Je nach Gesellschaft bzw. Kultur kann "Ich" das oder jenes oder etwas anderes bedeuten. In unserer westliche Gesellschaft hat man allgemein sicher eine andere Vorstellung vom "ich", als in einer fundementalreligiösen. Jede Kultur hat aber die Neigung, die eigene Konvention für die "Wahre" zu halten. Auch ein vielfältige, eher chamäleonhafte Definition vom Ich, kann man als die "einzig Wahre bzw. Wirkliche" betrachten. Das ist dann umso schwerer als Attaglaube zu entlarven.
Ich greife die Wandelbarkeit der Vorstellungen vom Ich, aber auch von der Basis der Zuschreibung des Ich, nochmal auf. Ich habe mich erinnert, dass schon Horkheimer in seinem Aufsatz "Traditionelle und Kritischen Theorie" von der Geschichtlichkeit der Wahrnehmungsorgane sprach.
QuoteDie Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und ihrer Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.
So auch Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"
QuoteInnerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit
der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch
die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und
Weise, in der die menschliche, Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. Die Zeit der Völkerwanderung, in der die spätrömische Kunstindustrie und die Wiener Genesis entstanden, hatte nicht nur eine andere Kunst als die Antike, sondern auch eine andere Wahrnehmung.
Bei McLuhan in der "Gutenberg Galaxis" findet sich die Frage "Warum nicht alphabetische Kulturen ohne lange Übung keine Filme oder Fotos ansehen können". Er berichtet von einer Studie, in der einem nicht-alphabetisierten Publikum in einem Entwicklungsland ein Film gezeigt wurde zu dem Thema, wie man stehendes Wasser loswird, indem man Teiche austrocknet und leere Büchsen aufsammelt. Die Zuschauer wurden gefragt, was sie gesehen hätten und sie sagten, sie hätten ein Huhn gesehen. Die Filmvorführer waren sich gar nicht bewusst, dass in dem Film ganz am Rand auch kurz ein aufgescheuchtes Huhn vorkommt und mussten sich den Film daraufhin erst selbst noch einmal anschauen.
QuoteDer Alphabetismus gibt den Menschen die Fähigkeit, ihre Augen auf einen Punkt zu fokussieren, der in einiger Entfernung vom Bild liegt, so daß sie das ganze Bild mit einem Blick überschauen können. Nichtalphabetische Menschen besitzen diese erworbene Gewohnheit nicht und schauen Gegenstände nicht auf unsere Weise an. Vielmehr tasten sie mit ihren Augen Gegenstände und Bilder so ab, wie wir die Druckseite abtasten, Stück um Stück. Daher haben sie keinen distanzierten Gesichtspunkt. Sie sind völlig beim Objekt. Sie fühlen sich in es hinein. Das Auge wird sozusagen nicht perspektivisch, sondern tastend gebraucht. Euklidische Räume, die weitgehend auf der Trennung des Sehens vom Tasten und vom Hören beruhen, sind ihnen unbekannt.
Ein anderes Beispiel für die historische und gesellschaftliche Präformation der (Selbst-)Wahrnehmung und deren Basis ist der Symptomwandel psychiatrischer Erkrankungen. So wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder diskutiert, ob frühe Störungen, d.h. Störungen der Bindung in den ersten Lebensjahren, zugenommen haben oder ob wir sogar in einem "Zeitalter des Narzißmus" leben. Dazu schreibt Reimut Reiche in dem Text "Haben frühe Störungen zugenommen?"
QuoteStatt von einer Zunahme früher Störungen sollte man darum besser von dem Zwang zur Individualisierung sprechen. Es ist demnach nicht so, dass die klassischen Neurosen bzw. neurotischen Konflikte ab- und frühe bzw. narzisstische und Identitätsstörungen zunehmen, sondern dass "etwas" - ein Unglück, ein Leiden, eine Überforderung usw. -, das bisher ohne Sprache und unbenennbar war, in der Tradition festgefügter Lebensordnungen eingebunden war, sich als Wunsch und als Zwang nach individueller Selbstverwirklichung artikuliert. Die hierbei auftretenden Störungen, Beziehungskonflikte usw. sind ebenso Teil von neuartigen kulturellen Freisetzungsphänomenen wie die expandierenden Zuwachsraten im Breitensport, im Sextourismus, in der Literaturproduktion und in den Ehescheidungen
In diese Analyse ist die Digitalisierung als Wandel des Leitmediums unserer Gesellschaft noch gar nicht eingepreist. Hier fänden sich mit Sicherheit weitere Beispiele für den Wandel in der Konstitution von Identitäten und gesellschaftlichen Zwängen.