Die materialistisch-wissenschaftliche Betrachtung von religiösen Doktrinen dient der Re-konstruktion des Ideen-(oder Gedanken)-Systems als Ganzem und dessen Überprüfung auf Kohärenz und Konsistenz
Zunächst einmal - die Betrachtung von religiösen Doktrinen hat absolut nichts mit Materialismus zu tun. Religionsphilosophie ist zwangsläufig eine Geisteswissenschaft, deren Thema Ideengeschichte ist. Erst in der Religionssoziologie ist ein möglicher Ansatz für eine materialistische Betrachtung gegeben, wo es um kulturelle (insbesondere ökonomische, soziale und politische) Korrelate religiöser Doktrinen geht. Das ist etwas völlig anderes als eine Überprüfung dieser Doktrinen auf Kohärenz und Konsistenz. Ein solches kulturelles und materielles Korrelat ist etwa der erstmals mit dem Homo neanderthalensis auftretende Brauch, verstorbene Artgenossen zu bestatten. Über die korrelierenden religiösen Doktrinen (deren Existenz man lediglich mit einiger Wahrscheinlichkeit postulieren kann) sagen diese materiellen Daten herzlich wenig aus, erst recht über deren Kohärenz und Konsistenz. Du versuchst, mit einem Sieb Wasser zu schöpfen; das Sieb wird zwar nass, aber damit hat es sich auch schon. Das Problem ist nicht das Wasser, sondern das untaugliche Werkzeug - was Dir ja mittlerweile auch selbst aufgefallen zu sein scheint. Du setzt im Dunkeln eine Sonnenbrille auf.
Vielleicht liegt das Problem ja in einem unklaren Verständnis von Materialismus - dass wir hier also von unterschiedlichen "Brillen" reden. 'Skeptizismus' ist da, glaube ich, ohnehin ein fruchtbarerer Ansatz. Das bedeutet, zunächst die Frage nach den Quellen gültiger Erkenntnis zu beantworten - und auf dieser Ebene ist speziell der Buddhismus grundsätzlich skeptizistisch. Als Quelle gilt ausschließlich die Apperzeption (ṣaḍāyatana, sparśa, vedanā), die durch diskursiv-konzeptuelles Denken (vikalpa) eine 'entfaltete' differenzierte Vorstellung (prapañca) schafft, beruhend auf grundlegenden Dichotomien, insbesondere Existieren / Nichtexistieren (asti / nāsti), hypostasiert zu Sein / Nichtsein (bhāva / abhāva) sowie die Dichotomie Identität / Differenz (ekatva / anyatva). Auf dieser Grundlage entstehen differenziertere Funktionen: Ideen (saṁkalpa), Annahmen (parikalpa), Meinungen (kalpanā) über die derart vereinzelten konzeptuellen Phänomene (dharmas), die wiederum systematisiert als als Doktrinen, Theorien, 'Weltanschauungen', Sichtweisen (dṛṣṭi) kommuniziert (und ggf. an-/eingenommen) werden.
Das sind Deine "Brillen" - Materialismus ist eine solche. Und es ist schon einmal gut, wenn man weiss, dass man eine Brille trägt - dann kann man sie auch absetzen. Wenn man eine Brille aufsetzt, sollte es eine für den Zweck geeignete sein; wenn man die Sterne betrachtet, ist eine Lesebrille eher hinderlich.
Jedenfalls sind diese dṛṣṭi (um statt 'Doktrinen' diesen umfassenderen Begriff zu verwenden) Strukturen, die regelmäßige Korrelationen zwischen vereinzelten konzeptuellen Phänomenen der 'entfalteten Vorstellung' beschreiben - mehr oder weniger begründet. Dabei ist dann die Funktion des Schließens nach logischen Regeln eine sekundäre epistomologische Quelle. Wobei spätestens seit Kant bekannt sein dürfte, dass eben diese Funktion (bzw. Kausalität generell) eine apriorische ist - mithin lediglich die Form der entfalteten Vorstellung beschreibt, aber nicht das Vorgestellte. Was - so jedenfalls nach buddhistischer dṛṣṭi - auch gar nicht existiert, sondern eine grundlegende Fehlannahme ist (atmadṛṣṭi). Das abendländische Denkmodell einer Substanz (eines 'Dinges an sich') mit Akzidenzen (nach Kant 'das Reale in der Substanz') unterscheidet sich davon deutlich.
Jedenfalls hat der Buddhismus denselben sparsamen epistomologischen Ansatz wie der Skeptizismus. Insbesondere schließt er - in auffälligem Kontrast insbesondere zu den anderen Weltreligionen - als gültige Quellen von Erkenntnis Offenbarungen und Tradiertes aus (paradigmatisch ist da das explizite Verwerfen des Veda durch Buddha), was die Subsumierung seiner Lehren unter 'religiöse Doktrin' etwas problematisch macht - gerechtfertigt ist dies lediglich durch den 'religiösen' Charakter ihrer sozialen Korrelate, d.h. ihre Ähnlichkeit mit den entsprechenden Institutionen anderer Religionen. 'Religion' ist vor allem ein soziales Phänomen, da bin ganz bei Durkheim und Weber. Das, was ich oben als 'Struktur' der entfalteten Vorstellung beschrieben habe, also das Korrelieren scheinbar isolierter Phänomene, nennt Luhmann 'Systeme' - und von Interesse sind diese vor allem als soziale Funktionssysteme. Hier ist eine materialistische, auf Empirie beruhende Untersuchung dieser religionssoziologischen Phänomene möglich und sinnvoll. Zu Kohärenz und Konsistenz der religiösen Doktrinen jedoch, mit der diese Phänomene korrelieren, also der spezifischen Sichtweise, an der sich eine weltanschaulich definierte soziale Gruppe mit ihren Meinungen und Handlungen orientiert, sagt das sehr wenig aus. Dazu bedarf es vielmehr einer logischen Analyse der Doktrin, also der Nutzung der o.g. sekundären Erkenntnisquelle.