Natürlich sind wir nicht der Körper und wir sind auch nicht unsere sexuelle Identität, von einem philosophischen Standpunkt aus gesehen. Trotzdem gehört sexuelle Identität zu einer der Identitäten, die unser Leben bestimmen. Deshalb muss man sie auch beachten. Du kannst auch sagen "ich bin nicht meine Sprache" und den ganzen Tag durch eine deutsche Großstadt laufen und vietnamesisch sprechen. Dann wirst Du aber irgendwann an den Punkt kommen, dass Du im Alltag nicht voran kommst, wenn Du Dich nicht mit Menschen triffst, die ebenfalls vietnamesisch sprechen. Grundsätzlich hat jede Minderheit an Anrecht darauf, sich als Minderheit zu organisieren. Die Angehörigen der Mehrheit haben das m.E. nicht zu diskutieren oder zu bewerten.
Ich stimme zu, dass ich die von Dir angesprochenen Bewertungen oft problematisch finde. Was die Diskussionen angeht, passieren sie einfach. Es gibt queere Sanghas in vielen Ländern, beginnend mit den Staaten, in England, Frankreich, aber auch in Australien usw. usw. Und alle, mit denen ich gesprochen habe, haben mir gesagt, dass es Diskussionen geben wird. All diese Gruppen wurden in Frage gestellt. Nur reine Frauengruppen interessanterweise nicht. Das hat meiner Ansicht nicht nur mit der traditionellen Geschlechtertrennung in monastischen Gemeinschaften zu tun sondern auch damit, dass Männer es akzeptieren, wenn Frauen auch unter sich bleiben wollen. Umgekehrt nehmen sie sich in manchen sozialen Verbänden auch gerne das Recht heraus, ebenso so unter sich zu bleiben.
Ich finde das Phänomen, dass queere Gruppen in buddhistischen Zusammenhängen sofort hinterfragt werden, für sehr interessant. Warum findet das statt? Ich weiß es nicht. Ich glaube aber, dass es da (teilweise unbewusste) Befürchtungen gibt:
- Es wird als impliziter Vorwurf empfunden: "Sind wir etwa nicht inklusiv?"
- Man befürchtet eine Spaltung und unterstellt das sehr schnell - ohne nachzufragen. Und gerade das finde ich interessant. Steckt dahinter die Angst vor Verlust?
- Man bringt es schnell in die Nähe zu einem Lifestyle-Bindestrich Buddhismus der Art "Zen oder die Kunst meinen veganen Joghurt zu löffeln", um es einmal pointiert auf die Spitze zu bringen.
Ich will jetzt nicht sagen, dass dies in diesem Thread geschehen ist und ich will auch keine Motive unterstellen. Aber zwei Dinge finde ich tatsächlich interessant:
- Wieso kommen diese Fragen speziell bei queeren Gruppen so sicher wie das Amen in der Kirche?
- Wieso kommt eher selten eine Reaktion der Art: "Interessant, erzähle doch mal bitte mehr über die Gründe."
Ich weiß es nicht. Und ich will niemanden im Thread etwas unterstellen. Es ist eben so, dass ich ein Muster sehe, das ich noch nicht verstehe.
Und zum Schluss noch ein anderer Aspekt: Für einen Angehörigen einer Minderheit ist das nicht neu. Das Problem ist, dass jede Mehrheit (mich eingenommen, denn in anderen sozialen Zusammenhängen bin ich wiederum in der Mehrheit) eine Minderheit immer befragt, ggf. unbewusst. Bei einem Café konnte ich das sehen. Eine farbigen Frau bedient dort und ich habe bei jedem Besuch erlebt, dass sie gefragt wurde, woher sie denn käme. Sie antwortet im perfekten Dialekt der Region, dass sie hier geboren sei. Angehörige einer Minderheit müssen sich ständig erklären. Dieses Phänomen wird von Wissenschaftlern "Mikroaggression" genannt. Diese sind nicht böswillig und oft nicht bewusst, aber es sind immer dieselben Fragen, die irgendwann kommen. Psychologisch hat das zwei Effekte: Erstens fühlt man sich ausgegrenzt und zweitens finden sich viele Angehörigen einer Minderheit in ihrer Gruppe wohl, weil man sich einfach so akzeptiert und nicht erklären muss. Dieses führt dazu, dass sich Subkulturen bilden. Ich kenne nun viele Buddhisten die sofort aufhorchen und sofort Identitätsbildung des Geistes sehen. Das ist richtig, verkennt aber zwei Dinge:
- Diese Identitätsbildung kann auch ein Ort von Gemeinsamkeit, Aufbruch und Heilung sein. Gerade in der queeren Szene waren gesellschaftliche Verbesserungen nur möglich, da sich ein Netz von Hilfe- und Selbsthilfegruppen bildeten: Beratungsgruppen, Unterstützungsgruppen für spezielle Menschen in besonderen Situationen, z.B, die AIDS-Hilfe usw. usf. Es ist eben nicht so, dass die Identitätsbildung unreflektiert stattfindet. Gerade in einer diversen Community und in der Hilfe für andere Menschen reflektiert man sich oft sehr gut. Auch eine Gruppe kann helfen, dass "Ich" zu transzendieren oder dass man sich diesem zumindest bewusst wird.
- Interessanterweise sieht man die Identitätsbildung bei fremden Gruppen sofort und viel besser als bei der eigenen. Auch das ist eine Falle unserer Egos. So betrachtet man sich schnell als "normaler" Buddhist, fest verankert in einer Tradition. Zu sehen, dass es hier auch subtile Identitätsbildungen gibt, die teilweise nicht unkritisch sind, ist viel schwieriger. Jedenfalls habe ich das auch bei mir feststellen können, denn auch ich bin ebenso "normaler" Buddhist und identifiziere mich auch mit Traditionen, bin mir dem aber hoffentlich bewusst.
Das sind so meine Erfahrungen und Gedanken zum Thema. Vielleicht liege ich hier auch falsch und unterstelle ebenso Dinge. Aber allein die Tatsache, dass diese Diskussion so sicher auftaucht wie das Amen in der Kirche, zeigt, dass sie geführt werden sollte. Deswegen bin ich dankbar für alle Beiträge hier.
Und um ganz ehrlich zu sein, sehe ich das als gute Übung für meinen Gleichmut. Das gilt auch für die Phänomene, die ich "Mikroaggression" nannte. Wie häufig hat man mich gefragt: "Und wer von Euch ist die Frau?" Da diese Frage auch einen sexuellen Aspekt hat, empfinde ich sie als eher privat und wundere mich immer, wie schnell das gestellt wird. Aber die Frage zeigt doch, dass viele Menschen sehr stark in binären Kategorien denken und diesen meiner Meinung auch anhaften. Ich will jetzt nicht weitere Beispiele nennen, denn ich habe schon genug geschrieben. Es ist eben so, dass eine Minderheit von der Mehrheit immer hinterfragt wird. Es ist auch immer so, dass eine Minderheit für eine Mehrheit nicht die oberste Priorität besitzt. Damit muss diese Gruppe leben und das tut sich am besten mit einer Portion Gleichmut.
Zum Schluss hoffe ich, dass ich mit meinen Gedanken (und teilweise Spekulationen) niemandem auf die Füße getreten bin. Und ich sympathisiere auch mit Dir, weil Du diese Diskussion und Bewertung nicht willst. Aber ich glaube auch, dass sie in Teilen unausweichlich und auch notwendig ist.
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