Beiträge von Bebop

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    Dass man Kindesmisshandlung im mittelalterlichen Japan anders gehandhabt hat, ist dabei natürlich kein Kriterium.

    Ich will hier erst mal etwas wiederholen und deutlich machen: Damals waren diese Knabenlieben KEIN Kindesmissbrauch - den gab es sicher auch, aber nicht, wenn sich Personen zusammenfanden, die beiderseits Interesse bekundeten. Das ist heute per Definition schon anders, weil es Schutzaltersgrenzen gibt. Später sprichst Du von "Macht" - also damals waren diejenigen, die an der Macht waren, nicht daran interessiert, das zu bestrafen, wohl weil die Gesellschaft es tolerierte. Ein "Machtgefälle" zwischen Samurai und Zögling wurde aber hingenommen. Ich finde es wesentlich, sich ganz klar zu machen, dass unsere heutigen Standards schon bald nicht mehr gelten können und nicht immer gegolten haben.


    Hat Bhagwan (Osho) nicht offen seinen Sex-Kult betrieben? Und ich muss zugeben, auf der Pfanne hatte der auch was. Dann aber auch wiederum diesen Besitzeifer (die Autos z.B.). Bei mir ist es dann so, wenn ich zufällig auf so einen wie den Sadhguru auf Youtube stoße und höre, was der zuweilen für einen Scheiß erzählt, da interessiert mich schon kein Buch mehr von ihm, egal, ob der besitzlos ist und monogam lebt etc. Also ich entscheide rein nach dem, was ich als Erkenntnistiefe empfinde, und darum hab ich mir früher mal zwei Bücher von Osho gegönnt, obwohl ich ihn da bereits für einen Verirrten hielt - der aber eben auch etwas Wesentliches erkannt hatte. Wir sagen ja, dass Genie und Wahnsinn oft nah beieinander liegen, und er war m.E. ein Beispiel dafür.


    Ein Vorbild habe ich nicht gebraucht, ich hatte einen guten Vater. Was dann noch? Aber das kann nicht jeder von sich behaupten, und dann muss womöglich ein anderer her. Nach meiner Erfahrung wird man früher oder später irgendwelche menschlichen Schwächen bei jedem entdecken, und sogar, um genauer zu sein, man wird feststellen, dass man dies und jenes auch anders sieht, anders als der weise Lehrer. Für mich ist es wichtiger, Suchenden diese Illusion gleich von vornherein zu nehmen. Meines Erachtens hat die Nachfolge im Zen auch nie zum Ziel gehabt, große Vorbilder hervorzubringen, sondern Erwachte. Heutzutage gerät dieser Aspekt vor allem durch den Einfluss der Dogen-Adepten in den Hintergrund, da ist das Sitzen wesentlich und um Erwachen bzw. - so würde ich das lieber nennen - Erkenntnis macht man einen Bogen (oder man sagt, von der Erkenntnis müsse man auch noch lassen, lässt aber natürlich niemals vom Zazen ...). Vorbilder sind die, die lange und unbeweglich sitzen können. Also die, die entsprechend lange "trainiert" (geübt) haben. Früher schien mir zwar das Erwachen mit einer Weisheit einherzugehen, die aber keinesfalls den allgemeinen Normen entsprechen musste. Tatsächlich haben die Meister oft einen Eindruck hinterlassen, weil sie gewisse Charakterstärken hatten, aber auch, weil sie Regeln verletzen konnten. Das fing ja schon bei der Ausbildung an, bei der die japanische Höflichkeit flöten ging und man schrie und prügelte. Früher hätte man sich m.E. auch weniger um sexuelle Eskapaden geschert, denn es wird sie gegeben haben, wir erfahren aber fast nichts davon. Diese Aufregung ist also auch ein Zeichen unserer Zeit. Doch, Moment, mir fällt sogar ein Beispiel ein, der lebte wohl bis in die 60er-Jahre, angesehener Meister, zeitlebens stark sehbehindert, ein Säufer und Frauenheld, das verhinderte aber nicht seinen Rang in Japan (ich hab den Namen gerade vergessen, er steht im alten Zen-Lexikon), ich glaube sogar, er war der Lehrer von Zenkei Shibayama.


    Ich stimme deshalb auch Deiner modernen Deutung des Machtgefälles usw. nicht zu. Man kann ein Sesshin und Dokusan jederzeit verlassen. Dort begegnen sich erwachsene Menschen, und sowohl bei Shimano als auch bei Sasaki wunderte ich mich sogar über das Alter vieler "Betroffener". Und wenn Sasaki nichts zu lehren gehabt hätte (wie dieser Thay oder Polenski etc.), dann würde ich sagen, das Ganze ist nur wegen Kommerz oder anderer Interessen aufgezogen worden. Wenn aber Sasaki fürs Zen lebt, also Sesshin um Sesshin gibt, und in diesem begrenzten Lebensrahmen Sex sucht, dann ist das zweite eher die logische Folge des ersten. Sasaki hätte ja auch nach Thailand reisen können und es einfacher und sauberer geklärt haben können. Mag zwar sein, dass ihn das nicht reizte, aber Deinen Umkehrschluss kann ich nicht nachvollziehen. Bestenfalls war er schon immer Zen- UND Sex-Besessen. Und im Zen sehe ich da eben keinen Widerspruch, solange er damit so umgehen konnte, wie er es tat - nämlich die ziehen zu lassen, die nicht wollten, die Sache einzuräumen, als er damit konfrontiert wurde, und ansonsten gelassen und nicht-anhaftend sein Zen-Ding weiterdurchzuziehen (denn das hat er gemacht, als Totgesagter wieder schlucken gelernt usw.). Sein Verhalten in den Dokusan betrachte ich zwar als falsch, aber auch die Reaktion vieler, die nicht weggingen. Es ist mir zu einfach, diese Verantwortung der anderen Beteiligten kleinzureden. Ganz einfach, weil da mit hoher Wahrscheinlichkeit einige dabei waren, die sich insgeheim einen Sonderstatus und sogar Sex mit dem Meister erhofften. Ich habe so etwas selbst in der Szene speziell im tibetischen Buddhismus beobachtet. Und das kommt von dem gleichen Fehler, der Illusion, der Meister habe etwas Besonderes. Und wenn einer ausdrücklich davor warnt und die Frauen können dann doch nicht einfach ihm eine scheuern oder weggehen, dann sind sie mitverantwortlich, auch wenn er den Schwarzen Peter als Initiator behält. Wer allein als Frau zu einem "fremden" Mann in ein Zimmer geht (und dort bleibt), trägt Mitverantwortung. Alle diese Frauen haben gelernt, das man das nicht macht.


    Es gibt ja auch Sender, die Michael Jackson nicht mehr spielen. Aber seine Musik klingt für denjenigen, der sie mag, nicht anders als früher, es sei denn, man meint, seine Sexualität würde es einem moralisch verbieten, diese zu genießen. So ist das auch mit Sasaki. Niemand außer den Schülern - und NICHT Sasaki - hat gefordert, da müsse ein Vorbild sein. Das ist immer der Irrsinn der Adepten. Und das ist heute noch so, wenn sie zu Lehrern rennen, in der Hoffnung, das große Vorbild zu finden.


    Wofür soll denn ein Zenmeister noch als Vorbild taugen, außer für seine Einsichten (oder für sein Zazen)? Wenn man z.B. meinen Lieblingslehrer aus der Schule entlassen hätte, weil er sich an Schülerinnen rangeschmissen, hätte ich das zwar verstanden, aber auch bedauert und wäre nach wie vor dankbar für das gewesen, was er mir beigebracht hat. Denn das war seine Aufgabe, mir sein Fachwissen zu vermitteln. Und ich hätte ggf., da wir die letzte Jungenklasse waren - dafür plädiert, dass er uns doch weiter unterrichten könne. Genauso wird man auch einem Meisterkoch, wenn er wegen Kindesmissbrauch im Knast sitzt, den Zugang zur Küche nicht verbieten und als Insasse noch von ihm lernen können.

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    Das mit Sasakis Erbe hätte ich so heute auch nicht mehr geschrieben. Warum genau er keine Nachfolger genannt hat, weiß ich tatsächlich nicht und es ist mir ehrlich gesagt vollkommen Wurscht. Seine Linie ist aus meiner Sicht genauso tot wie die von Shimano, mit oder Nachfolger.

    Okay, ich werde mich - mit anderen - bemühen, dass das im Fall Sasaki nicht so ist, und was Shimano angeht, vielleicht nochmal ein Buch von ihm auflegen. Gerade weil die beiden tot sind, stellt sich die Frage nicht, ob ich sie als persönliche Lehrer aufsuche, sondern bestenfalls die, ob ich von ihren Texten oder Reden etwas lernen kann - was ja für alle bedeutenden Zenlehrer gilt, von Dogen über Linji bis Sawaki usw. Das ist der Punkt, wo wir uns grundlegend unterscheiden. Ich will meine Argumente mal anführen.


    1. Die Kategorie "Von wem habe ich etwas gelernt". Demzufolge sind mir diese Lehrer wichtig. Für TNH gilt dies nicht. Es hat zunächst also nichts mit dem Lebensstil der Lehrer zu tun, sondern damit, was sie vermitteln und wie sie es vermitteln. Ein anderer mag das genau umgekehrt sehen. Diese Kategorie ist dennoch von Bedeutung. Ich frage nicht, ob Laotse auf Lolitas stand. Wenn ja, hätte er einfach Glück gehabt, dass es niemand notierte.


    2. Die Kategorie "Eine Linie ist dann nicht tot, wenn du sie aufleben lässt". Ich habe das auch in Bezug etwa auf die von Yunmen etc. gesagt: Wer sich Yunmen zu eigen und zu seinem Lehrer macht, belebt seine Linie. Ein "tote Linie" ist also - neben einer rein akademisch-historischen Festlegung - auch eher eine subjektive Wertung.


    3. Die Kategorie "Leid verursachen": Im Falle Sasakis und Shimanos habe ich mir die Archive ganz genau angesehen, und für mich bleibt da nichts Justiziables übrig, also bewegen wir uns hier auf dem Feld einer weniger allgemein gültigen Moral (wie es das Gesetz wäre), sondern spezifisch buddhistischer oder anders motivierter Betrachtungen. Um welches Ausmaß von Leid geht es da, dass jemanden nicht mehr "zitierfähig" machen soll? Sasaki hat schon sehr früh in den USA davor gewarnt, ihn auf einen Sockel zu stellen. Und er hat später nicht nur seine sexuellen Neigungen eingeräumt, sondern seine Sangha hat weibliche Neulinge ausdrücklich auf diese Eigenart hingewiesen. Deshalb gibt es auch eine gestanden Psychologin, die sich z.B. auf ein Verhältnis mit ihm bewusst einließ und dies in einem Buch beschreibt. Es ist jedenfalls kaum vorstellbar, dass irgendjemand, der sich sexuell auf welche Art auch immer austobt, kein Leid erzeugt. Es muss also einen Maßstab geben für diese von Dir genannte Ausgrenzung. Einer wäre ein Gesetz, wie es Döring zum Verhängnis wurde. Dann aber könnte man - auch im Sinne dieses Gesetzes - nach Haftstrafen die Sache als abgebüßt betrachten. Döring hat also eine neue Chance verdient. Selbst Shimano und Sasaki wurden auf ihre Weise abgestraft, teils materiell und durch Wegbrechen von Teilen ihrer Sangha.


    4. Das leitet über zur Kategorie "Wer darf Dharma-Nachfolger werden?" Du unterstellst z.B., dass ein Pädosexueller überhaupt kein Dharma-Erbe antreten solle. Dazu kenne ich keine stich- und standhaltige Regel. Sehr wahrscheinlich wurde sogar in Japan, wo ja unter den Samurai eine ganze Zeitlang Knabenliebe praktiziert wurde, auch von Zen-Meistern nichts dergleichen verurteilt, bis es eben der Zeitlauf und die Gesellschaft anders sahen und ggf. noch Gesetze es verboten haben. Aus einer bestimmten feministischen Ecke (Schwarzer etc.) wäre auch Ikkyus Gang zu Prostituierten heute so zu werten. Ein Dharma-Erbe sollte also keiner werden, wenn er sexuelle Schwächen wie diese hat? Was ist mit den anderen Schwächen, welche sind noch erlaubt? Ist das nicht genau der übliche Fallstrick, den Meister auf einen zu hohen Sockel zu stellen?


    Mit anderen Worten: Was uns unterscheidet ist meine Auffassung, dass ein Zenlehrer dann für mich Sinn macht, wenn er etwas erkannt hat, was mich weiterbringt und was er mir vermitteln kann. Am Besten per Text oder Rede. Diese bleibt auch dann zitierfähig, wenn sein Verhalten zu wünschen übrig lässt. Bei dieser Verhaltenskritik sollte mir aber bewusst sein, wo ich selbst Ansprüche stelle und was mich etwas angeht. Das Sexualleben anderer geht mich im Grunde nicht viel an. Besitzverhältnisse oder die ungerechte Verteilung von Reichtum allerdings schon. Ich habe festgestellt, dass ich als jemand nahe an der Armutsgrenze durchaus einen Weg finden kann, ohne das schmierige Getue dieser Zenmeister eine gewisse Befriedigung zu erreichen. Tatsächlich könnte ich mir sogar einreden, dass es wahrscheinlich nur wenige Reiche gibt, die ein besseres Sexualleben haben als ich. Und dass ich sogar sexuell leben kann, während ich loslasse, also Zen praktiziere. Ich glaube allerdings - aufgrund meiner eigenen Praxis -, dass Besitz von Ländereien, Immobilien, Materiellem diesem Loslassen eher hinderlich ist. Darum ist bei meiner Kritik dieser Punkt moralisch bedeutsamer. Und natürlich die unter 1. erwähnte Erkenntnis. Es ist also so, dass TNH zwar mehr Erkenntnis und Wissen besaß als der Thich von Phat Hue, aber sie geben mir beide als Lehrer nix. Beide streb(t)en zwar auch nach Materie. Doch sind sie für mich bereits als Lehrer erledigt, noch bevor ich ihre Charakterfehler feststelle. Ob dann noch einer dazukommt (sexuelles Fehlverhalten), ist ggf. nicht sehr bedeutend, denn sie sind nicht "zitierfähig", weil sie in meinen Augen Dünnschiss lehren. Eine weitere wichtigere Kategorie als das Sexualleben ist für mich die Glaubwürdigkeit, mit der sie das dokumentieren, was sie behaupten zu sein (TNH ein autorisierter Thien-Lehrer usf.). Denn damit wollen sie sich ja als Lehrer ranschmeißen. Hier beginnt bei sehr vielen von mir zuvor Genannten bereits die Heuchelei, und die ist von ganz ähnlicher Natur wie die derjenigen, die ihre sexuellen Eskapaden unter den Teppich kehren wollen.



    Der Vollständigkeit halber will ich zwei Dinge ergänzen, zum einen, dass ich vor einigen Jahren im Schlussspurt der Förderungen von der Robert-Bosch-Stiftung einen Antrag stellte, TNHs Vorleben in Vietnam zu recherchieren, u.a. auch nach jenem Kind zu suchen und seine Verwicklung in die kommunistische Strategie und die Verantwortung von Mönchen für das Massaker in Hue (wo auch Deutsche starben). Der Antrag wurde nicht bewilligt, und dann kam ja auch Corona. Jedenfalls würde ich sagen, das ist ein Thema für einen investigativen Journalisten, so wie es im Kleinen damals auch der Fake-Shaolin-Tempel in Otterberg war und der Thay aus Frankfurt, was die Presse ggf. etwas spät erkannte. Ich hoffe, dass sich da nochmal jemand dahinterklemmt. Für mich sind ist der Kommunismus ein Krebsgeschwür, das insbesondere in Ostasien weiter wuchert, und ich würde jeden, der dazu beitrug, auch unter den Verdacht des "Leidverursachens" stellen. Diese subjektiven Kategorien spielen dabei eine Rolle, wen man am liebsten an den Pranger stellt. Aber die kann man ja diskutieren.


    Zum anderen glaube ich, dass Du - wie viele in Sasakis Sangha - seine Lehre nicht auf die gleiche Weise verstehst wie ich und deshalb "sich an eigenen Schülerinnen zu vergreifen" (ich ergänze: an erwachsenen Frauen) "seine angebliche Erkenntnis im Kern" träfe. Ich will deshalb kurz skizzieren, was Sasaki z.B. über uns als Menschen und auch über sich sagte: a) Wir bewegen uns von Egolosigkeit zu Ego und wieder zurück, mit anderen Worten: Es ist völlig abwegig, dass einer, auch ein Sasaki, keine Fehler hat oder permanent selbstlos ist. b) Wenn sich eine Gelegenheit ergibt, Liebe oder Zuneigung zu zeigen, dann ergreife sie. c) Glaube bloß nicht, der Lehrer sei etwas Besonderes. - Wenn ich allein diese drei Dinge - als Ausschnitt seiner Lehre, wobei a) ein wesentlicher Kern ist - geschluckt habe, inwiefern ist dann die sexuelle Annäherung an erwachsene Frauen in seiner Sangha ein Widerspruch zu seiner Erkenntnis? Es ist mehrfach bestätigt worden, dass Sasaki eine Frau nicht weiter behelligte, wenn sie klar Abneigung gegen sein Verhalten zeigte. Natürlich können wir uns wünschen - und hoffentlich selbst praktizieren -, dass er auch noch erkannt hätte, d) in der eigenen Sangha wildere ich nicht. Wer das will, der kann sich eine Sangha mit einer solchen Regel suchen und schauen, ob es dort funktioniert.


    Ich komme auf den Fehler "Lehrer auf den Sockel stellen" zurück: Man sollte auf Lehrer also nicht projizieren, was sie gar nicht gelehrt oder erkannt haben. Sasaki hat das Menschsein als genau so fehlerhaft erkannt wie er es selbst lebte und wir es - auf unsere je eigene Art - auch tun. Das ist für mich einer seiner Augenöffner. Andere mögen zwar glauben, insbesondere mit Bezug auf die Buddha-Figur, ein Lehrer habe moralisch einwandfrei zu sein. Aber das ist zumindest nicht, was Sasaki lehrte, sondern eine Wunschvorstellung, vor der er selbst schon früh warnte. Sasaki kannte sich, er war in Japan u.a. auch deshalb wegen Veruntreuung von Tempelgeldern verurteilt worden, weil er das Geld mit einer Geisha durchbrachte. Schon damals hat Sasaki ohne Zögern vollumfänglich gestanden. Das heißt, er hat auch im Versagen - und später im Knast - Zen praktiziert.

    Auch ich kannte Christophers "Geschäftemacher"-Beitrag noch nicht oder hatte ihn nicht mehr auf dem Radar. Ein paar Worte dazu.


    Es werden plakativ und passend zu dem Thema dieses Threads materielle und sexuelle Gelüste von Zenmeistern in Verbindung gebracht und die üblichen Beispiele genannt. Dagegen gesetzt werden bekanntere und unbekanntere Zenlehrer, denen man Bescheidenheit und keine sexuellen Skandale nachsagte. Ich finde das zu unterkomplex. Zum einen wissen wir, dass manches Fehlverhalten nie entdeckt wird. Wir können nicht sagen, nur weil wir es von bestimmten Menschen nicht wissen, ob sie ihre Ehefrauen betrogen usf. Wir wissen im Einzelfall nicht einmal, ob sie dazu körperlich überhaupt in der Lage waren. Was wir wissen ist, dass auch ein in diesem Licht anständig dastehender Shunryu Suzuki mit Richard Baker einen luxusgeilen Nachfolger wählte. Warum? War Suzuki ein lieber Kerl, aber nicht weise genug? Jedenfalls hat der Baker Roshi, wenn ich mir anschaue, was ich von ihm lesen kann, nicht so Ansprechendes hinterlassen wie der mit ihm verglichene Eido Shimano. Demzufolge gibt es keinen zwingenden Zusammenhang von Erkenntnistiefe und mangelndem Fehlverhalten. Ein recht gescheiter Zenlehrer kann sich danebenbenehmen, ein schlichter Geist auch, und beide können auch eine relativ saubere Weste haben. Da kann man mit allem rechnen.


    Das wird noch deutlicher am Beispiel Joshu Sasaki, dessen Unermüdlichkeit bis ins hohe Alter ja auch bedeutet, dass er sich 50 Jahre länger als Suzuki ins Zeug warf. Und die meisten Dinge, die ihm vorgeworfen wurden, stammten aus einem Alter, das Suzuki gar nicht erreichte. Etwas schwierig finde ich da auch die Vermutungen zu Motiven, warum da niemand zum Nachfolger ernannt wurde, denn Sasaki hatte wie Shimano eine Ehefrau (die im Falle Sasakis nach seinem Tod noch lebte), und wenn man nicht weiß, wie das materielle Erbe geregelt wurde, dann sollte man da vorsichtig sein. Jedenfalls scheint seine Sangha sich durchaus seiner "Immobilien" bedienen zu können.


    Der umtriebigste unter allen war aber Thich Nhat Hanh, niemand kommt an dessen Einnahmen und Spenden heran. Während Sasaki all seine Schriften bis auf ein Heftchen zerstörte (das kümmert seine Nachfolger natürlich wenig ...), schrieb der TNH einen Kommentar nach dem anderen (oder ließ ihn schreiben). Es scheint, er hat eine saubere Weste in sinnlichen Dingen, allerdings habe ich mehrfach von Vietnamesen gehört, er habe ein Kind in Vietnam, und zwar mit seiner Dauergefährtin in Plum Village, die nun auch die Finanzen kontrolliert. Dies wurde auch von dort nie dementiert, als ich sie damit öffentlich im Web konfrontierte. Nehmen wir mal an, das stimmt - was ist da nun eigentlich verwerflicher? Welches Ausmaß an Akkumulation von Ländereien, welche Art von Heuchelei etc.? Jedenfalls ist DAS DER Multimillionär unter den "Zen"-Lehrern und sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, zumal etliche Prominente wie Luther King ihm aufsaßen.


    Und noch wichtiger: Es gab andere, die zwar kleine Brötchen buken, aber doch in "Skandale" verwickelt waren (ich würde Katagiri dazuzählen). Also das eine hat mit dem anderen nur bedingt zu tun, auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, dass jemand, der zu Geld kommt (falls das nicht sowieso sein Motiv ist), das dann nicht auch für sinnliche Genüsse in der Mehrheit der Fälle ausgibt.


    Und dann der Polenski, der der von mir als "Rei-Bande" bezeichneten Gruppe (Hatlapa und Co.) von den Wurzeln her nahesteht. Die gingen zu einem Zenlehrer, der auch die 100 erreichte und mit Geld um sich warf (das bestätigte mir sogar Muho). Ebenso freigebig und naiv war er mit "Lehraufträgen", wobei sich die Beauftragten nicht sicher sein konnten, welchen Rang sie eigentlich hatten, und sich dann überwiegend kurzerhand zu Roshi erklärten. Soweit ich weiß, ging es da nicht wesentlich um Sex, der japanische Lehrer hatte einen ganz guten Ruf (Freigebigkeit ist ja an sich auch nichts Übles), aber was ist da nun bei herausgekommen?


    Wie gesagt, im Umkehrschluss würde ich fragen: Egal wie charakterfest die Meister waren, wenn sie sich solche Leute als ihre Stellvertreter heraussuchten, mangelte es ihnen wohl doch etwas an Weisheit und damit auch an "Meisterschaft".

    Mit meinen Mitte 20 ist es vielleicht in gewisser Hinsicht normal, die eigene Partnerin oder andere Frauen im gleichen Alter attraktiv zu finden. Doch verwehre ich mir das häufig, weil ich Angst habe, durch das Anhaften schlechtes Karma zu erzeugen, meine buddhistische Praxis zu ruinieren und als Tier oder Preta (Hungergeist) wiedergeboren zu werden. (...)


    Wie kann ich Sexualität auflösen bzw. so drosseln, dass ich nicht mehr davon bewegt werde? Ich habe das Gefühl, ein miserabler Praktizierender zu sein, solange ich das nicht unter Kontrolle habe. :nosee:

    Der Gautama Buddha hatte einen Harem aus Freudenmädchen und gestattete sich dazu eine Frau, mit der er ein Kind zeugte. Dies alles, bevor er dann schlaue Sprüche von sich gab. Wenn du dir alles entsagen willst, statt erst einmal deine Sexualität auszuleben, würdest du also schon mal gar nicht seinem Beispiel folgen. Du wärest eher wie einer, der sich von denen, die alles hatten, ausreden lässt, dass da vielleicht doch etwas dran sein könnte.


    Die Besessenheit der alten Sangha vom Sex kannst du übrigens im Vinaya erkennen, dem Ordenskodex, wo man sich die seltsamsten sexuellen Betätigungen vorstellte, an die ein Durchschnittsmensch nicht mal denken würde (wie ein Loch in die Erde machen und dieses dann penetrieren), um solche dann zu verbieten. Das ist die Folge von Enthaltsamkeit - starke Fantasien und Leiden sowie das Verkümmern einschlägiger Muskeln.


    Deine Sexualität wird sich von selbst drosseln, wenn du alterst.


    Wieso lässt du dir was von Tieren oder Hungergeistern einreden? Welche Strafe sollte das auch in Bezug auf Sexualität sein, wo doch gerade Tiere in dieser Hinsicht oft machen, was sie wollen (siehe Affen)? Wie sollte jemand, der sich sexuell austobt, dadurch bestraft sein, dass er sich im kommenden Leben noch mehr austoben darf? Das alles ist in den Bereich des Aberglaubens zu verweisen.


    Stattdessen schlage ich vor, dass du auf deinen Körper hörst, während du dich im geistigen Loslassen übst. In einer gesunden Mischung daraus wird sich m.E. ein zufriedenstellenderer Lebensweg ergeben als in der Abstinenz. Es gibt zahlreiche Berichte des Scheiterns von katholischen Priestern und so gut wie keine überzeugende Darstellung eines lust-freien Lebens - das Thema wird dann nämlich lieber ausgespart. Aus Gefängnissen ist von Heterosexuellen berichtet worden, dass sie - ohne sich als homosexuell zu empfinden - zwecks reiner Lustbefriedigung Notgemeinschaften mit Gleichgeschlechtlichen bildeten (was auch in den Klöstern geschieht, aber dort ist es dann Heuchelei). Eventuell zieht es auch Menschen, die sich ihre Homosexualität nicht eingestehen wollen, zunächst in einen Orden. Da könnte es besser sein, sich vorher erst mal Klarheit zu verschaffen.


    Die Praxis führt m.E. idealerweise zur Fähigkeit des Loslassens. Indem ich nicht ständig bekommen muss, wonach mir die Sinne stehen, sondern auch davon lassen kann, werde ich freier. Diese Praxis lässt sich konkret auch in einer Beziehung einüben, wo es ständig zu Situationen kommt, wo man von sich absehen und zurückstehen muss. Das ist kein schlechteres Übungsfeld als ein Orden. Die sexuellen Ansprüche des eigenen Wesens behalten ihren Normalcharakter statt dualistisch abgewertet zu werden.

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    Die Lehrer sie alle haben ein Ich gehabt, nur keine Anhaftung mehr daran, keine Illusionen, dass es eine Persönlichkeit gibt.

    Aber sie haben die ganze Zeit mit dieser Persönlichkeit gelehrt. Was sie glauben ist etwas anderes als das, was sich zeigt. Die Anhaftung an die Persönlichkeit ist dann am offensichtlichsten, wenn man sich z.B vor andere setzt und lehrt, also sich in der Position wähnt, mehr als diese anderen zu wissen und zu verstehen. Und wenn man z.B entscheidet, wer von den anderen es wert ist, ein "Nachfolger" zu sein.

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    ganz ohne ein Ich- Denken, ohne Illusionen an eine Persönlichkeit sein können. Das wäre bei einem Buddha so. Dass es dann ganz verschwinden kann. Wie das dann genau ist, wie man dann die Welt sieht und sich, das weiß nur ein Buddha.

    Das wird zuweilen so wiedergegeben. Aber würde denn einer ohne Ich-Denken ein Regelwerk für andere erfinden wollen? Würde jemand ohne Ich-Denken genau diesen Charakterzug haben, sich für so wichtig zu halten, dass er anderen sagen muss, wie sie zu leben haben? Wir wissen doch, wie der Buddha die Welt sah, als Leiden an Geburt, Alter, Krankheit und Tod. Geburt und Tod sind zwei Dinge, auf die wir offensichtlich keinerlei Einfluss haben, aber dazwischen spielt sich die Ich-Werdung und -Behauptung ab (die sich beim Buddha in der Hinterlassenschaft seiner Lehre zeigte). Die ganze buddhistische Lehre funktioniert nur innerhalb dieser Ich-Vorstellungen und mit Blick auf den Tod. Ein ewiges Bewusstsein leidet nicht am Tod. Der Gautama litt am Tod (der Endlichkeit). Wenn wir unterstellen, dass er dieses Leiden (als Buddha) aufgehoben hat, sollten wir uns m.E. fragen, inwiefern. In dem klassischen Vermächtnis - also etwa den vier Edlen Wahrheiten oder dem Achtfachen Pfad - ist das jedenfalls nicht zu erkennen, diese beruhen auf der Ich-Sicht eines am Tod Leidenden. Meines Erachtens kann man also nur ein temporäres Erwachen unterstellen (wie bei anderen Adepten und ggf. bei uns auch), mehr lässt sich leider durch seine Lehre nicht belegen. Und das scheint eher eine Art Vorgriff auf einen Zustand zu sein, der mit dem Ende des Ich-Bewusstseins sowieso eintritt, also mit dem Tod. Wenn man nicht jenen Spekulationen über Höllen etc. glauben will, dann ist also wahrscheinlich, dass sich für jeden mit dem Tod derartige "Probleme" erledigen. Davor kehrt jeder in seine Ich-Haftigkeit zurück. Das ist der Regelzustand, selbst wenn er als Lehrer etwas auf einem Sesshin erzählt. Für Außenstehende sieht das, wie ich immer wieder höre und lese, oft anders aus, aber ich sehe da Projektionen und kann das selbst nicht nachvollziehen. Ich sehe lauter Ichs, auch wenn sie Suzuki, Sawaki oder Sasaki heißen, oder wie auch immer.

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    Also ich wollte nur sagen, dass wir Erlebnisse haben können ohne dieses Ich. Und einer der so befreit ist, dass er immer ohne Ich ist, würde noch Körper haben, aber die anderen Skandhas nicht mehr ?

    Wer etwas erlebt, hat Bewusstsein, und es ist ein Ich-Bewusstsein, das mit dem Wissen um die Sterblichkeit erlebt.

    Und wenn dieses Bewusstsein unsterblich sein soll, dann ist es ja eben kein solches Ich-Bewusstsein mehr (dessen einziges wirkliches "Problem" ja gerade die Sterblichkeit darstellt), es hat überhaupt nicht die Schwierigkeiten, von denen der Buddha sprach (Krankheit, Alter, Tod), die buddhistische Lehre ist sinnlos für ein solches Bewusstsein.

    Ich kenne die Motive all derjenigen nicht, die im Mahayana ein Selbst etablieren wollten, das ja deshalb noch lange nicht mit unserem Ego übereinstimmt. Aber aus heutiger Sicht, und wenn ich mir so anschaue, was zuweilen an Metaphern gelehrt wird, denke ich doch, man sollte diesem Aspekt mehr Aufmerksamkeit schenken.


    Kürzlich hörte ich, wie ein Zen-Lehrer auf eine Frage hin erklärte, wie er mit seiner Angst umgehe. Er sage sich, dieser (dann nannte er seinen eigenen Namen) habe dann eben Angst, das sei auch okay, aber das sei ja nicht er. - Für mich hatte das Anklänge an Schizophrenie, auch wenn es sicher nicht so gemeint war. Der Zen-Adept meint eben oft, er könne sich nicht mit seinem "Ich" identifizieren - dann "bin nicht ich es", der Angst hat. Als Trick mag das angehen, aber m.E. ist die Tathagatagarba-Tradition eher einem Verdacht geschuldet, dass es so nicht ganz richtig ist. Mit anderen Worten: Wir brauchen in diesem Leben zunächst ein Ich (Selbst) und eine Ich-Identität. Jeder Versuch, diese temporär aufzulösen, bietet einen Vorausblick auf das, was Tod ist oder ggf. auch Unsterblichkeit, denn in beiden Fällen existiert dieses Ich-Bewusstsein ja nicht mehr (es ist unabdingbar mit dem Wissen um die Begrenztheit des Lebens verknüpft und kann im Falle von Unsterblichkeit nicht sein). Insofern ist da gar kein Widerspruch, denn dieses ewige Selbst, von dem hier die Rede ist, kann demnach keine unsterbliche Seele oder dergleichen sein, weil sich darin Ewigkeit und Ich-Identität ausschließen. Ein Ich existiert nur - aber dann auch zwangsläufig - im Angesicht des Todes. Was ewig ist, kann nicht Ich sein.


    Viele Zen-Adepten meinen aber, das, was sie tun oder lehren, sei nicht mehr "ich" - und darin täuschen sie sich m.E. gewaltig. Das, was sie zuweilen erfahren, die Ich-Losigkeit oder, um eine beliebte Metapher zu wiederholen, das Sterben ihres Ichs (auf dem Kissen), ist quasi nur ein Vorgeschmack auf den sowieso unausweichlichen Tod jedes Ichs jeder individuellen Existenz. Aber solange sie leben, sind sie alle "Ich", und dieses Ich hat Angst und niemand außer diesem Ich. Und da ist kein anderer, der keine Angst hat und das angstvolle Ich beobachtet, sondern der ängstliche Mensch sieht sich selbst kritisch an. Bis die Angst wieder vergangen ist. Auch derjenige, der "Zeichenlosigkeit" beschrieb und die Leerheit der Phänomene, war ein "Ich" und tat das als "Ich". Auf der Grundlage einer Erfahrung zwar, so können wir unterstellen, der Ich-Losigkeit, die jedoch nur temporär war und die möglichst häufig wiederholt werden wollte, ehe sie sich mit dem Tod von selbst verwirklichte. Diese Erfahrung war - und das bestätigen ja etliche Schilderungen davon - keinesfalls "zeichenlos", sondern der Adept wurde - früher oder später - den Verdacht nicht los, dass daran ein (allumfassendes) SELBST beteiligt und eine Art Glücksgefühl vorhanden war. Und das kann man dann so formulieren wie in diesen Sutren.

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    , aber es gibt keine Entschuldigung bzw Ausrede für den Fleischkonsum

    Die Frage ist doch, wer meint, so etwas zu brauchen, eine Entschuldigung oder Ausrede. Das ist jemand, der moralisiert und Leuten ein schlechtes Gewissen machen will. In dem Artikel wird das Hauptproblem, die Überbevölkerung, nicht genug berücksichtigt. Nicht der Fleischkonsum ist das Problem, sondern dass es zu viele Menschen gibt. Diese Vermehrungsmanie ist auch ein Ausdruck von Gier und Egoismus. Dazu kommt eine ebenfalls fragliche Unterstellung: Dass es dieser Überbevölkerung gestattet sein soll, zu überleben.

    Ich will jetzt mal ein paar bedenkenswerte Passagen aus dem ersten Teil des Sutras zitieren.


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    Die Ansichten, die nicht nicht-verifizierend sind[1], die zweiundsechzig Ansichten, das Entstehen und Vergehen der fünf Aggregate, die Seele, das Subjekt, sind in ständiger Bewegung, ziehen sich zusammen und dehnen sich aus, ohne Empfindung und ohne karmisches Erzeugen, ohne Anhalten und ohne Bindung. Zu diesem Zeitpunkt betritt man den direkten Pfad der Leerheit.


    [1] satkāya-dṛṣṭi.

    Die Vorstellung von Zusammenziehen und Ausdehnen findet sich besonders in Teisho von Joshu Sasaki wieder.

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    Man erfährt illusorisch karmische Wirkungen, aber nichts wird durchgemacht. Daher erlebt man eine äußerst tiefgreifende geistige Befreiung. (Der tiefgründige geistige Zustand)

    Dies ist eine Art zu beschreiben, wie Karma aufgehoben wird.


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    Im Geist, der aus der Leerheit hervorgeht, mit einem Pfad und einer Reinheit, macht man niemals Rückschritte von dem einen Pfad und der einen Erleuchtung. (Der mentale Zustand von Nicht-Rückentwicklung)

    Ein interessanter Hinweis zur Frage, ob man aus der Erleuchtung wieder herausfallen kann oder wie eigentlich als erleuchtet Erkannte sich dann noch danebenbenehmen können.


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    Wenn man die Erlangung der Buddhaschaft für sich selbst erkennt, [kann man sagen, dass] alle Buddhas die gleichen sind wie man selbst (Der zeichenlose mentale Zustand)

    Das führt immer wieder zu Reibereien in Foren. Sagt einer: "Ich bin Buddha", folgt ein Flamewar.


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    Wenn man in die Grundlagen der beiden Wahrheiten eindringt, sind sie weder eins noch zwei, und es gibt keine Aggregate, Elemente der kognitiven Aktivität oder Wahrnehmungs­felder. (Der mentale Zustand der Weisheit)

    Letztlich ist auch Nagarjunas Ansicht der zwei Wahrheiten zu überwinden, sowie etwa die der skandha.


    Zitat

    Durch das Ergreifen von Verlangen, Selbst, Ansichten und Geboten entstehen Gut und Böse in der Existenz. Der Beginn des Bewusstseins wird Geburt genannt, das Ende des Bewusstseins wird Tod genannt. (Der Grund der Leuchtkraft der Essenz)

    Klingt fast taoistisch: Erst das Ergreifen der Gebote schafft gut und böse. Und tot heißt: Ende des Bewusstseins.


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    Doch jedes fühlende Wesen hört ent­sprechend seinen besonderen spirituellen Neigungen den Dharma, den es hören möchte. (dito)

    Da hat man uns hier bereits durchschaut.


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    Im Dharma des Gipfel-Samādhi gibt es die Duldung der überragenden Glückseligkeit, das dauerhafte Erlöschen ohne Verweilen. Daraufhin betreten sie alle Buddha-Länder und kultivieren sich in der Kategorie der unzähligen Verdienste, wobei jede Praxis leuchtend erstrahlt. In die Anwendung von geschickten Mitteln eintretend, erleuchten sie alle fühlenden Wesen und ermöglichen ihnen, eine Vision der Beständigkeit, der Glückseligkeit, des Selbst und der Reinheit der Buddha-Natur zu erlangen. (Der Grund der Erkennbarkeit der Essenz)

    Hier der Hinweis auf jene Mahayana-Tradition, in der Buddha-Natur Eigenschaften hat: Beständigkeit, Glückseligkeit, Selbst (!) und Reinheit.

    Die "hundert" und "tausend" sind wahrscheinlich eine Metapher, weil es nicht genau 100 oder 1000 gegeben haben wird. Man kennt das ja von anderen Berufen, von denen man die Finger lassen soll, z.B. vom Alkohol- und Waffenhandel. Wie genau sich das die Schreiber vorstellten, weiß ich nicht, denn sie waren ja zuweilen auch auf Heilkünste angewiesen (oder auch auf den Schutz von Bewaffneten).


    Wenn ich Arbeit nur für Entlohnung erledige, ist das Problem wohl, dass sie mir kaum Spaß machen wird. Die Krux mit der Zielgerichtetheit ist eine andere. Wenn ich z.B. daran arbeite, ein Medikament für eine tödliche Krankheit zu entwickeln, dann brauche ich diese Zielgerichtetheit. Dieser Aspekt fehlt auch in Sawakis Metaphern fürs Zazen. Es braucht im Kopf auch eines Zazennies irgendeine Vorstellung des Hinsetzens, ehe er sich setzt, also einen Gedanken, z.B. "Ich gehe jetzt um 4 Uhr früh ins Dojo zum Sesshin." Das ist bereits Zielgerichtetheit. Das andere wäre eher ein Wunsch nach Belohnung. Aber selbst das ist komplexer. Denn selbst wenn der Wissenschaftler nur deshalb das Heilmittel entwickelt, weil er den Nobelpreis will, ist seine Leistung dennoch von erheblicher Bedeutung, und man müsste dem Nobelpreis sogar dankbar dafür sein, dass er diese Gier auslöste. Ich bin davon überzeugt, dass ein paar durchaus eitle und gierige Menschen ein paar ganz nützliche Dinge in die Welt gebracht haben. Genauso wie ein paar ganz zielgerichtet nach Erleuchtung Strebende - gemäß der Überlieferung - diese auch und wahrscheinlich genau deshalb erreichten. Das ist kein Entweder-Oder. Und meines Erachtens sollte man für sich auch Regeln finden, die vom Schwarzweißdenken eher abrücken und sich mit der Komplexität des Lebens auseinandersetzen. Ich liebe vlt. eine Frau, die gerne einen Goldring zur Hochzeit möchte, und ich bin dann froh, dass es einen Goldschmied gibt, weil ich ihr diesen Wunsch gern erfülle. Oder ich muss in ein gefährliches Gebiet zur Recherche reisen und bin froh, dass mir ein Händler eine Waffe mitgibt oder ich bewaffneten Schutz bekomme. Oder in Covidzeiten war ich froh, dass Hunderte von Wissenschaftlern das, was andere als "Gift" bezeichneten, als Heimittel in ihre Studien einbezogen. Usw.


    Für mich ist das Brahmanetzsutra in seinem zweiten Gebote-Teil ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn man Regeln für Menschen, die sich der Gesellschaft entziehen (Mönche) , auch auf Laien ausdehnen will.

    Zitat

    Entsprechend sehe ich darin eine gemeinschaftliche Regel um die Geruchsbelästigung gering zu halten.

    Und was ist mit Weihrauch? Finde ich mindestens ebenso belästigend. Das ist also Geschmacks- oder Geruchssache. Ich reagiere darauf allergisch (Asthma).


    Was die chinesische Medizin angeht, dürfte die (positive) Wirkung von Knoblauch und Zwiebeln unabhängig von der Kenntnis von Bakterien bereits zu Zeiten der Erstellung dieses Sutras bekannt gewesen sein.


    Was das Befreien von Haustieren angeht - wie würde es Kühen wohl in freier Wildbahn ergehen? Und damals gab es ja wiederum diese Massentierhaltung nicht wie heute, also scheint mir hier doch ein seltsam zwingender Zusammenhang zwischen "Gefangenschaft" und Chance auf Wiedergeburt konstruiert.


    Warum ist "Zauberei" offensichtlich? Wieso sollen Menschen nicht Spaß haben und sich unterhalten lassen und man nicht jemanden wie David Blaine, der sein Leben riskiert mit seinen Künsten und seinem Körper so viel abverlangt wie ein Dauermeditierender, Respekt entgegenbringen? Welch langweiliges Leben stellen sich diese Gebote-Erfinder da eigentlich vor?


    Und bei dem Sawaki-Zitat sollte man doch eins nicht vergessen: Auch er musste essen und war auf Spenden angewiesen. Die kamen dann in der Regel von Leuten, die der Lohnarbeit nachgingen. So ist das auch heute noch.


    Aber ... im unbekannteren ersten Teil des Brahmanetzsutras stehen ein paar interessantere Dinge, die ich demnächst noch zitieren will.

    Ich beziehte mich auf diese Übersetzung des Brahmajala Sutras, auf das hier auch kürzlich bei einer Diskussion zum Fleischverzehr hingewiesen wurde.

    An ein paar Zitaten der minder schweren oder Nebenregeln will ich aufzeigen, dass es für den Laien recht sinnlos ist, sich an solchen Texten wirklich zu orientieren, sich also mehr als inspirieren lassen zu wollen.


    Nebenregel 16:

    "Ihr solltet euren Körper vollständig den hungrigen Tigern, Wölfen und Löwen sowie allen hungrigen Geistern darbringen, einschließlich des Fleisches eurer Arme und Beine. Danach solltet ihr ihnen in geordneter Weise den richtigen Dharma darlegen, und es ihrem Geist ermöglichen, sich zu öffnen, damit sie die Bedeutung verstehen können."


    Diese Regel könnte bedeuten, dass die Beispiele nur als Metaphern zu lesen sind, denn wie soll jemand, der seinen Körper "vollständig" wilden Tieren hingab, danach noch den Dharma darlegen können? Sei es drum, nun wird es ganz und gar ungemütlich:


    Regel 4 verbietet Knoblauch, Schalotten, Lauch, Zwiebeln und Asant. Ich bin mir sicher, dass die meisten Vegetarier keine Lust auf solche Einschränkungen haben, aus gesundheitlicher Sicht muss man sie sowieso nicht teilen.


    Nebenregel 20:

    "Deshalb solltet ihr immer die gefangenen Tiere befreien, damit die Lebewesen weiterhin wieder­geboren werden und Wiedergeburt erfahren können."


    Das könnte im ersten Teil Tierbefreiern bei PETA gefallen, bedeutet aber im zweiten, dass hier ein Buddha davon ausging, Lebewesen müssten erst aus Gefangenschaft befreit werden, um Wiedergeburt erfahren zu können. Ein seltsamer Gedanke, zumal ja damit auch unterstellt ist, dass diese Wiedergeburt für die Tiere sinnvoll ist (im Sinne eines "Aufstiegs").


    Nebenregel 24:

    "Wenn ihr euch darüber hinaus mit falschen Ansichten, den Praktiken der beiden Fahrzeuge oder von Nicht-Buddhisten, weltlichen Klassikern, den verschiedenen Abhidharma-Abhandlun­gen oder Werken der Literatur beschäftigt, werden solche Praktiken die Buddha-Natur abschneiden und die Ursachen und Bedingungen des Pfades behindern."


    Von wörtlichen Auslegungen solcher Texte stammen dann Ratschläge mancher Lehrer (wie TNH), sich von manchen kulturellen Errungenschaften abzuwenden, worunter hier auch jegliche Literatur (inklusive Klassikern) gehört.


    Nebenregel 29:

    "Ihr sollt euch nicht mit Zauberei, Lohnarbeit oder Falknerei beschäftigen; ihr sollt keine der hundert Heil- und Giftkräuter oder der tausend Arten bösartiger Gifte und ihrer Gegengifte zusammen­brauen; ihr sollt euch nicht mit der Herstellung von Gold und Silber beschäftigen."


    Also Schluss mit David Blaine und "hired labor" oder der Arbeit als Apotheker, Heilpraktiker oder Goldschmied.


    Nebenregel 32:

    "Ihr solltet keine Katzen, Dachse, Schweine oder Hunde aufziehen."


    Schluss auch mit Haustieren wie Katzen und Hunden!


    Nebenregel 33:

    "Ihr sollt auch nicht auf das Blasen des Muschelhorns, das Schlagen der Trommeln oder die Hörner hören [die ertönen, wenn Armeen in die Schlacht ziehen], noch [sollt ihr auf] die Musik von Gitarren, Harfen, Flöten oder Lauten hören, noch auf den Gesang und die musikalische Begleitung bei Theater­vorstellungen. Ihr sollt nicht mit Würfeln spielen, noch [solche Spiele wie] Dame, Schach, Danqi, Parcheesi, Kegel-, Stein- oder Krugwerfen oder das Spiel der ‚acht Wege zur Hauptstadt‘ spielen."


    Und auch mit Schachspielen ist es aus, ganz zu schweigen von Theaterbesuchen oder Musikhören.


    All diese Regeln sind wie gesagt in die gleiche Kategorie eingeordnet wie etwa die, kein Fleisch zu essen.

    Das Sutra des vollkommenen oder vollständigen Erwachens (chin. Yuanjue jing, jap. Engaku-kyô) spielt im Zen- und Huayen-Buddhismus eine besondere Rolle. Es erläutert in zwölf Kapiteln u. a. Fragen zur Meditation, allmähliche und plötzliche Erleuchtung, Unwissenheit und die eingeborene Buddhaschaft. Zongmi hat es im 9. Jahrhundert ausgiebig kommentiert. Es ist wahrscheinlich chinesischen Ursprungs und fußt auf dem Shurangama-Sutra und dem „Erwachen des Glaubens im Mahayana“ (chin. Dasheng qixin lun, jap. Daijôkishinron). Versammelt sind hier der Buddha und zahllose Bodhisattvas, von denen zwölf ihm Fragen zur Lehre, Praxis und Erleuchtung stellen.


    Hier ist die Übersetzung.

    Irgendwie funktioniert nach dem Update der Forumsoftware gerade die Bearbeiten- und auch die Link-Funktion (Link unter Text legen) bei mir nicht mehr, weder im Google- noch im Firefox-Browser. Deshalb hier noch der Hinweis auf einen weiteren Essay von Prof. Schlütter, auf der unter "open access" im obigen Essay verlinkten Seite bei Academia. Er stammt von 2018 und untersucht die Entwicklung der von Sudhana angesprochenen "formlosen Gebote" in den diversen Versionen des Plattform-Sutra. Hier wird deutlich, warum die eine Fraktion hier im Forum lieber die frühe Dunhuang-Version zitiert und ich lieber die orthodoxe, späte, denn darin ...


    ... ist also die Gebotezeremonie nicht mehr Bestandteil der Hauptpredigt Huinengs und nicht mehr mit den Prajnaparamita-Lehren verknüpft, sondern erscheint in einem eigenen Kapitel als spontanes Ereignis, zu dem sich Huineng plötzlich inspiriert fühlte. Schlütter sieht dies als Kompromiss gegenüber Laien, Mönche sind daran nicht beteiligt, aber die Zeremonie dient NICHT als Modell für spätere. Er meint, man könne hier auch gar nicht mehr von "formlosen Geboten" sprechen (was auch diese späte Version des Sutras nicht tut), sondern von "formloser Reue". https://www.academia.edu/70349…%A5%96%E5%A3%87%E7%B6%93_

    Auf Vorschlag von HeWhoRemains eröffne ich hiermit den Thread zum Thema Ethik im Plattformsutra, denn just als ihm der Gedanke kam, las ich dazu einen Essay, der nun hier auf Deutsch übersetzt ist:


    Einzigartige ethische Einsichten, die sich aus der Integration von allmählicher Praxis und plötzlicher Erleuchtung im Plattform-Sutra ergeben – eine Interpretation aus der Perspektive des Daoismus von Rongkun Zhang (2020)


    Ich werde in Kürze noch eine Übersicht von Morten Schlütter zu den verschiedenen Versionen des Plattformsutra hier verlinken.


    Im obigen Aufsatz findet sich eine Position, die mir zwischen meiner und der von Sudhana aufgezeigten (im kürzlichen Thread zum Fleischessen bzw. der Übertragung außerhalb der Schriften) zu vermitteln scheint und darum ganz gut hierher passt. Ich bin also nicht automatisch der Meinung der Autoren, die ich hier gelegentlich verlinke, sie zeigen lediglich einen Ausschnitt der akademischen Diskussion, der zum eigenen Weiterdenken anregen könnte. Ich bin selbst nicht in der buddhistischen Akademie tätig, sondern mein Anliegen ist ein praktisches Vorantreiben des Buddhismus. Um die Diskussion anzustoßen: Mein Rat an Übende ist - da nur ein vollständiges Loslassen angestrebt werden kann - sich nicht vor dem Zustand zu fürchten, in dem selbst Gebote losgelassen sind. Es gibt keinen Automatismus, der dann zu bösartigem Verhalten führt oder zu einer Umdeutung von Schandtaten. Dieser Fall ins Bodenlose als Teil der Übung ist aber andererseits nicht zu haben ohne ein Risiko. Im Grunde sollte ein Lehrer dazu in der Lage sein, diejenigen zu erkennen, denen ein solcher "Fall" zuzumuten ist, und die anderen wegschicken. Wie ich gerade in einem Clip eines Soto-Mönches sah, wurden in seinem Tempel jedoch diejenigen weggeschickt, die sich nicht an den regelmäßigen Meditationssitzungen beteiligten (bei denen wiederum ein "Sterben auf dem Kissen", also dieses Fallen ins Bodenlose, erwünscht sei). Das Kriterium war also: "Bist du bereit, lange regungslos zu sitzen?" und nicht: "Bist du gefestigt genug, um mit dem umgehen zu können, was dich erwartet?" Mit diesem Gefestigtsein meine ich nicht, dass der Adept die Gebote einhält - das ist bei durchschnittlich anständigen Menschen vorauszusetzen -, sondern dass er psychisch in der Lage ist, mit einer Erfahrung von Leere fertig zu werden und sie dann für sich und andere fruchtbar zu machen, und das ist etwas anderes: Die Gleichung - befolgt Gebote, wird also auf die rechte Art handeln, wenn erwacht - gilt nicht. Die Frage ist ja gerade, ob der Adept mit einem Zustand umgehen kann, in dem er die Gebote ggf. nicht mehr befolgt.


    Ebenfalls ins Spiel bringen kann ich, um zu zeigen, wie das nicht nur ausgesprochene Soto-Zen-Lehrer sagen, einen Ausschnitt aus einem Interview (Buddhadharma 2006) mit Shodo Harada. Er macht schon ein paar gute Punkte, zieht sich jedoch auch noch auf den klassischen Weg zurück, obwohl er selbst Koanschulung gibt und wissen dürfte, wovon ich oben sprach. Damit ist auch klar, dass ich ein progressiveres Zen vertrete und selbst die Ansichten ansonsten geschätzter Zen-Lehrer von mir nicht unbedingt übernommen werden (das sage ich, weil das "Nachbeten" für viele Schüler/innen der Normalzustand zu sein scheint ...). Die von mir nicht geteilten Ansichten habe ich unterstrichen. Für mich sind sie ein - scheiternder - Versuch, aus dem Dilemma herauszukommen, das ansonsten von Harada ja ganz gut beschrieben ist (ein Anhaften an Gebote darf auch nicht sein).


    "In den Lehren von Bodhidharma ist ein Zugangspunkt sila, die Gebote. Beinhaltet Kensho notwendigerweise rechtes Handeln in Übereinstimmung mit den Geboten?

    Wir müssen uns vor Augen halten, dass die Gebote im Wesentlichen sozial sind. Sie sind nicht in irgendeinem ursprünglichen Sinne notwendig. Ein Säugling braucht die Gebote nicht. Ein Ausdruck der Gebote ist ein klares, geordnetes Leben auf einer individuellen Ebene. Die Gebote werden notwendig, wenn wir anfangen, mit anderen Menschen in der Gesellschaft umzugehen.

    Im Isshinkaimon oder „Die Gebote des einen Geistes“, das Bodhidharma zugeschrieben wird, werden die Gebote vom Standpunkt des jishou reimyou, des „ursprünglichen Geistes, geheimnisvoll und jenseits allen menschlichen Verstehens“, erörtert. Dies ist unsere eigentliche Essenz, der Geist von Kensho. In dieser ursprünglichen spirituellen Essenz gibt es keinen Drang zu töten, zu stehlen, zu lügen oder zu verletzen und somit auch keine Notwendigkeit für die Gebote. Unser Verhalten steht von Natur aus im Einklang mit den Geboten.

    Im Kontext gewöhnlicher menschlicher Beziehungen helfen uns die zehn Hauptgebote, den richtigen Geisteszustand zu erkennen. Wenn wir in einer verwirrten und schädlichen Weise leben, signalisieren uns die Gebote durch unseren Mangel an Harmonie mit ihnen, dass wir in unseren Ansichten und Handlungen fehlgeleitet sind und noch nicht zu unserer eigenen wahren Natur erwacht sind. Die Gebote sind kein System von „Rechten“ und „Unrechten“; sie sind Richtlinien, die uns die Erleuchtung verschaffen, die es uns ermöglicht zu sehen, wo wir wirklich stehen.


    Ich könnte mir also vorstellen, dass man Einsicht haben kann, ohne vollständig erwacht zu sein, und dass man in diesem Fall immer noch die Regeln beachten muss.

    Ja. Deshalb arbeiten wir sozusagen rückwärts von den Geboten aus. Lassen Sie mich das erklären. Wenn wir vollständig erwacht sind, leben wir unser tägliches Leben natürlich in Übereinstimmung mit der Wahrheit. Wir leben jedoch in Gemeinschaft mit anderen Menschen, von denen jeder seinen eigenen Geschmack, seine eigenen Vorlieben und Neigungen hat. Die individuellen Unterschiede führen unweigerlich zu Reibereien zwischen den Menschen. Dabei geht es nicht darum, dass eine Person Recht hat und eine andere Person Unrecht. Deshalb ist es wichtig, dass wir in unseren Beziehungen Harmonie wahren, sowohl als Einzelpersonen als auch als Mitglieder der Gesellschaft. Je größer die Gesellschaft ist, in der wir leben, desto wichtiger ist die Harmonie in unserem Verhalten gegenüber anderen. Ohne sie bricht das Miteinander zusammen.

    In diesem sozialen Kontext ist der erwachte Geist wie ein Spiegel, der seine Umgebung reflektiert und die Natur der Interaktionen zwischen sich selbst und anderen erhellt. Aber das Erwachen zur wahren Natur unseres eigenen Geistes bedeutet nicht, dass wir plötzlich die Welt um uns herum direkt beeinflussen können. Dieser Punkt ist die Quelle vieler Verwirrungen. Das Erwachen zu seinem wahren Selbst verleiht keine besonderen Kräfte. Ein erleuchteter Mensch ist nicht plötzlich in der Lage, Klavier zu spielen wie ein großer Musiker oder zu malen wie Picasso oder Matisse. Ein Bild zu malen, ein Lied zu komponieren oder ein Gedicht zu schreiben, das die Herzen der Menschen bewegt, ist eine Mischung aus Talent und Technik, die durch Übung und Anstrengung gepflegt und verfeinert wird.


    Im spirituellen Leben muss das Erwachen also durch Übung entwickelt werden, so wie große Künstler sich üben. Eine solche Ausbildung wiederum vertieft und bereichert den Charakter eines Menschen. Die bloße Tatsache der Erleuchtung bedeutet nicht, dass alle eigenen Impulse plötzlich perfekt sind, sondern dass man genauer sieht, wie man leben sollte. Wenn unser tägliches Verhalten einem klaren, erwachten Geist entspringt, dann werden die Menschen, die mit uns in Kontakt sind, auf subtile, aber positive Weise beeinflusst.

    Die Beziehung zwischen dem Erwachen und der täglichen Praxis funktioniert auch in die andere Richtung. Wenn man im Einklang mit den Geboten lebt, wird man enger mit seiner essentiellen Natur verbunden. Daher werden diejenigen, die sich bemühen, die buddhistischen Gebote zu befolgen, sich allmählich auf den erwachten Geist zubewegen, der durch diese Lehren manifestiert wird. Das ist es, was ich vorhin meinte, als ich sagte, dass wir von den Geboten aus rückwärts arbeiten können.

    Man muss jedoch aufpassen, dass man dies nicht missversteht. Eine buchstabengetreue, auf den Geboten basierende Lebensweise allein reicht nicht aus, um das Erwachen zu bewirken. Die Regeln auf mechanische Weise zu befolgen, kann einfach eine andere Form der Anhaftung sein, wenn es nicht von der Bemühung um die Verwirklichung des Buddha-Seins begleitet wird.

    Die Gebote können eine wirksame Hilfe für die Praxis sein, aber das Festhalten an ihrer Form ist ein Hindernis.

    Was wir Kensho nennen, ist ein Erwachen zur absoluten Befreiung, die der ursprüngliche Zustand unseres Geistes ist, ein Zustand, dessen wir uns normalerweise nicht bewusst sind, weil wir ein festes Selbstgefühl haben, das durch unsere vorgefassten Meinungen, Anhaftungen und Wünsche entsteht. Kensho ist daher nicht etwas, das von uns getrennt ist; es ist einfach das Abwerfen unserer Fixierungen, die Rückkehr zu dem, was wir immer waren. Die Gebote sollten diesem Ziel des Erwachens dienen."