Beiträge von InfoRyuMonJi

    Kolloquium im Zen-Tempel Gendronnière – Juni 2009
    Vortrag von Zen-Meister Olivier Reigen Wang-Genh


    „Individuum und Gemeinschaft. Die Praxis des Erwachens in einem Zen-Tempel“



    Guten Tag!


    Gegenstand dieses Vortrags ist der individualistische Geist, wie er sich manchmal in einem Dojo oder einem Tempel entwickelt, sowie seine Ursachen und vor allem die Art und Weise, wie man in der Tradition des Zen-Buddhismus praktiziert.


    Als Verantwortlicher des Tempels Kosan Ryumon Ji interessiert mich diese Frage ganz besonders. Wir haben gerade das zehnjährige Bestehen des Tempels gefeiert und ich beginne darüber nachzudenken, einige Lebensregeln hinzuzufügen: westliche Regeln, angepasst an die Probleme der europäischen Praktizierenden und gleichzeitig tief verwurzelt in unserer Tradition des Soto-Zen.


    Es ist klar, dass wir Europäer uns in unserer Kultur, unserem Sein und unserer Lebensweise sehr von den Japanern unterscheiden. Die Vorstellung, sämtliche Regeln des Eihei Shingi von Meister Dogen eins zu eins zu übernehmen, Regeln aus dem 13. Jahrhundert, wäre weder sehr realistisch, noch von großem Nutzen für die Praktizierenden.
    Diesen Text zu verstehen, ist relativ einfach, ihn in die Praxis umzusetzen schon viel schwieriger. Etwas Wahres aus ihm zu machen, in der ganzen Freiheit des Augenblicks, das ist die Hauptherausforderung, der wir gegenüber stehen.
    Trotz der Notwendigkeit einer erneuten zeitgenössischen Lektüre, handelt es sich auch nicht darum, irgendwelche unüberlegten Anpassungen vorzunehmen. Das alles muss sich erst setzen und wir müssen Erfahrungen sammeln. Momentan sehen wir uns dieser zweifachen Notwendigkeit gegenüber: den Text anpassen und gleichzeitig seine Essenz bewahren.


    Für westliche Regeln: Einige Überlegungen zu den Anfängen


    Nach zehn Jahren der Klosterpraxis bin ich wirklich zufrieden mit den stattgefundenen Entwicklungen, die sich vor allem in der Einfachheit des Alltags ausdrücken.
    Eine ganze Anzahl von Mönchen und Nonnen sind von Beginn an bis heute da. Diejenigen, die das Kloster verlassen haben, taten es im Guten, meistens um eine Familie zu gründen. Sie waren nicht entmutigt und lehnten auch nicht die Praxis oder das Leben im Kloster ab. Im Gegenteil, viele haben sich dahingehend geäußert, wie positiv sich diese Erfahrung auf ihr berufliches und familiäres Leben auswirkt.
    Dieser Punkt berührt mich besonders. Es geht in der Tat nicht darum, nur Klöster zu schaffen, damit die Leute dort ihr ganzes Leben verbringen, sondern darum, den europäischen Zen.-Praktizierenden eine Möglichkeit zu eröffnen, die Erfahrung eines Lebens im Tempel zu ermöglichen: ein gemeinschaftliches Leben, gemäß den Regeln eines Zen-Tempels.


    Um bei der Anpassung der Regeln Meister Dogens zu helfen, habe ich begonnen, die Regeln des christlichen Klosterlebens zu studieren, die die gemeinsame Basis unserer europäischen Kultur darstellen.


    Anfangs, um das zweite, dritte Jahrhundert herum waren die Mönche Menschen, die sich völlig von der Welt zurückzogen und sich in der Wüste niederließen. Einige dieser Eremiten, auch Anachoreten genannt, sind Heilige geworden: Menschen mit einer Ausstrahlung, die andere angezogen haben. Mitten in der Wüste begann eine gewisse Anzahl von Menschen sich um diese Heiligen zu sammeln, um die gleiche Erfahrung wie sie zu machen und einen Führer zu haben.
    Der Heilige Antonius zum Beispiel war der erste große Eremit der christlichen Tradition. Er, der ein einsames und von der Welt zurückgezogenes Leben suchte, fand sich paradoxerweise ziemlich schnell von zahlreichen Schülern umgeben, die an seiner Seite zu leben und von seinen Ratschlägen zu profitieren wünschten . So sind die ersten Gemeinschaften entstanden und in ihrer Folge die ersten Lebensregeln. Die ersten bekannten gehen auf den Heiligen Pachomius im vierten Jahrhundert zurück. Diese Mönche nannte man „Xenobiten“: diejenigen, die gemeinschaftlich leben, die ihren Alltag teilen.
    Der Heilige Augustinus drückt auf herrliche Weise in einer seiner Schriften diese Realität mit dem folgenden Satz aus und gibt so dem Wort „Mönch“ seine tiefe Bedeutung: „Diejenigen, die gemeinschaftlich leben und nur einen einzigen Menschen bilden, kann man monos nennen.“


    Diese Sichtweise ist äußerst bereichernd. Sie ist vor allem in völliger Übereinstimmung mit unserer Tradition des Soto-Zen, in der der Akzent auf der Praxis innerhalb der Sangha gelegt wird – einer der Drei Schätze – in den Klöstern zum Beispiel.
    Meister Dogen drückt im Zuimonki die gleiche Idee wie der Heilige Augustin auf folgende Weise aus: „Ihr müsst gemeinsam, mit einem einzigen Geist eure Energien bündeln und sie nur dem Studium und der Praxis widmen.“ Zusammen seid ihr völlig allein. Allein seid ihr völlig zusammen. Es geht nicht darum, für sich zu praktizieren, es geht nicht darum, eine persönliche oder zurückgezogene Praxis zu haben, sondern im Gegenteil gemeinsam zu praktizieren, wie ein einziger Mensch. Mehrere Körper, aber ein einziger Geist, ein einziger Mensch, eine einzige Richtung.


    Der für das Christentum sehr wichtige Heilige Benedikt hat folgendes gesagt: „Keiner im Kloster soll dem Willen seines eigenen Herzens folgen.“ Das ist eine seiner ersten Regeln.
    Die zehnte Regel besagt: „Von sich absehen, um Christus zu folgen“. Was mich ein bisschen erstaunt, ist, dass er diese Regel nur an die zehnte Stelle gesetzt hat. Im Zen Meister Dogens hingegen stellt diese Regel die eigentliche Grundlage der Klosterpraxis dar: Shin jin datsu raku, Körper und Geist aufgeben und sich selbst vergessen. Das ist hier vielleicht einer der großen Unterschiede zwischen dem Zen-Buddhismus und dem Christentum.
    Und dennoch sagt einige Jahrhunderte später der christliche Mystiker Meister Eckhart Folgendes über das Loslassen: „Auch wenn ihr in eurer Praxis von allem ablasst: von euren materiellen Gütern ablasst, von eurer gesellschaftlichen Stellung ablasst, von eurem Familienleben ablasst (...), wenn ihr am Ende nicht von euch selbst ablasst, ist es, als ob ihr von nichts abgelassen hättet.“ Wir können alle möglichen Weisen des Loslassens praktizieren, wenn wir nicht von uns selbst loslassen, ist es, als ob wir von nichts loslassen. Meister Eckhart betont hier wie Meister Dogen die Tatsache der Aufgabe des Selbst als Persönlichkeit, als unabhängige und autonome Sache.


    In unserer heutigen Zeit hat Frère Roger von der Gemeinschaft von Taizé 1966 eine besonders inspirierende Regel geschrieben. Die in einer einfachen, demütigen und leicht verständlichen Sprache verfassten Formulierungen antworten gut auf unsere eigenen Fragen. Zum Beispiel: „Du hast Angst, dass eine Gemeinschaftsregel deine Persönlichkeit erstickt, während sie dich doch von unnötigen Fesseln befreien soll, damit du besser die dir obliegenden Verantwortlichkeiten übernehmen kannst.“ Die Angst, dass eine Regel unsere Persönlichkeit erstickt, ist wirklich eines der Dinge, die wir am häufigsten in unserer Praxis antreffen. Sobald da eine Regel ist, gibt es eine Tendenz zum Rückzug und Selbstschutz: eine Tendenz, negativ zu reagieren, während die Regel da ist, uns zu helfen, nicht einfach unüberlegte Dinge zu tun. Frère Roger sagt auch: „Du musst die Spannung zwischen deiner völligen Freiheit – wir sind letztlich im Grunde äußerst freie Wesen – und den Unmöglichkeiten, in die dich die menschliche Natur stellt, akzeptieren.“


    Ich mag sehr diese Formulierung einer Spannung zwischen unseren Instinkten, unseren Wünschen, unseren Idealen, unserer Freiheit und all den Dingen, die man nicht tun kann oder soll, vor allem im Leben in der Gemeinschaft. Daraus kann sich ein intensives Gefühl der Frustration ergeben. Es ist diese Spannung, die den Sockel für die Regel bildet. Und es ist auch die Regel, die eine gute Spannung zwischen den beiden Extremen schafft.


    Im gleichen Geist fügt Frère Roger hinzu: „Der Individualismus zersetzt und stoppt den Fortschritt der Gemeinschaft.“ Das sind Worte, die man bei seinen Vorgängern nicht findet und die auf einen im Westen in den Sechziger Jahren entstandenen Individualismus reagieren: einen Individualismus mit anarchistischen Zügen.


    Jedes Mal, wenn sich im Klosterleben der Individualismus auslebt – seine negative Seite – dann „zersetzt“ das die „lebendige Sache“ in dieser Gemeinschaft: unter „lebendiger Sache“ verstehe ich diese ein bisschen magische Chemie, die entsteht, wenn alle Dinge gut laufen, wenn alles wie reibungslos funktioniert und das Leben sich harmonisch gestaltet. Wenn hingegen der Individualismus sich ausdrückt – durch Empfindlichkeiten, die Eifersucht, die Wut, Kritik – produziert er wie eine Art von unsichtbarem Gift, das die Tendenz hat, alles zu lähmen. Der individualistische Ausdruck des Ich zerbricht die Einheit.
    Das ist manchmal unsichtbar, aber beeinflusst die ganze Atmosphäre.



    Die Gemeinschaft, ein Weg des Erwachens und kein Ziel an sich


    Das Leben in der Gemeinschaft ist überhaupt kein Ziel an sich. Auch wenn das Leben in der Gemeinschaft sehr angenehm und bereichernd sein kann, so sind wir doch nicht deswegen da. Die einzig wichtige Sache in einem Kloster ist die Praxis des Erwachens. Das gemeinschaftliche Leben, der Unterweisung eines Meisters folgend, dient nur dazu, günstige Bedingungen für diese Praxis zu schaffen.


    Ganz allgemein scheint mir, dass das gemeinschaftliche Konzept in der Lage wäre, viele Probleme der heutigen Welt zu lösen (Umwelt, Ökologie, nachhaltige Entwicklung, sozialer Friede...). Ganz konkret bin ich tief überzeugt, dass es notwendig ist, sich zusammenzutun, um zu praktizieren, gemeinsam. Gemeinsam, auf dem Weg des Zen, der kein einfacher Weg ist. Aber zusammen.
    Es ist schwierig, allein zu sein und allein zu praktizieren: ich denke an die Praktizierenden, die in ihren Dörfern oder kleinen Städten allein sind und keine sangha um sich herum haben. Aber... es ist auch schwierig, mit den anderen zu praktizieren! Vor allem wenn man von morgens bis abends mit den anderen zusammen ist... Die anderen sind oft ziemlich unerträglich...!



    Im Tempel- oder Dojo-Alltag entstehen Abneigungen und Vorlieben. Es gibt persönliche Probleme. Es gibt auch manchmal gegenseitige Zuneigungen, die einer Regelung bedürfen. Die ganze Organisation eines Klosters dient dazu, diese Fragen gemäß der Tradition des Soto-Zen zu lösen. Die geringste Nachlässigkeit hat ganz unverhältnismäßige und unerwartete Auswirkungen und Folgen. Mündliche oder schriftliche Regeln, sorgfältig formuliert, vermindern die Schwierigkeiten.


    Aber auch über die Regeln hinaus können alle Handlungen in einem Kloster als Gemeinschaftshandlungen die Harmonie bewahren: der Gesang der Sutren ist ein hervorragendes Beispiel, wo von selbst auf körperliche und völlig natürliche Weise gelehrt wird. Seine Stimme harmonisieren, weder zu laut noch zu leise, weder zu hoch noch zu tief, und so nach und nach, Tag für Tag, die Harmonie von sich aus entstehen lassen.
    Das beste Beispiel ist natürlich Shikantaza, zazen, die Harmonie in ihrem schönsten Ausdruck. Aber man kann auch das samu, die oryokis etc. anführen.


    Das Erlernen der Gemeinschaft geschieht in Etappen. Anfangs, in der Euphorie über das Neue, ist alles relativ einfach. Man kann sagen, dass die Probleme, auf die man stößt, einfach sind! Nach einigen Jahren stellen sich die Gewohnheiten ein. Die Praktizierenden sind sich ihrer selbst sicherer und das Vergessen seiner selbst wird schwieriger zu praktizieren. Paradoxerweise kann manchmal die anfängliche Beweglichkeit zu einem erstarrten, verhärteten Wesen führen. Diese Reaktion des Egos kann zu jedem Zeitpunkt auftreten, unabhängig davon, wie lange wir schon praktizieren. Diese Verhärtung und Kontraktion des Wesens kann zu den banalsten Streitigkeiten führen!



    Allein und zusammen


    Kommen wir nun zu den uns unmittelbar betreffenden Regeln, denen der Soto-Zen-Tradition.
    Für die ersten Regeln, die im 8. Jahrhundert in China von Meister Hyakujô aufgestellt worden sind, gab es eine gewisse Notwendigkeit. Im Zeitraum vom achten bis zehnten Jahrhundert, den man das „Goldene Zeitalter des Chan“ nennt, gab es dort Klöster, in denen sich manchmal Tausende von Mönchen um einen Meister scharten. Regeln wurden notwendig. Diese Regeln von Hyakujô hat Meister Dogen fast wörtlich im Eihei Shingi bei der Einpflanzung des Zen in Japan übernommen.


    Eine der Hauptregeln, die Meister Dogen unterwies und auf die Meister Deshimaru besonderen Wert legte war Shu Sho Ichi Nyo. Shu (die Praxis) und Sho (Erwachen) sind eins.
    Das kanji Shu, das benutzt wird, um das Wort „Praxis“ auszudrücken, besteht aus zwei Teilen: einem oberen und einem unteren Teil. Das kanji des oberen Teils bedeutet „weiß“ während des kanji des unteren Teils die Flügel des Vogels symbolisiert. Das bringt wirklich die Wirklichkeit der Praxis zum Ausdruck.
    „Weiß“ ist jungfräulich, frisch, aufnahmebereit, unbefleckt, verfügbar: so wie der Geist des Praktizierenden sein sollte. „Weiß“, das ist auch die Gemeinschaft, die Gesamtheit, die Totalität: die Nichtunterscheidung. Aber allzu oft hören wir mit vollen Ohren zu, einem schon ganz vollen Geist: voll von uns selbst, voll von unseren Gewissheiten, unseren Erfahrungen, unseren Urteilen oder unseren Befindlichkeiten, also von dem, was wir unsere Persönlichkeit nennen. Natürlich hören wir zu, aber innerlich sagen wir uns dabei: „O.K., er hat das gesagt, aber warum hat er gerade das gesagt und nicht das?“ Das ist die große Schwierigkeit, wenn es eine Unterweisung gibt: nur das anschauen, was klar ist, ohne nach dem zu schauen, was unklar bleibt.
    Diese Öffnung des Geistes haben, das bedeutet den Individualismus hinter sich zu lassen: die Dinge aus einer neuen Perspektive sehen, durch einen weiten Geist hindurch. Der individualistische Geist hingegen platziert sich im Zentrum der Dinge, in der Position dessen, „der weiß“, durchdrungen von seinen Gewissheiten und eigenen Bezugspunkten.
    Aber das kanji Shu, die Praxis, beinhaltet noch einen zweiten grundlegenden Aspekt: die Notwendigkeit der eigenen Erfahrung, symbolisiert hier durch die Flügel des Vogels. Das junge Vögelchen sitzt irgendwann am Nestrand und muss springen und fliegen. Niemand kann es an seiner statt, an meiner statt, an eurer statt tun. Ich kann mir die Knochen brechen oder aber fliegen. Man kann fallen oder seine Flügel ausbreiten. Jede dieser Erfahrungen wird vollkommen einzigartig sein und nur ich selbst kann sie erleben und verwirklichen.


    Diese beiden kanji zusammen, der aufnahmebereite Geist und die Notwendigkeit der persönlichen Erfahrung sind Ausdruck dessen, was man die Praxis nennt. Und es ist die gute Harmonie zwischen den beiden Gesichtspunkten, die die richtige Spannung zwischen unserem oft sehr hohen Ideal der Praxis und der Komplexität unseres alltäglichen Lebens, das of als unbefriedigend erlebt wird, erschafft.



    Die Spannung zwischen unserem Ideal und der Wirklichkeit überwinden: Die Wirklichkeit der Zeit des Erwachens


    Wir sind regelmäßig hin und hergerissen zwischen diesen beiden Aspekten unseres Lebens: dem Ideal und der gegenwärtigen Realität. Unser Unzufriedensein, die meisten unserer Schwierigkeiten rühren von dieser Zerrissenheit her. Sind wir hier, möchten wir dort sein. Wenn wir in zazen sitzen, denken wir an unsere Familie oder unsere Arbeit.
    In dieser dauernden Spannung zwischen unserem Ideal und der Wirklichkeit drückt sich nämlich die Unmöglichkeit, uns selbst zu erkennen aus: es ist schwer, ja unmöglich, einen objektiven Blick auf seinen eigenen Individualismus zu werfen. Das Individuum ist ein unscharfer Begriff, mit veränderlichen Dimensionen, ungreifbar und nicht zu erkennen. Eine Vorstellung, die je nach Situation und Augenblick schwankt… denn sie hängt völlig von unserem Zeitbewusstsein ab.
    Das Individuum ist in der Tat ein pures Konzept, das in dem, was wir als den Ablauf der Zeit wahrnehmen eine Illusion von Wirklichkeit findet. Üblicherweise ist unsere Sicht der Zeit linear, mit einer Vergangenheit, einer Gegenwart und einer Zukunft. Man kann diese Zeit „die Zeit des persönlichen Bewusstseins“ nennen. Diese Art des Zeitbewusstseins koloriert unsere Wirklichkeit: das Heute ist von den Erinnerungen an das Vergangene gefärbt und von der Vorwegnahme der Zukunft vereinnahmt, einer vorgestellten Zukunft, in der wir immer eine zentrale Position einnehmen. Die Idee von einem Individuum manifestiert sich in dieser mentalen Zeit. „Gestern habe ich in Straßburg eine Rede gehalten, heute habe ich ein Treffen in Paris.“ Alles drückt sich ausgehend vom ich, dem Meinigen, meiner Persönlichkeit, meinem Individuum aus.
    In der Erfahrung von zazen handelt es sich natürlich um eine ganz andere Zeit.
    Es ist die Zeit von zazen. Wir können sie auch die Zeit des Erwachens oder die Zeit des Körpers oder die Zeit des Baums nennen. Es ist die Zeit der Dinge, so wie sie sind, die Zeit, wo die Dinge durchsichtig werden. Eine Zeit, wo es kein Objekt mehr gibt, kein Ich mehr, kein… mehr.
    Es bleibt nur die Zeit des Körpers.
    Es bleibt nur der Körper mit der ihm eigenen Zeit.
    Der Körper, von dem ich spreche, ist nicht dieses Stück Fleisch, das man in der Anatomie studiert. Es ist der Körper als Bewusstsein. Der Körper, das ist das Herz, das schlägt, und das sich nicht für den Herzschlag von vor zehn Minuten interessiert. Und ohne den nächsten Schlag ins Auge zu fassen. Die Atmung, dieser Atemzug, er bedauert nicht den vorangegangenen und ersehnt nicht den nächsten. Die Atmung ist vollkommen da. Das Gleiche gilt für unsere Ohren, unsere Nase, unsere Augen usw.
    Das ist eine völlig andere Zeit. Dort, wo die Dinge sich nicht niederlassen können, wo das Selbst keine Stütze findet.


    Der Platz, den diese Zeit des Erwachens einnimmt, ist in einem Kloster allgegenwärtig. Es geht nicht darum, das mit dem gewöhnlichen gesellschaftlichen Leben zu vergleichen, denn die Bedingungen sind im Kloster viel günstiger. Im Stau, vor dem streikenden Computer, während eines geschäftlichen Treffens – immer sind wir in der Zeit des Erwachens. Aber das Bewusstsein seiner selbst gewinnt ständig die Oberhand. Das ist ein ständiger Kampf, ein ständiger Antagonismus, der die meisten unserer Schwierigkeiten schafft, im Kloster oder außerhalb.
    Der ganz große Wert des alltäglichen Lebens in einem Kloster besteht darin, durch die Abfolge der Rituale, durch das Gemeinschaftsleben oder den Gesang der Sutren eine häufige und vor allem regelmäßige Rückkehr zur Zeit des Erwachens zu ermöglichen. Die den Ablauf eines Tages bestimmenden Regeln, weit davon entfernt eine Einschränkung darzustellen, laden den Praktizierenden vielmehr dazu ein, sich für die Zeit der Erfahrung und des unberührten Geists zu öffnen, für die Zeit der Transparenz und des aufnahmebereiten Geists.


    Diese Regeln mildern also den Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft indem sie diese beiden Elemente in ein richtiges Spannungsverhältnis bringen. Die Regel ermöglicht so das Zustandekommen von alltäglichen Augenblicken, die sowohl beweglich als auch sanft sind, wodurch der ganze Reichtum des Lebens im Kloster zum Ausdruck kommt. Weit davon entfernt das Individuum vernichten oder zwingen zu wollen, geht es im Gegenteil darum, den Dingen wieder ihren richtigen Platz zu geben und zur wahren Freiheit zu gelangen.
    Auf paradoxe Weise lernen wir durch uns selbst und nicht mehr für uns selbst zu denken. Und lasst uns so die ganze Poesie des Sandokai sich ausdrücken, in der Harmonisierung der Unterschiede und des Universellen, der Besonderheiten und des Ganzen.




    Kosan Ryumon Ji
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