Beiträge von Thorsten Hallscheidt im Thema „Fragwürdiges Interview mit Dzongsar Jamyang Khyentse in "Buddhismus Aktuell"“

    Und um das klar und deutlich zu machen: Niemand wird durch irgendwelche Techniken, Methoden oder Wege erleuchtet - es gibt keinen Weg vom Bedingten zum Unbedingten

    Dann können wir den Palikanon und die Mahayana-Schriften ja alle getrost den Hasen geben, denn was anderes sind diese als Beschreibungen verschiedener Methoden und Wege und Pfade zum Erwachen?


    Aber Du hast recht... es gibt keinen Weg vom Bedingten zum Unbedingten, denn es gibt nichts, was unbedingt wäre. Denn die Lehre von Shunyata beschreibt ja gerade, dass nichts aus sich selbst heraus existiert. Darum ist die Realität auch keine ewige, in Stein gemeißelte Ansammlung von "Dingen", für die sich eherne Gesetze formulieren lassen, sondern ein wandelbares und lebendiges Netz von Beziehungen. Vorstellungen, Meinungen, Konzepte und Kategorien sind (zum Teil sehr nützliche) künstliche und temporäre Verhärtungen in diesem lebendigen Netz.

    Lebendigsein - da kann keiner was dran "arbeiten" - da ist vor allem "nicht-arbeiten" und zulassen gefragt. Handeln durch Nicht-handeln

    Das Problem dabei ist, dass "es" die ganze Zeit an diesem und jenem arbeitet: Gewohnheiten, Triebe, Vorstellungen. Dieses automatische Arbeiten ist ja gerade Dukkha. Von C.G. Jung stammt folgendes Zitat (aus: Den Dämonen Nahrung geben)


    Zitat

    Man wird nicht dadurch erleuchtet, dass man sich Lichtgestalten vorstellt, sondern dadurch, dass man sich das eigene Dunkel bewusst macht.


    Bewusstwerdung ist ein Weg, das automatische Arbeiten, das Leiden zu beenden. Tantrische Praktiken können dabei helfen.

    Je tiefer man taucht, um so größer zeigt sich der Eisberg ...


    Nun gut, dann sollten wir auch die Sportvereine schließen. Oder Vereine generell? Deren Rolle im 3. Reich war sehr zweifelhaft.

    Und auch gleich die Theater.

    Und die Zoos.

    ... Kitas ...

    ... oder gleich die Familien- und Freundeskreise...


    In allen Institutionen, privaten und öffentlichen, in denen Menschen leben und arbeiten, wird man menschliches Fehlverhalten finden.

    Wie auch anders?


    Zitat

    Potenzielle Täter und Täterinnen wählen häufig pädagogische oder therapeutische Berufe oder (ehrenamtliche) Betätigungsfelder, in denen es möglich ist, sich Kindern und Jugendlichen leicht und dauerhaft zu nähern. Sie nutzen die Autorität, die ihnen in anerkannten – etwa pädagogischen, sportlichen oder religiösen – Einrichtungen zukommt, und profitieren von dem Vertrauen, das Eltern ihnen entgegenbringen.


    -> Quelle


    Ist das ein katholisches Problem? Oder ein tantrisches?

    Das Internet und seine Möglichkeiten haben viele Phänomene hervorgebracht. Eines dieser Phänomene ist eine Kultur der Empörung. Da Nachrichten binnen kürzester Zeit verbreitet werden können, besteht unentwegt Möglichkeit sich zu empören. Und es gibt ja auch genug Grund dazu. Missbrauchsskandale, Korruption, Betrug, unverantwortliches Handeln, Mord und Totschlag allerorts. Diese Fälle häufen sich scheinbar, immer mehr kommt ans "Licht" der Öffentlichkeit, und kann dem gerechten, persönlichen und öffentlichen Urteil zugeführt werden.


    Nun ist es so, dass vor allem die Nachrichten schnelle Verbreitung finden, die starke, vor allem negative Gefühle auslösen. Mir ist das besonders in den letzten Jahren bezüglich der katholischen Kirche aufgefallen. Hier finden sich fast ausschließlich negative Nachrichten: Missbrauch, Bigotterie, Prunksucht, Vertuschung, Lüge, etc. Die Konsequenz ist, dass die Kirchen massiv Mitglieder verlieren, und das Bild einer inakzeptablen, überkommenen und pervertierten Struktur geprägt wird, die abgeschafft werden sollte, einfach schon als Form gesellschaftlicher Hygiene.


    Nun gibt es über 1,3 Milliarden Mitglieder in der katholischen Kirche, über 400 000 Priester und nochmal weit über 800 000 Ordensleute. Ich frage mich, wie repräsentativ sind die Skandale um Missbrauch etc. für die gesamte Struktur? Ich frage mich, welcher Eindruck würde entstehen, wenn wir statt auf negative auf positive Emotionen mit dem Drang reagieren würden, eine entsprechende Nachricht zu verbreiten. Die 1.2 Millionen Funktionsträger innerhalb der katholischen Kirche haben sicherlich einen ungeheuer starken und positiven Einfluss auf die Welt, mit all den sozialen Projekten, der gelebten Nächstenliebe, der Arbeit in Krisenregionen, in caritativen Einrichtungen u.s.w.. Würden diese positiven Seiten die weltweiten Nachrichtenkanäle dominieren, würde wahrscheinlich ein sehr anderes Bild die öffentliche Meinung prägen.


    Oft höre ich, dass solch eine Sichtweise, die Taten der Einzelnen verharmlosen würden, dass es sich um strukturelle Probleme handeln würde. Je nach sich empörendem Milieu sind es mal die Muslime, mal die Männer, die Frauen, die Priester, die Reichen, die Armen, u.s.w. deren Verfehlungen auf generelle Probleme verweisen, die man nicht durch die Argumentation, es handele sich um Einzelfälle, verharmlosen dürfe. Von toxischer Männlichkeit ist da die Rede, von radikalen Parallelkulturen bei den Muslimen, von der Kirche als Ort der sexuellen Repression, von den asozialen Reichen, die die Armen dieser Welt ausbeuten, von den Armen, die den Sozialstaat missbrauchen, von Frauen, die alle bitches sind, u.s.w. Jeder wird wahrscheinlich eine Gruppe ausmachen können, die für ihn besonders in Zentrum der Empörung gerückt ist.


    Es stellt sich für mich die Frage: Schwarze Schafe oder Spitze des Eisbergs?


    Da die Resource Aufmerksamkeit begrenzt, die Masse der Nachrichten aber gewaltig ist, stelle ich bei mir selbst und anderen fest, dass die schlechten Nachrichten meine Wirklichkeitswahrnehmung dominieren. Schlechte Nachrichten erzeugen starke Emotionen, erzeugen starke Aufmerksamkeit erzeugen viele Klicks, erzeugen Geld. Starke Emotionen haben prägenden Charakter, prägen mein Bild von bestimmten Sachverhalten, Gruppen oder Entwicklungen. Daher neige ich intuitiv oft zur Eisbergsichtweise: Dies und das ist bestimmt kein Einzelfall – Es ist in Wahrheit noch viel schlimmer, es ist ein genereller Aspekt dieser oder jener Gruppe!


    Eine ähnliche Sichtweise beobachte ich bei mir in Bezug auf Personen. Ich beurteile einen Menschen automatisch nach prägenden Erfahrungen. Mag einer auch den größten Teil der Zeit friedlich und freundlich sein, so dass er mir nicht weiter auffällt, so wird sich mein Bild von ihm doch in dem Augenblick total wandeln, wenn er mich über anpöbelt, weil ich ihm die Vorfahrt genommen habe: Schlechter Tag oder Spitze des Eisbergs?


    Ich bin Morgens ein anderer als Abends, Montags ein anderer als Sonntags, heute ein anderer als von 30 Jahren. Ich habe im meinem Leben schon viele unheilsame Handlungen begangen, aber auch schon vieles Gute getan. Und das meiste war wahrscheinlich weder das eine noch das andere. Eisberg oder Einzelfall? Ich finde das wirklich fast unmöglich zu entscheiden.

    Amoralis ist lateinisch für unmoralisch. Der also diesen Unsinn hier sprachlich verzapft hat, hat nicht kapiert, was er damit aussagen kann.

    Soso... :), ist das so, ja?


    Nach Duden bedeutet amoralisch auch: sich außerhalb moralischer Bewertung befindend. Und das ist genau das, was ich aussagen wollte.


    Ich habe diese Formulierung genutzt auch mit Seitenblick auf die Unterscheidung zwischen Atheismus und Antitheismus... Im Griechischen bedeutet die Vorsilbe a "ohne", bezweifelt also in diesem Fall die Existenz Gottes generell. Eine Spielart davon ist der Antitheismus, bei dem man einen Glauben an Gott explizit als sinnlos oder sogar als gefährlich ablehnt. Es geht beim Tantra ja nicht darum, gegen (anti) die Moral vorzugehen, sondern darum, das moralische Urteil, die moralischen Kategorien für eine gewisse Zeit (beispielsweise während der Meditation) außer Kraft zu setzen, um sich des Ursprungs der Energie bewusst zu werden, die eine unmoralische Handlung so attraktiv macht, um wiederum so die Kraft des unmoralischen Begehrens umzuwandeln und für den Erleuchtungsweg nutzbar zu machen. Man nimmt also für eine gewisse Zeit eine a-moralische Haltung ein, eine Haltung außerhalb moralischer Bewertung, löst sich also zeitweilig von kulturell determinierten Gewohnheiten, um offenen Geistes zu erfahren, welche Kraft in einer unheilsamen Handlung gebunden ist. Ein sehr realistischer und menschenfreundlicher Ansatz meiner Ansicht nach, sofern – und das ist entscheidend – er auf der soliden Basis einer ethisch gefestigten und von den sechs Paramitas geprägten Haltung ausgeübt wird.


    Um mich klar auszudrücken: Für mich ist ein psychischer oder physischer Missbrauch eines Schülers, einer Schülerin durch einen spirituellen Lehrer oder eine spirituelle Lehrerin vollkommen unakzeptabel. Zugleich bin ich mir bewusst, dass unmoralisches Handeln oftmals ungeheuer attraktiv ist, ja, dass das Begehren, das damit verbunden ist, eine massive und lebendige Kraft darstellt. Diese Kräfte werden oft genug durch moralische Gewohnheiten (die angenommen, aber in der Tiefe nicht begriffen sind) unterdrückt. Dieses Fernhalten und Eingrenzen braucht viel Energie und führt dazu, dass Menschen nur einen Teil ihrer Lebenskraft erfahren können. Zugleich führt es dazu, dass der Tabubruch genau dadurch so attraktiv wird, da man sich während dessen auf eine destruktive Weise außerordentlich lebendig, wie befreit fühlt. (Ist der Ruf erst einmal ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert). In diesem Spannungsfeld bewegt sich Tantra meiner Ansicht nach: Wie kann ich die Kraft, deren kulturell determinierte Eingrenzung mich ständig Kraft kostet, in lebendige und produktive Energie umwandeln?


    Wie steht es nun mit den sexuellen Praktiken um traditionellen Tantra?


    Blicken wir noch einmal kurz in den Artikel aus dem Deutschlandfunk, den ich weiter oben verlinkt hatte (Hervorhebungen von mir):


    Zitat

    "Natürlich gibt es auch sexuelle Übungen. Aber auch die sind schon sehr früh visualisierbar. Das heißt, es ist nicht notwendig, dass man einen sexuellen Partner hat, um eine Visualisation durchzuführen. Das ist der Weg, den die meisten tibetisch-buddhistischen Schulen gegangen sind, dass sie diese Übungen verinnerlicht haben, in die Imagination, in die Vorstellung.

    Im Tantrismus gibt es eine Fülle von Übungen: Man meditiert, singt Mantras, übt Yoga. Man identifiziert sich mit einer Gottheit auf einer höheren geistigen Ebene. Ganze dreidimensionale Götterpaläste visualisierte man in der Vollstellungswelt. Sexuelle tantrische Übungen außerhalb der Imagination wären die absolute Ausnahme, sagt Sobisch.

    „Und wenn es tatsächlich noch vorkommt, geschieht das tatsächlich im Privaten. Und wenn jetzt ein buddhistischer Lehrer herkommen würde und einer Frau vorschlagen würde, die überhaupt völlig ungeübt ist und selbst keine hohe Verwirklichung hat, keine große meditative Erfahrung hat, die auffordert mit ihm in so eine tantrische Verbindung einzugehen, dann ist das eine Missbrauchssituation. Ganz einfach. Eine solche Form von tantrischer Sexualität kann nur stattfinden zwischen zwei hochentwickelten Persönlichkeiten. Das gilt für beide Seiten, da kann man nicht irgendwelche Schüler nehmen und sagen: Man macht jetzt hier irgendwie die höchste Tantra-Übung. Das geht einfach nicht.“

    Im Zweifel hilft eine Aussage des Dalai Lama weiter. Er hatte gesagt, dass er aktuell niemanden kenne, der befähigt sei, diese höchsten sexuellen tantrischen Rituale auszuüben.


    -> Quelle

    Das ist genau das, was ich mit religionsbedingtem Realitätsverlust bezeichnen würde:

    Eher nicht. Es hat einfach damit zu tun, dass im Buddhismus zwei Arten von Wirklichkeit gelehrt werden, die beide die gleiche Berechtigung haben: Eine relative und eine absolute Wirklichkeit.


    Von der absoluten Wirklichkeit aus gesehen gibt es weder gut noch böse, weder richtig noch falsch, weder groß noch kein, u.s.w.... Gut, richtig, groß: Das sind alles Begriffe der erst in Relation zu ihrem Gegenteil einen Sinn bekommen. Ohne ihr Gegenteil hören sie auf zu existieren.


    Unsere relative Wirklichkeit besteht aus Vereinbarungen, kulturellen Konstruktionen und Vorstellungen, die für uns und heute Sinn machen, absolut gesehen aber sind sie trughaft und irreal. Das bedeutet nicht, dass sie für uns nicht in begrenztem Maße richtig, notwendig und wichtig sind, im Gegenteil! Aber sie sind eben "nur" innerhalb einer Wirklichkeit real, die auf diese Gegensätze, Vereinbarungen und Vorstellungen gegründet ist.


    Im Buddhismus gibt es aber auch eine absolute Wirklichkeit, über die sich nur sehr rudimentär sprechen lässt. Das macht sie auch so anfällig für Missdeutungen und Fehlinterpretationen. Diese Wirklichkeit ist frei von Vorstellungen, Vereinbarungen und kulturell determinierten Konstruktionen.


    Ist eine Ameise groß oder klein? Einfach zu beantworten: sie ist klein, weil andere Tiere größer sind. Sie ist groß, weil ein Staubkorn kleiner ist. Sie bekommt erst dieses Attribut (groß, klein), wenn ich sie in Relation zu anderen Tieren oder Dingen betrachte. Absolut gesehen ist die Ameise weder groß noch klein. Es braucht einen Betrachter, der die Ameise in Relation zu anderen Tiere setzt -> Dualismus, Vorstellungen, Konstruktionen.


    Das gleiche lässt sich auf die Polaritäten richtig und falsch, weise oder dumm, Demokratie oder Diktatur übertragen.


    Im Tantra wird mit Tabubrüchen gearbeitet, werden Gegensätze, Vereinbarungen und Vorstellungen infrage gestellt und aufgebrochen, um einen (schnellen aber gefährlichen) Blick auf die absolute Wirklichkeit zu öffnen.


    Gefährlich ist dieser Weg deshalb, weil derjenige, der diesen Weg versucht zu gehen, den ethischen Maßstab verlieren kann. Daher wurden tantrische Praktiken früher auch nur an solche Menschen weitergegeben, die die ethischen Richtlinien und die Lehre vollkommen verwirklicht hatten und darin gefestigt waren.

    Es gibt unter den derzeitigen Debatten bezüglich dessen, was politisch korrekt ist und was nicht, noch eine andere, tiefere Realität.


    Zitat

    In der Leerheit gibt es weder Verblendung noch Ende der Verblendung, weder Täuschung noch Ende der Täuschung. Es gibt weder Verfall und Tod noch Ende von Verfall und Tod. Es gibt kein Leiden, keinen Ursprung, kein Ende, keinen Weg. In der Leerheit gibt es weder Weisheit, noch Erlangen, noch Nicht-Erlangen.

    -> Quelle


    Es gibt auch in dieser Realität keine Demokratie und keine political correctness... das ist nicht unmoralisch es ist amoralisch. Es gibt diese Kategorieen einfach nicht.


    Es ist ungut, die tantrischen Praktiken unkommentiert und ungefiltert zu kommunizieren. Darin sehe ich eigentlich das Hauptproblem dieses Artikels. Das ist so, als würde man eine Herzoperation darauf reduzieren, dass ein Mensch einen anderen mit einem Messer verletzt, weil man sich der medizinischen Hintergründe nicht bewusst ist.


    -> Klick


    Zitat daraus:

    Zitat

    Die Tantriker wollten mit ihren Tabubrüchen zeigen, dass alle Dinge eigentlich essentiell gleich sind, die schmutzigen und die reinen Dinge. Ziel ist es, die Dualität zu überwinden.