Guntram Knapp:
Narzissmus und Primärbeziehung
Psychoanalytisch-anthropologische Grundlagen
für ein neues Verständnis von Kindheit
"Die wichtigste Erinnerung an ihre Kindheit betrifft ihre dauemde Einsamkeit. Ihre
Mutter war eine kaIte, abweisende, in der Ehe offensichtlich v611ig unbefriedigte Frau,
die ihren Mann leidenschaftlich haBte und zu ihm im Grund genommen auch keine se-
xuellen Beziehungen unterhielt. Sie ging wieder zur Arbeit und lieS die Patientin aI-
lein, als diese noch nicht einmal ein Jahr aIt war, und verstand es, durch ihre martyrer-
hafte HaItung bei ihrer Tochter ein Gefiihl der Schuld und der Verpflichtung zu erzeu-
gen. Als die Patientin 9 Jahre aIt war, wurden die Eltem geschieden. Sie erinnert sich
daran, wie sie von klein auf allein war, ohne Freunde und Spielkameraden. Wiihrend
der Schulzeit kam sie vom Unterricht nach Hause in eine leere Wohnung und muBte
sich, bis ihre Mutter von der Arbeit zuriickkam, mit sich selbst beschiiftigen. Nie fiihlte
sie sich so wie andere Kinder von einer Familie umgeben. Stundenlang sei sie spazieren
gegangen, habe in erleuchtete Fenster geschaut und sich Familien vorgestellt, die da-
hinter eintrachtig um einen Kamin saSen. Sie schamte sich wegen ihres eigenen schiibi-
gen, grauen und lieblosen Zuhauses und entwickelte Schuldgefiihle, weil sie sich
schiimte (Rangelll976, S. 27)."