte, sich in den Bergen "für den Marktplatz" zu schulen. Das sind alles Rückprojektionen. Dagegen sind die akademischen Kenntnisse des frühen Chan so weit gediehen, dass man davon ausgehen kann, damals hatten sich bereits jegliche Konzepte erledigt und waren genau so als Krücken durchschaut, wie ich es oben beschrieb.
Was schließlich die "Umdeutung" angeht - ich sah da ein Hintertürchen für das Verständnis, dass man ja schließlich doch anhaftend lieben könne, ohne mit dem Dharma in Konflikt zu geraten. Und dies glaube ich nicht. Der Konflikt entsteht aber, weil der Dharma hier im Irrtum ist und Unmögliches oder Unrealistisches postuliert, und darum ist der Dharma zu kritisieren, oder auch der Versuch, ihm durch die Hintertür gerecht werden zu wollen, statt klar zu sagen, dass anhaftende Liebe ihrer Berechtigung im Menschenleben hat. Und dass Satori im Zen nicht bedeutet, dass man hernach ein Leben ohne diese anhaftende Liebe führen müsse. Mit anderen Worten, die Realität eines Bodhisattva wird so aussehen, dass ihm - anhaftungsfreies - maitri und karuna überwiegend misslingen wird, während er sich in der anhaftenden Liebe bewähren kann. Und dies erfordert dann die Art von Revision des Dharma, für die ich argumentiere (neben dem Anliegen, das z.B. der Unbuddhist hat). Ansonsten habe ich die anderen Übersetzer eingebracht, um zu zeigen, dass nicht bloß ein Hobbyübersetzer - wie es dieser zitierte Osteuropäer war oder auch du, mit Verlaub, bist -, sondern namhaftere Sinologen oder Buddhologen ebenso übersetzt haben. Ob sie nun 憎愛 (zēng ài) als Synonyme von dosa und lobha, Hass und Begierde, gesehen haben oder man unterstellt, dass sie das trotz ähnlicher Kenntnisse der Ausgangssprache, wie du sie ins Spiel gebracht hast (also des terminus technicus), taten, da sie Sengcan so verstanden wie ich. Sie übersetzten dann sinngemäß in der - vielleicht falschen - Annahme, dass man Sengcan schon richtig verstünde.
Zitat
Wenn wir diesen Weg gesehen haben, sollten wir ihn als Standard nehmen, um unseren eigenen Weg daran zu messen. (Dogen)
Kein Zweifel, dass mein Weg der richtigere ist. Ich ziehe mich nicht in die Berge zurück und auch nicht ins Kloster wie Sengcan und Dogen. Ich befolge also Dogens Rat, aber es geht anders aus, als er sich das wohl dachte. Und deshalb lasse ich auch nicht "die Sache mit den Frauen los", denn jener Buddha hat seine verlassen, genau wie Deshimaru, und das ist eben nur bedingt vorbildlich, das ist kein nachahmenswerter Standard per se.