Beiträge von Mabli im Thema „Nagarjuna: Die Lehre von der Mitte“

    Je nach Gesellschaft bzw. Kultur kann "Ich" das oder jenes oder etwas anderes bedeuten. In unserer westliche Gesellschaft hat man allgemein sicher eine andere Vorstellung vom "ich", als in einer fundementalreligiösen. Jede Kultur hat aber die Neigung, die eigene Konvention für die "Wahre" zu halten. Auch ein vielfältige, eher chamäleonhafte Definition vom Ich, kann man als die "einzig Wahre bzw. Wirkliche" betrachten. Das ist dann umso schwerer als Attaglaube zu entlarven.

    Ich greife die Wandelbarkeit der Vorstellungen vom Ich, aber auch von der Basis der Zuschreibung des Ich, nochmal auf. Ich habe mich erinnert, dass schon Horkheimer in seinem Aufsatz "Traditionelle und Kritischen Theorie" von der Geschichtlichkeit der Wahrnehmungsorgane sprach.

    Zitat

    Die Menschen sind nicht nur in der Kleidung und im Auftreten, in ihrer Gestalt und ihrer Gefühlsweise ein Resultat der Geschichte, sondern auch die Art, wie sie sehen und hören, ist von dem gesellschaftlichen Lebensprozeß, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen. Die Tatsachen, welche die Sinne uns zuführen, sind in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.

    So auch Walter Benjamin in seinem Aufsatz "Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit"

    Zitat

    Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit

    der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch

    die Art und Weise ihrer Sinneswahrnehmung. Die Art und

    Weise, in der die menschliche, Sinneswahrnehmung sich organisiert - das Medium, in dem sie erfolgt - ist nicht nur natürlich, sondern auch geschichtlich bedingt. Die Zeit der Völkerwanderung, in der die spätrömische Kunstindustrie und die Wiener Genesis entstanden, hatte nicht nur eine andere Kunst als die Antike, sondern auch eine andere Wahrnehmung.

    Bei McLuhan in der "Gutenberg Galaxis" findet sich die Frage "Warum nicht alphabetische Kulturen ohne lange Übung keine Filme oder Fotos ansehen können". Er berichtet von einer Studie, in der einem nicht-alphabetisierten Publikum in einem Entwicklungsland ein Film gezeigt wurde zu dem Thema, wie man stehendes Wasser loswird, indem man Teiche austrocknet und leere Büchsen aufsammelt. Die Zuschauer wurden gefragt, was sie gesehen hätten und sie sagten, sie hätten ein Huhn gesehen. Die Filmvorführer waren sich gar nicht bewusst, dass in dem Film ganz am Rand auch kurz ein aufgescheuchtes Huhn vorkommt und mussten sich den Film daraufhin erst selbst noch einmal anschauen.

    Zitat

    Der Alphabetismus gibt den Menschen die Fähigkeit, ihre Augen auf einen Punkt zu fokussieren, der in einiger Entfernung vom Bild liegt, so daß sie das ganze Bild mit einem Blick überschauen können. Nichtalphabetische Menschen besitzen diese erworbene Gewohnheit nicht und schauen Gegenstände nicht auf unsere Weise an. Vielmehr tasten sie mit ihren Augen Gegenstände und Bilder so ab, wie wir die Druckseite abtasten, Stück um Stück. Daher haben sie keinen distanzierten Gesichtspunkt. Sie sind völlig beim Objekt. Sie fühlen sich in es hinein. Das Auge wird sozusagen nicht perspektivisch, sondern tastend gebraucht. Euklidische Räume, die weitgehend auf der Trennung des Sehens vom Tasten und vom Hören beruhen, sind ihnen unbekannt.

    Ein anderes Beispiel für die historische und gesellschaftliche Präformation der (Selbst-)Wahrnehmung und deren Basis ist der Symptomwandel psychiatrischer Erkrankungen. So wurde in den letzten Jahrzehnten immer wieder diskutiert, ob frühe Störungen, d.h. Störungen der Bindung in den ersten Lebensjahren, zugenommen haben oder ob wir sogar in einem "Zeitalter des Narzißmus" leben. Dazu schreibt Reimut Reiche in dem Text "Haben frühe Störungen zugenommen?"

    Zitat

    Statt von einer Zunahme früher Störungen sollte man darum besser von dem Zwang zur Individualisierung sprechen. Es ist demnach nicht so, dass die klassischen Neurosen bzw. neurotischen Konflikte ab- und frühe bzw. narzisstische und Identitätsstörungen zunehmen, sondern dass "etwas" - ein Unglück, ein Leiden, eine Überforderung usw. -, das bisher ohne Sprache und unbenennbar war, in der Tradition festgefügter Lebensordnungen eingebunden war, sich als Wunsch und als Zwang nach individueller Selbstverwirklichung artikuliert. Die hierbei auftretenden Störungen, Beziehungskonflikte usw. sind ebenso Teil von neuartigen kulturellen Freisetzungsphänomenen wie die expandierenden Zuwachsraten im Breitensport, im Sextourismus, in der Literaturproduktion und in den Ehescheidungen

    In diese Analyse ist die Digitalisierung als Wandel des Leitmediums unserer Gesellschaft noch gar nicht eingepreist. Hier fänden sich mit Sicherheit weitere Beispiele für den Wandel in der Konstitution von Identitäten und gesellschaftlichen Zwängen.

    Noreply Danke für deinen Beitrag und dass du deine Erfahrung mit der Lektüre von Nagarjuna teilst! Der erste Satz ist wirklich schon der Hammer. Da kann man sich echt die Zähne dran ausbeißen oder das Buch gleich in die Ecke werfen. Ich bin ja noch in bei der Hinführung und Einleitung von Geshema Wangmo, aber ich sehe dem ersten Satz schon erwartungsvoll entgegen.


    Sunu Den Aspekt mit der historischen Wandlung der Auffassung vom Ich finde ich hochspannend. Ich wollte da auch nochmal einen Text zu raussuchen, den ich noch irgendwo auf dem Rechner habe. Ich bin der Meinung, dass da etwas interessantes/Relevantes zu dem Punkt drin stand. Kann aber auch sein, dass meine Erinnerung in dem Punkt trügt.


    Ich mache jetzt dennoch erstmal stur weiter in meiner Durcharbeitung des Materials. Zu dem Punkt 3) Abhängigkeit von Bezeichnung durch Name und Gedanke führt Geshema Wangmo wie schon erwähnt das Beispiel einer Blume und eines 100 Dollar Scheins an. Wobei die Blume ein mehr oder weniger natürliches (von menschlichem Zutun unabhängiges Phänomen) ist und der Geldschein wesentlich mit einer sozialen / gesellschaftlichen Institutionalisierung von einer Währung als Zahlungsmittel abhängt. Generell muss bei jeder Bezeichnung eine Basis der Bezeichnung gegeben sein, das heißt der Bezeichnung muss etwas in der Realität korrespondieren. Da gibt es das bekannte Beispiel mit dem Seil und der Schlange.

    Als weiteres Beispiel werden zweistellige Prädikate wie "der Großvater von", "die Tochter von" oder "länger als" angeführt. Zweistellige Prädikate oder Relationen sind normalerweise ein spezieller Fall von einer Subjekt-Prädikatverbindung. Bei einstelligen Prädikaten wie "Die Rose ist rot". wird nur ein Subjekt mit dem Prädikat verbunden, bei zweistelligen stellt das Prädikat eine Relation zwischen zwei Subjekten dar. Nun könnte man sagen auch bei dem einstelligen Prädikat wir die Bedeutung des Prädikats nur durch die Abgrenzung von anderen Prädikaten wie "grün", "gelb" usw. bestimmt. Außerdem steht die Farbe rot in Beziehung zu den Wahrnehmungsorganen, die sie wahrnehmen. Dass ich die "Einführung in theoretische Philosophie" besucht habe, ist mittlerweile tatsächlich auch schon 20 Jahre her. :nosee: (:

    Wenn der Attaglaube erloschen ist, dann ist da nichts mehr zu beweisen.

    Es wird vergessen, verblendet, verdrängt, dass das nur geschickte Mittel sind, die klarmachen soll, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt, ein Ich, Selbst, Person als Ein Ding anzusehen, das vollkommen einheitlich und stabil ist, wo doch alles andere zerlegbar ist. Das der Glaube an ein „Ich“ nur eine Illusion sein kann.


    Das ist schon vom Ende her gedacht. Ich versuche mit dem Material von Gesheme Wangmo zu "Fundamental Wisdom of the Middle Way" nachzuvollziehen, was abhängiges Entstehen und was Leerheit ist und wie beides verstanden werden kann. Die Leerheit des Selbst vollkommen zu verstehen steht wahrscheinlich nicht am Anfang des realen Erkenntnisprozesses und ist womöglich auch nicht jedem vergönnt. Deswegen macht es aus meiner Sicht wenig Sinn damit zu beginnen und das Ende vorwegzunehmen ohne zu verstehen wie es zustande kommt.

    Mit Atta ist immer das Unabänderliche, Ewige gemeint. Auch wenn das drumherum durchaus chameleonhaft zugehen kann... Es ist eben der Glaube an den unabänderlichen Kern.

    Und in der Form glaubt da - da kommen wir jetzt wieder zum Ausgangspunkt zurück - heute in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft kaum noch einer dran. Ein Glauben an eine ewiges Selbst klingt so metaphysisch, dass er in diese aufgeklärte Zeit nicht mehr so recht zu passen scheint. Mit den metaphysischen Annahmen hat die Aufklärung und der Positivismus so gründlich aufgeräumt, dass sie selbst im Alltag kaum noch verwurzelt sein dürften.

    Dagegen glauben alle selbstverständlich ein Ich zu haben. Und vielleicht ist mit dem ewigen und unabänderlichen Selbst ja auch eine Größenphantasie von Allmacht und Unendlichkeit von diesem Ich gemeint. Es geht wohl auch wesentlich darum, dass sich dieses Ich sich als getrennte und unabhängige Existenz missversteht.


    Ich frage mich auch: Ist dieses Selbst mehr Kern oder mehr aufnehmendes Gefäß?

    Wenn der Attaglaube erloschen ist, dann ist da nichts mehr zu beweisen. Das macht schon einen Unterschied. Veränderung bzw. das sich neu erfinden, um eine Existenz (von was ? ) zu beweisen, da dreht sich doch nur alles um einen angenommenen, permanenten Mittelpunkt.

    Die Frage war ja eher, worin denn der Attaglaube besteht, bevor er erloschen ist. In einem unabänderlichen und ewigen sichselbstgleichen Ich oder in einen unternehmerischen chamäleonhaften Selbst?

    Nagarjuna im deutschen öffentlichen Fernsehen??? Jetzt hab ich alles gesehen.

    Es gibt nichts, was es nicht gibt. Ich finde die Beiträge wirklich nicht schlecht.

    Den mittleren Weg aufgreifend könnten wir jetzt die Behauptungen aufstellen:


    1) Es gibt keinen, der an ein unveränderliches Selbst glaubt.

    2) Es gibt keinen, der nicht an ein unveränderliches Selbst glaubt.

    ...


    Ich meine dennoch, dass die Menschen heutzutage unter einem großen Druck stehen, sich permanent selbst neu zu erfinden. Der Glaube an ein Jenseits ist im Verschwinden begriffen, daher zählt die Bewährung im Diesseits um so mehr. Es ist schwer zu sagen, woran die Menschen nun wirklich glauben in diesem religiös-philosophischen Sinn.


    Im Alltag glauben alle an die Existenz eines "Ich" als Mittelpunkt der Welt. Das ist wohl unbestreitbar. Ob das jetzt unveränderlich und immer gleich sein muss oder sich gerade dadurch bewährt, dass es sich permanent neu erfindet und so seine Existenz unter Beweis stellt macht vielleicht gar nicht so einen großen Unterscheid.

    Es wird vergessen, verblendet, verdrängt, dass das nur geschickte Mittel sind, die klarmachen soll, dass es überhaupt keinen Sinn ergibt, ein Ich, Selbst, Person als Ein Ding anzusehen, das vollkommen einheitlich und stabil ist, wo doch alles andere zerlegbar ist. Das der Glaube an ein „Ich“ nur eine Illusion sein kann.

    Ich verstehe es so: Das ist ein Versuch, das Prinzip des abhängigen Entstehens und das Prinzip der Leerheit und den Zusammenhang von beidem durch Beispiele zu verdeutlichen. Dass das kein einfaches Unterfangen ist, ist klar. Insofern sehe ich die Erklärungen auch als vorläufige Mittel, die einen Einstieg in eine Auseinandersetzung mit dem Thema darstellen können. Nach meinem vorläufigen Verständnis geht es bei der Leerheit um die Leerheit von allem, nicht nur des Selbst. Und beim abhängigen Entstehen darum wie alles miteinander zusammenhängt und sich (wechselseitig) bedingt.

    Der gesamte Buddhismus hat nur ein Ziel: Menschen vom Glauben an ein unabänderliches, immer sich selbst gleiches Ich zu befreien.

    Ich würde da fragen, wer glaubt denn an sowas? Also an ein unabänderliches und immer sich selbst gleiches Ich. Das hieße ja zu glauben, dass keine Entwicklung möglich ist, dass ich mich nicht verändern kann.


    Oder mit Bert Brecht:


    »Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: ›Sie haben sich gar nicht verändert.‹ ›Oh!‹ sagte Herr K. und erbleichte.«

    Zu 2) Abhängigkeit von Teilen


    Das Beispiel ist hier ein Auto. Also im Gegensatz zu der Pflanze ein technisches Produkt, dessen Fertigung hochspezialisiertes Wissen und Fertigkeiten erfordert. Die zentrale Frage ist, ob das Auto eine inhärente Existenz als Auto hat.


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.


    Die Argumentation geht hier davon aus, man könne die inhärente Existenz des Autos in einer Zerlegung in die einzelnen Teile finden. Das erscheint mir zunächst einmal sehr naiv. Würde ich doch davon ausgehen, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile und wenn überhaupt das Auto als inhärentes Wesen in seiner technischen Funktionsweise und seinem Gebrauch im Alltag suchen. Das wird in dem Text jedoch nicht erwähnt. Stattdessen kommt auch hier das Argument mit der potentiell unendlichen Zerlegung in immer kleinere Teile in der Zeit, welches mir immer noch nicht so ganz einleuchten will.

    So ein Auto könnte kein einzelner Mensch in seiner Lebenszeit erfinden und bauen, da dort so viele technische Erfindungen und Produktionsinnovationen in die Herstellung des Autos eingegangen sind. Die Fertigung der einzelnen Teile und Herstellung der Materialien ist ebenso so komplex,


    Zu 3) Abhängigkeit von Bezeichnung durch Name und Gedanke


    Für den Punkt werden die Beispiele einer Blume und eines Geldscheins benutzt. Zwei sehr unterschiedliche Gegenstände. Der Geldschein ist ein komplexes Ding, das auf sozialer Konvention und Interaktionen des Warenausatuschs beruht. Die Entstehung von Zahlungsmitteln ist mit sozialen Praktiken aufs Engste verknüpft. Der Geldschein wird gewissermaßen in diesen sozialen Praktiken performativ "erschaffen". Das Beispiel ist schon sehr nah an dem Warenfetisch, den ich oben als Beispiel für Verdinglichung erwähnt habe.

    Die gewisse „Entwicklung“ ist aber nur eine Vorgestellte. Zu jedem Zeitpunkt ist die Individualität getrennt vom vergangenen, gegenwärtigen und einem möglichen zukünftigen Sein.

    Aus einer konventionellen Sicht ist die Entwicklung von Samen zu Pflanze zu Blüte zu Frucht und zu Samen und dann wieder von vorne als ein zyklischer Kreislauf gegeben. Da ist nichts Hergestelltes oder vom Menschen Hinzugefügtes notwendig. Das ist im Grunde einfach die natürliche Fortpflanzung der Pflanzen. Interessant ist daran ja, dass die Pflanze aus dem Samen entsteht und wieder einen Samen hervorbringt, der sich als Teil von ihr löslöst und eine neue Pflanze hervorbringt.


    Später greift Kelsang Wangmo das Argument mit dem unendlich teilbaren zeitlichen Kontinuum für das Beispiel des Autos wieder auf. Das Autos als vergangenes Auto, gegenwärtiges Auto und zukünftiges Auto sei aufgrund dieses unendlich teilbaren Kontinuums nicht vorhanden. Es gebe kein gegenwärtiges Auto aufgrund dieser unendlichen Teilbarkeit. Ich muss sagen, das leuchtet mir nicht ein.

    Ich kann dem Gedanken der abhängigen Entstehung durchaus einiges abgewinnen und das erscheint mir auch logisch und einleuchtend, aber mit der Argumentation und den Beispielen habe ich so meine Probleme.

    Dieses Unterteilen und Zerlegen führt dazu, dass man nie eine Ursache für eine Wirkung finden kann. Das hat die moderne Naturwissenschaft auch versucht, und wo ist sie gelandet? Bei der „Erklärung“ das letztlich alles Energie ist und Energie kann niemand erklären und jeder Erklärung für Energie führt zu einer neuen Ursache.

    Soweit ich Kelsang Wangmo verstanden habe, führt sie diese Möglichkeit das Kontinuum in unendliche viele kleine Momente zu zerteilen an, um damit zu zeigen, dass nichts aus sich selbst heraus existiert, also nichts eine inhärente / intrinsische Existenz hat.

    In dem Beispiel von dem Samen und der Pflanze ist allerdings von vorneherein eine gewisse Entwicklung vorgegeben, die im Samen angelegt ist. Der Samen und die Pflanze sind gewissermaßen eins, teilen eine Identität. Das ist es auch worauf mMn das Bild von Hegel bei der organischen Entwicklung der Wahrheit abhebt. Daher ist es sehr schwierig Ursache und Wirkung analytisch eindeutig getrennt zu betrachten. Wobei der Zustand Samen und der Zustand Pflanze auf den ersten Blick komplett verschieden erscheinen. Es gibt aber eine im Samen angelegte teleologische Entwicklung, die unter günstigen Bedingungen statt findet. Daher finde ich es problematisch hier von Ursache und Wirkung (im klassischen naturwissenschaftlichen Sinn) zu sprechen.

    Ich kann mir das so erklären, dass es zwischen der Ursache des Samens und der Wirkung, dem Sprössling, einen fließenden Übergang gibt und man daher nicht klar unterscheiden kann zwischen Ursache und Wirkung. Der Sprössling kann nicht klar von den Bedingungen und den Ursachen getrennt betrachtet werden.

    Die Kontinuität des Übergangs vom Zustand als Samen zum Zustand als Sprössling kann natürlich in unendlich viele kleine Schritte unterteilt werden. Die Frage ist wie aus dem Zustand A der Zustand B hervor geht. Nun könnte man auch argumentieren, dass der Sprössling in dem Samen angelegt ist und der Übergang zu Zustand B eine Entfaltung seines Wesens darstellt. (Vorsicht: Wenn man von Wesen spricht, begibt man sich hier auf dünnes Eis.)

    Mich erinnert das auch an eine Stelle in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes von Hegel. Dort vergleicht er die Entwicklung der Wahrheit in philosophischen Systemen mit den verschiedenen Zuständen einer Pflanze.

    So wird auch durch die Bestimmung des Verhältnisses, das ein philosophisches Werk zu andern Bestrebungen über denselben Gegenstand zu haben glaubt, ein fremdartiges Interesse hereingezogen, und das, worauf es bei der Erkenntnis der Wahrheit ankommt, verdunkelt. So fest der Meinung der Gegensatz des Wahren und des Falschen wird, so pflegt sie auch entweder Beistimmung oder Widerspruch gegen ein vorhandenes philosophisches System zu erwarten, und in einer Erklärung über ein solches nur entweder das eine oder das andre zu sehen. Sie begreift die Verschiedenheit philosophischer Systeme nicht so sehr als die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, als sie in der Verschiedenheit nur den Widerspruch sieht. Die Knospe verschwindet in dem Hervorbrechen der Blüte, und man könnte sagen, daß jene von dieser widerlegt wird, ebenso wird durch die Frucht die Blüte für ein falsches Dasein der Pflanze erklärt, und als ihre Wahrheit tritt jene an die Stelle von dieser. Diese Formen unterscheiden sich nicht nur, sondern verdrängen sich auch als unverträglich miteinander. Aber ihre flüssige Natur macht sie zugleich zu Momenten der organischen Einheit, worin sie sich nicht nur nicht widerstreiten, sondern eins so notwendig als das andere ist, und diese gleiche Notwendigkeit macht erst das Leben des Ganzen aus. Aber der Widerspruch gegen ein philosophisches System pflegt teils sich selbst nicht auf diese Weise zu begreifen, teils auch weiß das auffassende Bewußtsein gemeinhin nicht, ihn von seiner Einseitigkeit zu befreien oder frei zu erhalten, und in der Gestalt des streitend und sich zuwider Scheinenden gegenseitig notwendige Momente zu erkennen.

    Hegel geht hier von einer organischen Einheit aus, die widersprüchliche Momente der Entwicklung in sich enthält. Damit wird auch der Übergang von Knospe zu Blüte und zur Frucht als ein zusammenhängendes Ganzes mit notwendigen Momenten aufgefasst.

    Das scheint mir zu der Auffassung von dem abhängigen Entstehen doch teilweise eine Parallele zu sein, die sich jedoch in der Gretchenfrage des Bezugs zu dem "organischen Ganzen" der einzelnen Momente doch wesentlich unterscheidet.

    In dem dritten Online-Vortrag erörtert Geshema Kelsang Wangmo die verschiedenen Aspekte des abhängigen Entstehens:


    1) Abhängigkeit von Ursachen und Bedingungen

    2) Abhängigkeit von Teilen

    3) Abhängigkeit von Bezeichnung durch Name und Gedanke


    Zu 1) führt sie das Beispiel eines Sprösslings an. Sie merkt an, dass es keinen kleinsten Moment in der Zeit gibt, in dem man sagen könnte, dass genau dann der Sprössling entsteht. Daher könne er nicht intrinsisch aus sich heraus existieren. Man könne in dem zeitlichen Kontinuum immer weitere kleinere Momente finden bis ins Unendliche.


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.


    Das klingt für mich ähnlich wie das Paradox von Achilles und der Schildkröte, in dem behauptet wird, Achilles, der schnelle Läufer, könne die Schildkröte nicht einholen.


    In einer Vorwegnahme der modernen Maßtheorie argumentierte Aristoteles, dass eine Unendlichkeit von Unterteilungen einer Strecke, die endlich ist, nicht die Möglichkeit ausschließt, diese Strecke durchzulaufen, da die Unterteilungen nicht wirklich existieren, es sei denn, man tut etwas mit ihnen, in diesem Fall das Anhalten an ihnen.

    Tipp: Auf der Homepage von Geshe Kelsang Wangmo gibt es einen Online-Kurs zu dem Mulamadhyamaka mit mehreren aufgezeichneten Online-Vorträgen und Texten.

    https://kelsangwangmo.com/goingon/

    Gerne würde ich mich zu dem Online-Kurs austauschen in diesem Thread. Ich habe bis jetzt die ersten beiden Online-Aufzeichnungen angeschaut. Die Vorträge gibt es auf Youtube als Playlist (link). Vorsicht die Vorträge werden bei mir in umgekehrter Reihenfolge angezeigt. Man muss auf das Datum im Titel achten. Geshema Kelsang Wangom erklärt in den beiden Vorträgen (auf Englisch) sehr grundlegend und niedrigschwellig worum es in dem Mulamadhyamaka geht und was Leerheit und abhängiges Entstehen bedeuten. Dazu gibt es auch ein Handout von ihr. Das man hier (link) findet.

    Hier zwei interessante Videos, in denen gert scobel über nagarjuna und den catuscoti ein paar einleitende Worte verliert.


    Externer Inhalt youtu.be
    Inhalte von externen Seiten werden ohne deine Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.


    Externer Inhalt youtu.be
    Inhalte von externen Seiten werden ohne deine Zustimmung nicht automatisch geladen und angezeigt.
    Durch die Aktivierung der externen Inhalte erklärst du dich damit einverstanden, dass personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu haben wir in unserer Datenschutzerklärung zur Verfügung gestellt.

    Mal interessehalber - schreibt Geldsetzer etwas zur ersten deutschen Übersetzung des Zhong lun von Max Walleser? Offen gesagt hätte ich eine deutsche Übersetzung Nāgārjunas Dvādaśanikāya-śāstra / Shiermen lun für ein größeres Desiderat gehalten als noch eine MMK-Übersetzung ... Okay, Übersetzung mit chinesischem Originaltext ist ein Alleinstellungsmerkmal - aber wer kann damit wirklich etwas anfangen?

    Er schreibt in der Einleitung, dass Walleser sich, wie Bocking auch, bei der Übersetzung am Sanskrittext und der tibetischen Version orientierten, um dem "originalen" Sinn möglichst nahe zu kommen. Geldsetzer sieht die chinesische Version dagegen als selbständige "originäre" Quelle an.

    Übersetzung.


    "Nagarjuna ist die wichtigste philosophische Figur in der buddhistischen Welt nach dem historischen Buddha selbst.


    [...]


    [Mulamadhyamakakarika] ist ein sehr schwer zu lesender und zu interpretierender Text. Moderne Interpreten sind sich genauso wenig einig, was die Lesarten des Textes betrifft, wie kanonische Interpreten. Nagarjuna wurde als ein Idealist (Murti 1960), ein Nihilist (Wood 1994), ein Skeptiker (Garfield 1995), ein Pragmatist (Kalipahana 1986), und als ein Mystiker (Streng 1967) gelesen. Er wurde als ein Kritiker der Logik (Inada 1970), als ein Verteidiger der klassischen Logik (Hayes 1994) und als ein Pionier der parakonsistenten Logik (Garfield and Priest 2003) betrachtet.


    [...]


    Nagarjuna argumentiert, dass diese Doktrin der Leerheit ein mittlerer Pfad zwischen zwei Extremen ist: Verdinglichung und Nihilismus. Phänomene zu verdinglichen bedeutet sie als Phänomene mit Essenz, als unabhängig existierend zu betrachten. Nihilistisch zu sein bedeutet, den Fakt, dass Phänomene keine Essenz haben und bloß abhängig existieren, so zu verstehen, dass sie nicht existieren. also die empirische Realität komplett als falsch zu betrachten."


    Nagarjuna scheint ein wichtiger, wenn nicht der zentrale, Autor für den Mahayana Buddhismus zu sein. Gleichzeitig scheint er schwer einzuordnen zu sein und es gibt vielleicht gerade deswegen viele unterschiedliche Lesarten seiner Philosophie.

    Bei den beiden Extremen Verdinglichung und Nihilismus musste ich sofort an den marxistischen Begriff der Verdinglichung denken wie er von Lukacs geprägt wurde. Ich bin da vorsichtig mit voreiligen Interpretationen, aber vielleicht ist ja der Warenfetisch von Marx ein Paradebeispiel für eine solche Verdinglichung.

    Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr, ob ich sie nun unter dem Gesichtspunkt betrachte, daß sie durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse befriedigt oder diese Eigenschaften erst als Produkt menschlicher Arbeit erhält. Es ist sinnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.

    Empfehlenswert ist hingegen die Ausgabe von Weber-Brosamer, die aus dem Sanskrit-Text übersetzt.

    Die war mir ein bisschen zu teuer. Aber ich lese ja den Kommentar dazu, dem eine andere Übersetzung zugrunde liegt. Ich finde es ganz spannend, dass Geldsetzer eine Verbindung zu Aristoteles herstellt. Wie fundiert das jetzt ist, habe ich keine Ahnung.

    Die Widmung einmal in Englisch und in Deutsch. Sie gibt den Inhalt (und den Zweck) der Schrift wieder.


    I prostrate to the perfect Buddha,

    The best of all teachers, who taught that

    That which is dependent origination is

    Without cessation, without arising;

    Without annihilation, without permanence;

    Without coming; without going;

    Without distinction, without identity

    And peaceful—free from fabrication.


    Widmung an den Buddha


    "Derjenige, welcher im Stande war zu erklären, daß weder Entstehen noch Vergehen, weder Beständigkeit (Kontinuität) noch Endlichkeit (Diskontinuität), weder Einheit (Identität) noch Unterschiedlichkeit (Nicht-Identität), weder Herkommen (Vergangenheit) noch Fortgehen (Zukunft) formale Ursachen (yin yuan/hetu) sind und dadurch elegant alle Folgerungen daraus (xi lun/prapanca) widerlegte, vor ihm, dem Buddha neige ich mein Haupt in Verehrung, dem Begründer der Lehrer von der Mitte"

    Das war heute im Briefkasten:


    Bitte melde dich an, um diesen Anhang zu sehen.


    Ich bin gespannt und freue mich auf die Lektüre, bei der ich wohl noch Kommentare zu Rate ziehen werde. Vielleicht finde ich mit diesem Buch ja die Mitte oder verstehe sogar die Leerheit. Oder wie sagte Alexander Kluge - oder war es Oskar Negt? - einmal: "In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod." (: