Beiträge von Sudhana im Thema „Religion aus materialistisch-wissenschaftlicher Perspektive“

    Pensionierte Physiker sind das schlimmste.

    Manche müssen nicht mal pensioniert sein - wie Markolf Niemz. Ich habe mir mal für eine Besprechung sein damals aktuellstes Buch 'Bin ich, wenn ich nicht mehr bin?' angetan, wobei mir - selbst beruflich eher vom Ingenieurwesen her kommend - für fachliche Rückfragen freundlicherweise mein Sohn (Diplom in Physik, Promotion in Biologie) zur Verfügung stand. U.a. ging es da um die Möglichkeit der Speicherung und zum Abruf von Informationen in elektromagnetischer Strahlung, speziell Licht.


    Mein persönliches Fazit: das ist kein solider naturwissenschaftlicher Boden mehr. Das ist metaphysische Spekulation als Wissenschaft verkleidet. Das heisst, es fehlt an empirischer Evidenz. Das zielt nach meinem Eindruck auf ein Publikum mit unklarem Wissenschaftsverständnis, das sich dessenungeachtet gerne von (tatsächlich oder vermeintlich) naturwissenschaftlichen Argumenten beeindrucken lässt.


    Wobei ich das nun nicht verallgemeinern möchte; wie gesagt habe ich mich nur mit Niemz näher befasst. Ich kann mich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass sich manche Naturwissenschaftler (insbesondere Physiker) als Priester der Moderne mit umfassendem Welterklärungsanspruch verstehen. Wogegen natürlich nichts einzuwenden ist; zu Welterklärungen / Weltdeutungen sind Naturwissenschaftler nicht weniger befugt als jeder andere Mensch. Problematisch wird es allerdings, wenn für solche Deutungen zumindest implizit empirische Evidenz behauptet (bzw. geglaubt) und entsprechende Autorität beansprucht wird.


    Auf einer tieferen Ebene verweist dies natürlich auch auf ein Bedürfnis des Publikums solcher Wissenschaftspriester - die alte Sehnsucht nach einer umfassenden, 'objektiven' Wahrheit, nach der man sein Leben ausrichten kann. Und genau hier liegt dann auch die innere Verwandtschaft mit den Priestern traditioneller Religionen, deren Ruf als Quelle objektiver Wahrheiten wohl unumkehrbar beschädigt ist. Das Bedürfnis nach 'wahren' Welterklärungen ist ja nicht in gleichem Maße geschwunden wie das Vertrauen in traditionelle Religionen. Dagegen gibt es auf sozialer Ebene ein großes Vertrauen in die Naturwissenschaft in Verbindung mit eher vagen Vorstellungen über den Gültigkeitsbereich ihrer Aussagen. Die Folge sind pseudowissenschaftliche Religionen als moderne Sinnangebote.

    Zunächst einmal Danke Leonie für den kurzen Abriss des Histomat; das fasst das Wesentliche treffend zusammen. Diese Auffassung läuft bezüglich unseres Themas darauf hinaus, dass die Korrelation 'religiöse Doktrin' und die ihr korrespondierenden sozialen Institutionen als bedingt durch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse (einerseits der technische Entwicklungsstand der Produktionsmittel und andererseits die Verfügungsgewalt darüber) aufgefasst werden. Das ist die materielle Basis, die - so jedenfalls die Prämisse des Histomat - den 'kulturellen Überbau' bedingt. Das Sein bestimmt das Bewusstsein - das ist Materialismus in nuce. Um es zu wiederholen: eine entsprechende materialistisch-wissenschaftliche Kritik ("Betrachtung") religiöser Doktrinen ist bei dieser Prämisse auf ihre gesellschaftliche Funktion beschränkt.

    Ich sehe in dem Philosophen David Lewis eine interessanten Vertreter des Materialismus, da er davon ausgeht, dass jedes Erlebnis mit einem physischen (neurochemischen) Zustand identisch ist. Lewis bezeichnet sich selbst als Realist und reduktiver Materialist.

    Diese postulierte Identität ist natürlich selbst keine beweisbare Annahme sondern lediglich eine pragmatische. Es ist offensichtlich ein positivistischer Ansatz - insofern mit den von Wittgenstein im Tractatus logico-philosophicus aufgezeigten Begrenzungen und Defiziten hinsichtlich Ethik, aber auch Kausalität. Wäre ggf. interessant, wie er mit Poppers Kritik der Verifikation umgeht - SteFo mit seinen "evidenten Erscheinungen" wäre bei Popper jedenfalls durchgefallen; das mag eine materielle Perspektive sein, aber keine materiell-wissenschaftliche.


    Was nun dialektischen Materialismus angeht, so ist speziell wegen seiner Buddhismuskritik natürlich Slavoj Žižek von Interesse (zur Einführung hier und hier, es gibt auch etliche längere rants von ihm auf youtube). Wobei ich da den Verdacht einer leichten pathologischen Obsession hege - nicht als Einziger, wie sich herausgestellt hat (vgl. hier - Money Qote: "Manifestly, Zizek dislikes Buddhism insofar as it gives you a good reason not to be a Marxist."). Jedenfalls, wie ich finde, eine "materialistisch-wissenschaftliche" Kritik, mit der man sich als Buddhist durchaus auseinandersetzen kann.

    Um sich Religion aus einer "materialistisch-wussenschafzlichen" Perspektive zu nähern ist es unumgänglich zu definieren was unter einer "materialistisch- wissenschaflichen Perspektive" verstanden wird.


    Ansonsten macht das wenig Sinn und jeder versteht darunter was anderes.

    Der Begriff ist definiert. Das Problem entsteht, wenn man im Diskurs Begriffe verwendet, deren Definition und Begriffsgeschichte man nicht kennt und sich stattdessen selbst Definitionen ausdenkt.

    Die materialistisch-wissenschaftliche Betrachtung von religiösen Doktrinen dient der Re-konstruktion des Ideen-(oder Gedanken)-Systems als Ganzem und dessen Überprüfung auf Kohärenz und Konsistenz

    Zunächst einmal - die Betrachtung von religiösen Doktrinen hat absolut nichts mit Materialismus zu tun. Religionsphilosophie ist zwangsläufig eine Geisteswissenschaft, deren Thema Ideengeschichte ist. Erst in der Religionssoziologie ist ein möglicher Ansatz für eine materialistische Betrachtung gegeben, wo es um kulturelle (insbesondere ökonomische, soziale und politische) Korrelate religiöser Doktrinen geht. Das ist etwas völlig anderes als eine Überprüfung dieser Doktrinen auf Kohärenz und Konsistenz. Ein solches kulturelles und materielles Korrelat ist etwa der erstmals mit dem Homo neanderthalensis auftretende Brauch, verstorbene Artgenossen zu bestatten. Über die korrelierenden religiösen Doktrinen (deren Existenz man lediglich mit einiger Wahrscheinlichkeit postulieren kann) sagen diese materiellen Daten herzlich wenig aus, erst recht über deren Kohärenz und Konsistenz. Du versuchst, mit einem Sieb Wasser zu schöpfen; das Sieb wird zwar nass, aber damit hat es sich auch schon. Das Problem ist nicht das Wasser, sondern das untaugliche Werkzeug - was Dir ja mittlerweile auch selbst aufgefallen zu sein scheint. Du setzt im Dunkeln eine Sonnenbrille auf.


    Vielleicht liegt das Problem ja in einem unklaren Verständnis von Materialismus - dass wir hier also von unterschiedlichen "Brillen" reden. 'Skeptizismus' ist da, glaube ich, ohnehin ein fruchtbarerer Ansatz. Das bedeutet, zunächst die Frage nach den Quellen gültiger Erkenntnis zu beantworten - und auf dieser Ebene ist speziell der Buddhismus grundsätzlich skeptizistisch. Als Quelle gilt ausschließlich die Apperzeption (ṣaḍāyatana, sparśa, vedanā), die durch diskursiv-konzeptuelles Denken (vikalpa) eine 'entfaltete' differenzierte Vorstellung (prapañca) schafft, beruhend auf grundlegenden Dichotomien, insbesondere Existieren / Nichtexistieren (asti / nāsti), hypostasiert zu Sein / Nichtsein (bhāva / abhāva) sowie die Dichotomie Identität / Differenz (ekatva / anyatva). Auf dieser Grundlage entstehen differenziertere Funktionen: Ideen (saṁkalpa), Annahmen (parikalpa), Meinungen (kalpanā) über die derart vereinzelten konzeptuellen Phänomene (dharmas), die wiederum systematisiert als als Doktrinen, Theorien, 'Weltanschauungen', Sichtweisen (dṛṣṭi) kommuniziert (und ggf. an-/eingenommen) werden.


    Das sind Deine "Brillen" - Materialismus ist eine solche. Und es ist schon einmal gut, wenn man weiss, dass man eine Brille trägt - dann kann man sie auch absetzen. Wenn man eine Brille aufsetzt, sollte es eine für den Zweck geeignete sein; wenn man die Sterne betrachtet, ist eine Lesebrille eher hinderlich.


    Jedenfalls sind diese dṛṣṭi (um statt 'Doktrinen' diesen umfassenderen Begriff zu verwenden) Strukturen, die regelmäßige Korrelationen zwischen vereinzelten konzeptuellen Phänomenen der 'entfalteten Vorstellung' beschreiben - mehr oder weniger begründet. Dabei ist dann die Funktion des Schließens nach logischen Regeln eine sekundäre epistomologische Quelle. Wobei spätestens seit Kant bekannt sein dürfte, dass eben diese Funktion (bzw. Kausalität generell) eine apriorische ist - mithin lediglich die Form der entfalteten Vorstellung beschreibt, aber nicht das Vorgestellte. Was - so jedenfalls nach buddhistischer dṛṣṭi - auch gar nicht existiert, sondern eine grundlegende Fehlannahme ist (atmadṛṣṭi). Das abendländische Denkmodell einer Substanz (eines 'Dinges an sich') mit Akzidenzen (nach Kant 'das Reale in der Substanz') unterscheidet sich davon deutlich.


    Jedenfalls hat der Buddhismus denselben sparsamen epistomologischen Ansatz wie der Skeptizismus. Insbesondere schließt er - in auffälligem Kontrast insbesondere zu den anderen Weltreligionen - als gültige Quellen von Erkenntnis Offenbarungen und Tradiertes aus (paradigmatisch ist da das explizite Verwerfen des Veda durch Buddha), was die Subsumierung seiner Lehren unter 'religiöse Doktrin' etwas problematisch macht - gerechtfertigt ist dies lediglich durch den 'religiösen' Charakter ihrer sozialen Korrelate, d.h. ihre Ähnlichkeit mit den entsprechenden Institutionen anderer Religionen. 'Religion' ist vor allem ein soziales Phänomen, da bin ganz bei Durkheim und Weber. Das, was ich oben als 'Struktur' der entfalteten Vorstellung beschrieben habe, also das Korrelieren scheinbar isolierter Phänomene, nennt Luhmann 'Systeme' - und von Interesse sind diese vor allem als soziale Funktionssysteme. Hier ist eine materialistische, auf Empirie beruhende Untersuchung dieser religionssoziologischen Phänomene möglich und sinnvoll. Zu Kohärenz und Konsistenz der religiösen Doktrinen jedoch, mit der diese Phänomene korrelieren, also der spezifischen Sichtweise, an der sich eine weltanschaulich definierte soziale Gruppe mit ihren Meinungen und Handlungen orientiert, sagt das sehr wenig aus. Dazu bedarf es vielmehr einer logischen Analyse der Doktrin, also der Nutzung der o.g. sekundären Erkenntnisquelle.

    Die Ankündigung lautet "streng wissenschaftliche, d.h. natürlich materialistisch-wisssenschaftlich[e]" Perspektive ("Brille").

    Da hattest Du mich schon verloren. Das ist nicht die Ankündigung einer ergebnisoffenen Diskussion, sondern ähnelt verteufelt einer versteckten petitio principii. Das strenge "streng" ist ja eine reine Luftnummer - wissenschaftstheoretisch gehst Du schlicht von einem naiven wissenschaftlichen Realismus aus - und das ist alles andere als "natürlich". Damit ignorierst Du nicht nur andere realistische Wissenschaftstheorien, sondern erst recht nicht-realistische Wissenschaftstheorien (u.a. Positivismus, Pragmatismus, konstruktiven Empirismus usw.). Zur Orientierung: wikipedia. Dass Deine "materialistisch-wissenschaftliche Perspektive" so ziemlich die ungeeignetste für das Verständnis der Funktion religiöser Doktrinen ist, verurteilt die Diskussion Deiner Thesen von vorneherein zur Unfruchtbarkeit. Und das hier:

    Die doktrinäre Ausdrucksform des buddhistischen abhängigen Entstehens kann aus der materialistisch-wissenschaftlichen Perspektive betrachtet und begrifflich analysiert werden

    Kann man natürlich machen. Nur wozu? Zum Verständnis verhilft das nicht. Dazu braucht es einen hermeneutischen Ansatz, keinen empirischen. Um Deine Metapher aufzugreifen - wenn schon eine Perspektive, dann eine introspektiv ausgerichtete. Nimm die Brille ab, die brauchst Du da nicht.


    Ansonsten noch eine Lektüreempfehlung (Rezension) zum Thema Neurozentrismus.