Heute morgen bin ich wie üblich mit der Straßenbahn zur Arbeit gefahren. Die Fahrt dauert ca. 25 Minuten und ich nutze seit ein paar Tagen die Zeit um ein wenig zu meditieren. Um nicht Angst zu haben meine Haltestelle zu verpassen klingelt ein Timer auf dem Handy nach 15 Minuten. Die Meditation war gut, ich habe ein paar Minuten angehangen und es bedauert die Augen wieder öffnen zu müssen. Ich packte mein Handy weg, starte vorher noch über Kopfhörer einen Talk von Gil Fronsdal um die restliche Wegzeit zum Büro sinnvoll zu nutzen. Mein Blick fällt auf eine junge Frau neben mir. Sie ist knapp 20 und trug der Witterung gemäß kurze Hosen und ein ärmelloses Top. Mir fällt aus dem Blickwinkel etwas an ihrem Unterarm auf und ich schaue noch mal hin. Ich sehe Narben. Viele feine, helle Striche von ca. 2cm Länge. Eng an eng. Was ist das? Und dann sehe ich mehr davon. Zahllos, von beiden Handgelenken bis über die Schultern. Von beiden Fußgelenken bis zum Ansatz ihrer kurzen Hose. Ich schaue betroffen weg. Sie hat sich geschnitten. Über lange Zeit hinweg. Immer wieder. Inzwischen sind alle Narben verheilt, sehen aus, als ob sie mindestens Monate, wenn nicht Jahre alt sind. Was muss diese Frau mitgemacht haben um sich so etwas an zu tun? Was muss in ihr vorgegangen sein. Ein “Om mani peme hung” murmel ich unhörbar. Es ist das Mantra, was mir auch nach Jahren Hinwendung weg vom Vajrayana zum Theravada immer noch in den Sinn kommt, wenn ich für ein Wesen Mitgefühl empfinde. Ich muss noch einmal hinschauen. In ihr Gesicht blicken. Erkennen wie es ihr geht. Sie bemerkt meinen Blick. Wir schauen uns kurz in die Augen, dann schaue ich betreten weg. Ich fühle mich ertappt. Habe ich gestarrt? Hat sie mich als starrend empfunden? Ich meine Unwohlsein bei ihr zu spüren. Es ist mutig von ihr mit all den Narben gut sichtbar in die Öffentlichkeit zu gehen. Ein gutes Zeichen. Aber sie muss Blicke gewohnt sein. Ich wünsche ihr, dass sie damit souverän umgeht, ich kann es mir aber kaum vorstellen. Habe ich ihr durch meinen Blick Unbehagen bereitet? Ich fühle mich schlecht. Im Spiegelbild des Fensters gegenüber sehe ich, wie sie ein Packung Tabak auspackt und sich mit hektischen Bewegungen eine Zigarette dreht. Ja, sie soll ruhig rauchen denke ich mir. Alles was ihr hilft, was sie beruhigt, ist gut. Aber die Art und Weise wie sie es macht versetzt mir einen Stich. Diese Eile, diese Unruhe dabei. Nein, ich glaube sie hat ihre inneren Kämpfe noch nicht beendet. Äußerlich vielleicht, aber nicht tief in ihrem Inneren. Mir wird immer unwohler. Wenn ich ihr doch irgendwie helfen könnte.Ich wünsche ihr alles nur Gute. Möge sie ihren Frieden finden. Möge sie sich von ihren Dämonen befreien. Gute Wünsche schaden nicht, aber wirklich sichtbar helfen tun sie auch nicht. Und ich möchte so gerne helfen. Aber mir sind die Hände gebunden. Ein fremder Mann, doppelt so alt wie sie. Der sie dumm von der Seite angeblickt hat. Die vielleicht zwei Minuten seit meinem ersten Blick zu ihr sind vergangen. Die Bahn fährt in den Bahnhof ein. Sie nimmt ihre Tasche und steigt genau wie ich aus. Ist schnell die Rolltreppe hoch verschwunden. Geht zügig. Zielstrebig. Ich wünsche ihr alles Gute. Wünsche ihr inneren Frieden. Hoffe, dass Sie Menschen in ihrem Umfeld hat, die sie stützen, mit denen Sie reden kann, denen sie Vertrauen entgegen bringt.
Mich lässt die Sache nicht los. Ich denke darüber nach, ob ich nicht zu viel interpretieren, zu viel urteile. Diese Hilflosigkeit die ich empfinde, sie tut mir weh. Und jetzt fallen mir meine Töchter ein. Alle in oder kurz nach der Pubertät. Was machen sie mit? Welche Kämpfe fechten sie aus? Helfe ich ihnen? Oder sehe ich jeden Tag zu Hause die Frau aus der Bahn, nur ein paar Jahre früher? Kann ich überhaupt einem anderen Menschen helfen? Immer, wenn er fragt. Oder wenn er Zeichen aussendet, dass er Hilfe braucht und ich den Eindruck habe helfen zu können. Aber wenn er nicht fragt? Kann ich helfen? Darf ich helfen? Mich einmischen in etwas, was mich eigentlich nichts angeht?
Der Frau habe ich durch meine, objektiv gesehen nicht tatsächlich aufdringlichen Blicke, Unwohlsein bereitet. Meine ich, interpretiere ich. Ich komme dem Kern näher. Meine ich. Meinem Kern. Was genau bereitet mir mein aktuelles Unwohlsein? Das Mitgefühl für ein anderes Wesen oder vielmehr meine Hilflosigkeit? Ist es mein Ego, dass sich meldet? Das gestreichelt werden will? Ich, der gute, gelassene Buddhist - hilflos? Das darf nicht sein. Und warum denke ich jetzt über mich nach? Forsche in meinem Inneren, wo es doch um die Frau geht? Ist es ok, über mich nach zu sinnen? Oder nur wieder ein Ausdruck von Egozentriertheit? Zu starke Worte? Bin ich schon so sehr durch eine selbstgemachte buddhistische Gehirnwäsche gegangen, dass ich das Ich und Regungen desselben per se als schlecht empfinde?
Vielleicht auf irgend eine Weise eine hilfreiche Begegnung. Für mich. Gab sie doch Gelegenheit mich selber, das Entstehen und die Entwicklung einer Emotion in mir, zu beobachten.
Der Frau wünsche ich alles Gute. Überhaupt allen Menschen. Und allen Wesen. Und selbst wenn ich mich ein wenig dazu zwingen muss - auch mir selber wünsche ich alles Gute.
Bambus