Posts from Michael Haardt in thread „OT: Queeres ertragen“

    Das sind eine Menge Fragestellungen.


    Erstmal die absolute Realität: Wissenschaft kennt Keine, theoretisch wenigstens. Praktisch wird das bereits oft verleugnet, was ich zitierte, und das hat deutliche Einschränkungen für die Betroffenen zur Folge.


    Dann wird teilweise verleugnet, dass es eine geschlechtliche Identität als sozial konstruiertes Modell gibt. Die Vielfalt der Modelle verschiedener Kulturen zeigt, dass der Wunsch nach deren Beschreibung besteht, aber jeder Versuch eines Modells diskreter Begriffe trifft es nur unzureichend. Meiner Meinung nach ist das so, weil es wie die Biologie ein Spektrum ist.


    Ist es wichtig? Es ist offen, ob wir in Sprache denken oder Gedanken mit Sprache beschreiben, aber es ist wohl unstrittig, dass gute Terminologie als Repräsentation guter Gedankenmodelle hilfreich ist. Daher kommt der Wunsch nach Bezeichnungen, und das ist gleichzeitig das Problem mit unzutreffenden Bezeichnungen. Ich denke hier wird sich kulturell und sprachlich noch Einiges tun.


    Meiner Meinung nach wäre es buddhistisch, zu erkennen dass das mentale Modell der Biologie seit einer Weile etwas genauer wurde und im Angesicht von wissenschaftlichen Tatsachen nicht am alten Modell festzuhalten. Und das mentale Modell der Geschlechtsidentität wurde auch besser, hat aber offenbar noch deutlich Luft nach oben. Daraus ergibt sich, dass man sich an keins klammern sollte.


    In unserer Kultur wirft es etwas über den Haufen. Das Theater mit den Toiletten ist ehrlich gesagt in manchen Ländern schon gelöst, z.B. in den Niederlanden, wo es oft Unisex-Toiletten gibt, und die Welt ging davon nicht unter. Die deutsche Sprache kennt keine geschlechtsunspezifische Form und unser grammatikalisches Geschlecht ist verwirrend. Irgendwas wird passieren müssen, aber ich weiß nicht, was. Englisch kennt dafür seit langer Zeit das singuläre "they" und abgesehen von wenigen Ausnahmen gibt es kein grammatikalisches Geschlecht. Da wird also alles so bleiben, wie es ist. Die Definition der sexuellen Orientierung verlangt ein wenig mehr Nachdenken als vorher, was vorher primär für Urlauber in Kulturen mit nicht-binärem Geschlechtsmodell galt. Das war's. Mehr verlangt es von niemand.


    Insgesamt nichts Weltbewegendes, finde ich. Aber wir sind im Buddhaland, also was kann man aus dieser Sicht dazu sagen? Achtsamkeit, d.h. nicht verleugnen oder unterdrücken. Es ist wichtig seine Identität zu kennen und zu verstehen, um zu verstehen wie man sich unglücklich macht. Gleichzeitig soll man sich nicht daran klammern, weil sie sich mit der Zeit ändert und das geistige Modell nie die Wahrheit ist. Vor allem soll man weder Hass säen noch Menschen in Gruppen spalten. Letzteres finde ich ausgesprochen interessant, denn es wendet sich direkt gegen "divide and conquer". Es gibt also eine Menge klarer Ratschläge, alle begründet.

    Ich bin etwas erstaunt von der Diskussion. Wer sich mit Buddhismus befasst, kommt nicht daran vorbei, dass auch andere Kulturen als Unsere existieren. Indien hatte einst kein binäres Geschlechtsmodell und langsam kehrt diese Einstellung zurück. Thailand, wo Buddhismus sehr verbreitet ist, kennt die Ladyboys. Durch Kontakt zu jemand vom Stamm der Mohawk in den USA war ich erstaunt, wie anders deren Modell ist:


    "Most tribes recognize four genders: feminine female, masculine female, feminine male, masculine male. Some recognize another one or two. There can be two spirits in one body, each can be any one of the four genders, independent of the other.


    There is no stigma to homosexuality or bisexuality. It is merely an expression of the nature of the two spirits. In fact, if you try to suppress the urges the Great Spirit gave you, it is an insult to her."


    Es gibt noch ein paar andere, nicht buddhistische Kulturen mit ähnlichen Modellen. Das ist also keine neuzeitliche Idee.


    Das Wort queer ergibt nur in einer Kultur mit einem binären Geschlechtsmodell einen Sinn. Soweit ich es verstehe, ist es im Buddhismus wichtig, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Dafür der Grundsatz der Achtsamkeit. Ein Physiker, der gelegentlich Elektronen mit einer halben Elementarladung beobachten würde, würde sie nicht als Anomalie zum Nachladen aussortieren, und ein Buddhist aus den gleichen Gründen wie der Physiker auch nicht. Was wir queer nennen, ist normaler Bestandteil der Menschlichkeit und war es schon immer, sowohl von der Identität her als auch biologisch:


    Intersexualität: Die Neudefinition des Geschlechts
    Die Vorstellung zweier biologischer Geschlechter ist zu simpel
    www.spektrum.de


    Das ist natürlich anders, als es die Älteren unter uns wie ich es hier in der Schule lernten und anders als die christliche Religion, die unsere Kultur prägte. An den Tatsachen der Biologie kommt man aber nicht vorbei.


    Und an der geschlechtlichen Identität? Philosophisch ist das soziale, nicht faktische Realität:


    Factual and social reality
    The link between money and gender
    michaelhaardt.substack.com


    Damit ist es Bestandteil der äußeren und inneren Identität, zu der der Buddhismus sehr viel zu sagen hat, z.B. dass sie sich kontinuierlich ändert und dass man sich nicht daran klammern soll - jedenfalls nach meinem bisher bescheidenen Wissen über Buddhismus. Das ist ein weiser Ratschlag, weil wir in individuell konstruierten mentalen Modellen denken, und die versagen gelegentlich erheblich die Realität zu beschreiben. Auf einer Divergenz zur Realität zu bestehen wird in Leid enden. Was ich bisher über Buddhismus las, klang so als ob Konstruktivismus und das "Double Empathy Problem" schon vor langer Zeit erkannt wurden.