Mir geht es hier nicht darum, Nagarjunas Verdienste zu schmälern, sondern aufzuzeigen, dass er seine Lehre unbedingt als die Buddhas verkaufen wollte.
Also - darüber, dass die Sthaviravada-Sekten mit dem ganzen Mahāyāna ihre Probleme haben und deren Fundamentalisten das als 'andersfährtig' denunzieren (übrigens ein ausgesprochen westliches 'Problem'), brauchen wir hier doch wohl nicht diskutieren. Wobei da Nāgārjuna mit seiner zwei-Wahrheiten-Dialektik durchaus eine Brücke schlägt. MMK 24, ich komme später darauf zurück. Zunächst: ich sehe nicht, was die Frage, wie 'orthodox' Nāgārjuna aus Sicht von Śrāvakas war, mit seinem Beitrag zum ostasiatischen Mahāyāna im allgemeinen und zur Genese des Chan im speziellen zu tun haben soll. Finde ich offtopic. Trotzdem noch zu Deinem ersten Absatz:
Zitat Ein wichtiger Satz darin (S. 227): Nagarjuna leitet die Leere der Phänomene aus ihrem bedingten Entstehen her.
Ein wenig komplexer ist es schon. Ich habe es mir näher angeschaut, da ich Garfield so eine grobe Fehlinterpretation nicht zugetraut habe. Ich vermute mal, es geht um das hier: "for Nagarjuna, among the most important means of demonstrating the emptiness of phenomena is to argue that they are dependently" - zu den wichtigsten Mitteln, die Leere der Phänomene aufzuzeigen, gehört es, aufzuzeigen, dass dass sie abhängig sind. Das ist eine epistomologische Aussage, keine ontologische, wie Du es anscheinend verstanden hast. Es geht um eine didaktische Frage - um ein Mittel (unter anderen) der Argumentation - nicht darum, dass sich das Eine aus dem Anderen herleitet. Ich übersetze mal einen weiteren Abschnitt von Seite 227:
Zitat Die wichtige philosophische Ausarbeitung beginnt mit 24:15. Von diesem Punkt an offeriert Nagarjuna eine Theorie über die Beziehung zwischen Leere, abhängigem Entstehen und Konvention und argumentiert nicht nur, dass diese drei als korrelierend / zusammenhängend verstanden werden können, sondern dass, wenn die konventionellen Dinge (oder die Leerheit selbst) nicht leer wären, dieser tatsächliche Nihilismus das zur Folge haben würde, den der verdinglichende Gegner dem Madhyamika unterstellt. Diese Taktik, nicht nur gegen jedes Extrem zu argumentieren, sondern auch, dass die widersprüchlichen Extreme sich tatsächlich gegenseitig bedingen, ist ein dialektisches Markenzeichen von Nagarjunas philosophischem Ich.
Da leitet sich eben nicht eines vom anderen her; Leere, abhängiges Entstehen und Konvention sind lediglich unterschiedliche Aspekte der einen Realität - deren 'verhüllte Wahrheit' (saṃvṛtisatya, 'empirische Wahrheit'). Um Deinen ersten Absatz abzuschließen:
Zitat Bedingtes Entstehen ist die Erklärbarkeit (expicability) und Stimmigkeit (coherence) des Universums.
Auch hier lohnt etwas mehr Kontext, also nochmals Garfield S. 227:
Zitat Die Leerheit von Verursachung geltend zu machen bedeutet, die Nützlichkeit unseres kausalen Diskurses und unserer Erklärungspraxis zu akzeptieren, aber der Versuchung zu widerstehen, diese als auf kausalen Kräften beruhend zu betrachten oder eine solche Begründung zu fordern. Das abhängige Entstehen ist einfach die Erklärbarkeit und Kohärenz des Universums. Seine Leerheit ist die Tatsache, dass dass es nicht mehr gibt als das.
Entscheidend ist die Nützlichkeit des Diskurses - bei Nāgārjuna die Nützlichkeit der Dekonstruktion. Wobei ich die Dekonstruktion (von Wort und Schrift - und damit letztlich von begrifflichem Denken) als eine Voraussetzung der Annäherung an die 'Überlieferung jenseits von Wort und Schrift' ansehe - das bereits angesprochene 'gate, paragate, parasamgate'. Speziell dieser Punkt ist das wohl wichtigste Vermächtnis des Sanlun (Madhyamaka) an Chan. Das wunian, wuxin (Nicht-Gedanke, Nicht-Geist), auch Bodhidharmas biguan (Wand-Betrachtung) sind nichts als perfekte Dekonstruktion. Nāgārjuna ist nicht einfach ein Philosoph, er weist einen Weg der Praxis.
Daher übrigens auch die Gleichgültigkeit der klassischen (Tang-) Chanmeister hinsichtlich konsistenten Lehrsystemen. Das überließ man Tiantai und Huayan. Im Chan-Diskurs werden da sehr unterschiedliche Ansätze aufgegriffen - psychologische wie das Weishi (Vijñānavāda), das eine Synthese mit der Tathāgatagarbha-Überlieferung eingegangen war und sich vom Monismus zum Non-Dualismus entwickelte, Huayan-Ideen wie die der wechselseitigen ungehinderten Durchdringung der Phänomene - und natürlich den der Leere, der völligen Dekonstruktion. Nicht Buddha, nicht Geist. Entscheidend im Chan ist nicht die Konsistenz des Diskurses, sondern seine Nützlichkeit. Was natürlich auch implizit eine Offenheit für kulturelles Substrat angeht. Seien es nun daoistische Ideen oder christliche. Wenn es denn nützt ...
Wobei es nun nicht nur die 'drei Abhandlungen' waren, die zu Beginn des 5. Jahrhunderts den geistegeschichtlichen Boden für Chan mit(!) vorbereiteten, sondern natürlich auch die diesen Śāstras korrespondierenden Sūtren: das von Huineng hoch geschätzte Diamantsūtra, das Vimalakīrti-nirdeśa-sūtra, das Mahāprajñāpāramitā-sūtra in 27 Bänden und natürlich der Nāgārjuna zugeschriebene Kommentar dazu, das Mahāprajñāpāramitā-śāstra in 100 Bänden. Alles zwischen 401 und 413 von Kumārajīva und seinem Team übersetzt, wie auch die Sanlun ('drei Abhandlungen') von Nāgārjuna und Kanadeva.
Dein ganzer zweiter Absatz ist völlig offtopic für unser Thema Proto- und frühes Chan. Trotzdem eine längere Anmerkung, weil diese Lichtkegel-Geschichte durchaus interessant ist. Ein Lichtkegel ist ja definiert als die Fläche der Raumzeit mit den möglichen Lichtstrahlen, die durch ein gegebenes Ereignis verlaufen. Das Ereignis selbst ist definiert als der Zustand eines vierdimensional (drei räumliche Koordinaten, eine zeitliche) bestimmten Punktes der Raumzeit. Zu jedem Ereignis (was man als physikalische Definition von 'dharma' verstehen kann) gibt es einen dreidimensionalen Vergangenheits- und einen Zukunftslichtkegel; d.h. die Bereiche der Kegel umfassen alle anderen Ereignisse, die das Ereignis beeinflussen können (seine absolute Vergangenheit) bzw. die selbst durch das Ereignis beeinflusst werden können (seine absolute Zukunft). Nun gibt es - Folge der Grenze der Lichtgeschwindigkeit - Ereignisse, die außerhalb der Lichtkegel anderer Ereignisse liegen, also mit diesen nicht unmittelbar wechselwirken können (wobei ich jetzt nicht mit Quantenverschränkung anfangen will so firm bin nicht). Dessenungeachtet nehmen die Überschneidungen beider Lichtkegel mit wachsender temporaler Distanz zum Ereignis kontinuierlich zu - den Zeitpunkt der Identität aller Vergangenheitslichtkegel bestimmt man ja mit zunehmender Genauigkeit - den sog. big bang. Was die Zukunftslichtkegel angeht, muss die Physik zunächst einmal die Geometrie der Raumzeit klären - ob sie hyperbolisch, flach oder sphärisch ist (was natürlich nur zweidimensionale Analogien für dreidimensionale Modelle sind, wie auch der Kegel). Letztlich geht es darum, ob das Raumzeit-Volumen endlich oder unendlich ist.
Aber zurück zum Thema - Du unterstellst Nāgārjuna positive ontische Aussagen, die Du widerlegt siehst. Das läuft auf das hinaus, was die Tibeter eine Svatantrika-Interpretation des Madhyamaka nennen: aus Nāgārjunas Dekonstruktion positive Aussagen abzuleiten. Bhāviveka (auf den diese Interpretation zurückgeht) wurde allerdings erst im 7. Jahrhundert übersetzt - ist also für unsere Diskussion von Proto- und frühem Chan hier anachronistisch. Anachronistisch natürlich auch 'Widerlegungen' Nāgārjunas mit Argumenten aus der modernen Physik. Offtopic ohnehin (auch Igor07 ), geht es hier doch nicht um eine aktuelle Bewertung Nāgārjunas, sondern um seine Rezeption im China des 5. Jahrhunderts.
Nagarjuna es laut Garfield so versteht: Zu behaupten, dass bedingtes Entstehen leer sei, heißt letztlich, dass die Leere der Phänomene selbst leer ist.
Ist etwas verkürzt, aber ja - ein wichtiger Punkt. Die 'Leerheit der Leere' unterstreicht, dass es überhaupt nicht um eine Ontologie geht, sondern um Dekonstruktion von Sprache und begrifflichem Denken.
Zitat 24.18 Das Entstehen in gegenseitiger Abhängigkeit (pratītyasamutpāda), dies ist es, was wir 'Lehrheit' nennen. Das ist [aber nur] ein abhängiger Begriff (prajñapti); gerade sie (die Leerheit) bildet den mittleren Weg.
Was den hier noch etwas kryptischen letzten Halbsatz angeht, so wird dessen Zielrichtung im letzten, dem 27. Kapitel deutlich, das sich mit der Zurückweisung von Sichtweisen befasst - aller möglichen Sichtweisen über das Selbst und die Welt und ihr Verhältnis zueinander, gegliedert in 16 Klassen. Die Leerheit, die den mittleren Weg bildet, ist eine Leerheit von Sichtweisen - auch der von der Leerheit.
Übrigens nimmt dieser Abschnitt 27 unübersehbar Bezug auf das Brahmajāla Sūtra bzw. Sutta (im Palikanon DN.1), dem diese 16 falschen Sichtweisen entnommen sind. Möglicherweise ein später hinzugefügter Abschnitt mit apologetischer Intention, aber im Zhonglun enthalten und in China als authentisch rezipiert. Also - ich persönlich assoziiere mit 'Zurückweisen jeglicher Sichtweisen' problemlos Zen ...
Allerdings sagt derselbe Nagarjuna (wenn es denn stimmt, dass auch diese Schrift vom selben ist) im Bodhicittavivarana
Eben nicht "derselbe Nagarjuna". In Tibet wird Nāgārjuna ja so einiges untergeschoben. Das stammt mit ziemlicher Sicherheit aus dem 7. Jhdt., ist also ca. ein halbes Jahrtausend jünger. Der Autor wird gelegentlich hilfsweise in der Forschung als 'tantrischer Nāgārjuna' bezeichnet. Wurde mW auch nicht ins Chinesische übersetzt, also völlig offtopic. Ansonsten möchte ich darum bitten, zumindest in diesem Thread Dōgen aus dem Spiel zu lassen; ich hab's mir schon verkniffen, auf Deine provokante Bemerkung zum jijuyu zanmai zu reagieren - das trägt hier zur Sache absolut nichts bei.
sind nicht dasselbe wie entleerte Phänomene bei Nagarjuna, wenn es da noch Früchte des Karma gibt
Offen gesagt frage ich mich im Moment, warum ich mir in meinem letzten Posting die Mühe gemacht habe, Dir zu verklickern, was in MMK 17 steht, wenn Du denselben Unsinn, auf den ich da geantwortet habe, wiederholst ohne auf meine Argumentation einzugehen. Und ob da eine Fortführung dieser Diskussion noch Sinn macht.
Trotzdem ein bibliografischer Hinweis für wen es auch immer interessant sein sollte. Wer sich für Sanlun / Sanron (ostasiatisches Madhyamaka) interessiert, sollte sich außer mit Nāgārjunas Zhong lun / MMK auch mit seinem nur in chinesischer Übersetzung erhaltenen Shiermen lun (Dvādaśanikāya-śāstra, 'Abhandlung der 12 Tore') sowie mit Kanadeva / Aryadevas Bai lun (Śata-śāstra, '100 Verse' - von denen allerdings nur die ersten 50 übersetzt sind) befassen. Das sind die '3 Abhandlungen', nach denen die Schule in China benannt wurde. Qellen für Zhong lun / MMK habe ich genannt, für die anderen gibt es leider keine deutsche Übersetzung. Vom Shiermen lun gibt es eine Übersetzung mit einführenden Essays und Kommentaren von Hsueh-li Cheng, leider recht teuer. Ich habe eine PDF-Arbeitskopie ohne chinesische Schriftzeichen 'only for personal use', die ich bei ernsthaftem Interesse zur Verfügung stellen könnte. Das Bai lun wurde von Giuseppe Tucci übersetzt und in 'Pre-Diṅnāga Buddhist Texts on Logic From Chinese Sources' übersetzt, darin auch Nāgārjunas erst 541 ins Chinesische übersetzte Huizheng lun (Vigrahavyāvartanī). Nur antiquarisch erhältlich (1. Auflage 1929, 2. 1981); ich habe einen Reprint von 1998 (Pilgrim House Kathmandu) gefunden. Das Dazhi du lun (Mahāprajñāpāramitā-śāstra) wurde von Etienne Lamotte in fünf Bänden ins Französische übersetzt, daraus ins Englische übertragen von Gelongma Karma Migme Chodron. Frei erhältlich im Internet.
Was sonst noch so unter Nāgārjuna oder Madhyamaka läuft, mag interessant sein - ist aber nicht für das ostasiatische Mahāyāna und Chan von Belang.