Posts from void in thread „Was ist das Ich?“

    Für mich spricht überhaupt nichts dagegen, gewisse Praktiken des Buddhismus zu übernehmen, die heilsam für einen selbst sind und anderen nicht schaden, ohne die (philosophischen) Lehren des Buddhismus oder einer seiner Richtungen, Linien und Schulen als wahr anzuerkennen

    Für Buddha entsteht Leid aus einem Anhaften an einem Selbst und das Aufgeben dieser Illusion führt zur Überwindung des Leides. Das ist der Kern des Buddhismus. Seine grundlegende Herangehensweise.


    Ohne die 4 edlen Wahrheiten kann man Buddhismus nicht praktizieren.

    Genau, deshalb ist die Überzeugung, dass die Kernaussage des Buddhismus, die Illusion des 'Ich' sei zwar möglich aus individueller Betrachtung, aber für das Leben in der westlichen Welt wenig relevant.

    Vielleicht war die westliche Welt ein christlich geprägtes Abendland, wo jeder mit einem stabilen Seelenknödel mit Kopf herumlief.


    Aber ist das noch die Welt in der wir heute leben? Eine berühmte Dokumentation nannte das 20 Jahrhundert "das Jahrhundert des Selbst" und erzählt davon wie nach Freud - ausgehend von der USA - das Individuum - der Konsument - in den Vordergrund gerückt wurde.


    Mit der wachsenden Konsumgesellschaft suchte man nicht mehr Grundbedürfnisse zu befriedigen, sondern Waren wurden ein Weg sich selber auszudrücken. Und da zeigte sich - dass man es nicht mit einem Knödel von Wesenskern zu tun hat, sondern mit etwas Fließenden und Formbaren - aus der man in Selbsfindung, Selbstoptimierung und Selbstschaffung - in ungeahnte Formen gießen konnte.


    Verstärkt wurde das dann später durch die sozialen Medien. Durch Selbst-Darstellungsplattformen wie Facebook , Twitter und Tim Tok. Aber ja stärker das Selbst in den Mittelpunkt rückt, desto mehr auch seine Fragilität. Portraits mit Filtern verschönt, Lebensläufe gefälscht, Urlaube erfunden.


    Auf Datingplattformen stellt man erschreckt fest, das ChatGPT humorvoller, charmanter und einnehmender ist als wirkliche Menschen. Unter den Masken tut sich eine extreme Leere auf.

    Die Menschen leiden inmitten von Wohlstand - weil die Ideologie der Selbstoptimierung ins Leere läuft.

    Kurz gesagt, das menschliche 'Ich' mit profanen Dingen vergleichen halte ich, was die menschliche Würde angeht, für unangemessen.

    Der Begriff "profan" bedeutet doch "weltlich". In Denkrichtungen die an eine Seele glauben ( Christentum, Hinduismus oder Anthroposophie) wäre es natürlich problematisch wenn man das Seelische auf das Materielle heranzieht, aber hier haben wir ja eine inner-buddhistische Diskussion.


    Unser Körper besteht ja auch aus komplexen Systemen: Blutkreislauf, Immunsystem, Hormonsystem, Lymphsystem, Knochen, Muskeln und so weiter. Systeme die uns mit anderen Lebewesen verbinden. Und so besteht auch unser Gehirn aus unterschiedlichen Systemen - die Sehen, Erinnern, Fühlen ermöglichen. Und von daher ist auch unser Geist nichts einheitliches sondern er ist komplex und zusammengesetztes. Gerade die Komplexität ist für mich die Quelle von Ehrfurcht. Würde speist sich nicht daraus, dass man eine Mauer zwischen dem Materiellen und Geistigen errichtet, sondern daraus, dass ich den anderen - weil er wie ich ein führendes, leidendes Wesen ist - respektiere und schätzte.

    Das 'Ich' mit einem Auto zu vergleichen ist ja ein ziemlich verdummende Ansicht, der Mensch, das Lebewesen ist nun mal keine Maschine und das macht das Wesen aus. Das menschliche 'Ich' gibt es nur im Leben. Jetzt würde die Definition von Leben folgen, aber das kann jeder selbst bei Buddha nachlesen.

    Ein Vergleich ist immer ein Vergleich im Bezug auf etwas. Ich kann sagen, dass die Sonne einem Fußball im Bezug auf die Kugelform ähndelt ohne dass ich damit sagen würde das die Sonne aus Leder und luftgefüllt wäre


    Und so vergleiche ich Mensch und Auto nicht in der Hinsicht, dass ersterer Blinker oder Sitze hätte sondern im Bezug auf die Tatsache, dass man manchmal das Funktionieren besser versteht, wenn was kaputt ist. Ich nehme also einen sehr spezifischen Vergleich vor, den ich dann ja auch genauer ausführe.


    Du hast ja schon die Wandlungsfähigkeit des Ichs betont:

    Nein, um Gottes willen, dieses 'Ich' ist nicht das Leben lang dasselbe, es wandelt sich.

    Dem folge ich und füge zwei weitere Aspekte anhand von Beispielen hinzu. Erstens das "Jekyll and Hyde" Beispiel in dem ein Mensch zwischen zwei Persönlichkeiten schwankt und das "Split-Brsin-Beispiel" bei dem sich die Persönlichkeit eines Menschen in unterschiedliche Ströme spaltet. Beides Fälle die zeigen, wie fragil und wandelbar wie doch sind.


    Ich hatte mir eingebildet, das einigermaßen gut formuliert zu haben aber es ist wohl rübergekommen, dass ich irgendwie die lebendige, dynamische Natur des Menschen leugne und ihn als was plumpes, mechanisches sehe. Das tue ich nicht.


    Wo genau kannst du denn meiner Argumentation nicht folgen?

    Bei einem Auto ist es so, dass es solange es funktioniert, einfach so fahren kann, ohne sich groß Gedanken über das komplexe Zusammenspiel all der Teile zu machen, die es braucht um das Funktionieren zu Gewährleisten. Sobald es aber kaputt ist wird man damit konfrontiert, was da alles drin ist (Keilriemen, Zündkerzen, Batterie, Bremse) das das Funktionieren ermöglicht. Und so ist es auch beim Ich:

    Das zwiegespaltene Bewußtsein hält noch mehr Überraschungen parat. Über einen ungewöhnlichen Fall hat Ende der achtziger Jahre der damals an der Cornell University tätige US-Neurologe Michael Gazzaniga berichtet. Einer seiner Split-Brain-Patienten war ein halbwüchsiger Junge, bei dem auch die normalerweise "stumme" rechte Hirnhälfte über eine gewisse sprachliche Ausdrucksfähigkeit verfügte. Sie konnte sich über Buchstabenklötzchen mitteilen. Der Forscher interessierte sich für den Berufswunsch seines Patienten und befragte zunächst die "sprechende" linke Großhirnhälfte. Die Antwort kam wie mit der Pistole geschossen: Technischer Zeichner. Als der Forscher die gleiche Frage per Klötzchen an die rechte Großhirnhälfte richtete, buchstabierte diese zusammen: Rennfahrer. Zwei grundverschiedene Welten schienen da ein und derselben Person innezuwohnen.

    Wir haben hier also eine jungen Mann - eine "empirische Person" - er hat ein bestimmtes Alter, einen bestimmten Körper, bestimmte Eltern. Und in ihm sind bestimmte Wahrnehmungen, Wünsche, Emotionen. Aber weil - um schwere Epilepsie zu behandeln - der Corpus Callosum durchtrennt wurde - war der Prozess der aus der inneren Welt ein Ich generiert - der Prozess des " Anhaftens an einem Selbst" - in zwei Strömungen aufgespalten, die je nach dem in welchen Teil man das Resultat abfragte, andere "Ichs" mit ganz unterschiedlichen Berufswünschen produzierten.


    Weil bei uns der Corpus Callosum nicht durchtrennt sind kommen wir im großen und ganzen auf ein Einheitliche "Ich Illusion" die dann konsistent mit unseren Wünschen ist.


    Aber es reichen schon kleinere Sachen. Nehmen wir Alkoholsucht. Da kann es ja auch in gesunden Menschen schon zu einem " Jekyll und Hyde" kommen. Der nüchterne Jekyll empfindet vielleicht seinn Wunsch zu Saufen - als etwas fremdes, dämonisches. Und dass der dann besoffen nachts die Kinder schlägt empfindet er als eine "fremde Tat" deren er sich schämt und die er sich selbst nicht zuordnen will. Der betrunkene Hyde des Nachts empfindet dagegen sein nüchternes Tages imIch als fremd und spießig - als etwas was ihm seinen Spaß nicht gönnt. Die beiden liegen im Konflikt. Auch wenn sie die gleiche "empirische Person" teilen.


    Buddha geht einfach nur noch weiter. So wie Hyde ein Produkt des Anhaftens an Alkohol ist, sind auch die anderen Persönlichkeiten in die wir im Laufe des Tages schlüpfen, Produkte der Anhaftung. Und indem wir nicht daran anhaften werden wir frei. Dies bedeutet nichts, dass sich unser Körper ändert.


    Der Prozess des Anhaftens an einem Ich kanalisiert eine Vielzahl von psychischen Prozessen in Emotionen, Willen und dann in Handlungen. Es ist wie bei einem Bach, wo es mehrere Ströme gibt und es manchmal ausreicht, einen einzelnen Stein zu versetzten und das Wasser sucht sich einen anderen Weg. Und dieser ist dann "der Bach". Nymphomanin kriegen die Wechseljahren und haben keinerlei Lust auf Sex, Hippies werden zu Spiesern, Gangster zu liebevollen Vätern ohne dass es sie selbst groß wundert.


    Mit der Inbrunst der Überzeugung sagen wir das wir natürlich "Technischer Zeichner" werden wollen - wie könnte es auch anders sein. Oder eben "Rennfahrer" - es ist unsere tiefste Überzeugung - unser tiefster Wunsch - unser Wesenskern.

    Ich tendiere momentan eher zu der Auffassung, dass es unterhalb des Ich-Anhaftens eine Art bloßes Ich gibt, das eher unschuldig und unproblematisch ist, aber trotzdem unter die Kategorie Ich fällt. Ich denken, dass es sozusagen verschiedene Stufen oder Schichten der Ichheit gibt.

    Ja, genau - so eine Zwiebel. Wo ganz draußen das soziale Ich ist. Und dann drunter ein emotionales Ich, ein Trieb-Ich bis eben zu so basalen Sachen wie Hunger und Durst die in der biologischen Selbsterhaltung (Autopoesie) wurzeln.


    Die Worte "unschuldig" und "unproblematisch" passen mir nicht so ganz. Ein Ertrinkende der reflexhaft andere in den Tod zieht weil er sich irgendwo festhält um nicht zu sterben ist sicher "unschuldig" in dem Sinne dass er nicht weiß was er tut. Aber unproblematisch ist es nicht.


    Ich glaube nicht an eine verlorene Unschuld. Es gibt einen stufenlosen Übergang zwischen dem blinden Lebenstrieb bei einfachen Wesen und unseren Begierden und Anhaftungen. Dies kommt im griechischen Wort "Hybris" rüber, dass beides umfasst:

    Das griechische Verb ὑβρίζειν (hybrízein) bedeutet bei Homer ‚zügellos werden‘ oder ‚sich austoben‘ und wird auch auf Flüsse, wuchernde Pflanzen und überfütterte Esel angewandt, die schreien und aufstampfen. Hybris bedeutet demnach ‚mutwillige Gewalt‘ und ‚Frechheit‘ (etwa in der Odyssee gebraucht für Penelopes Freier). Sie bedeutet auch ‚Gier‘ und ‚Lüsternheit‘. Hybrisma bedeutet Frevel, Vergewaltigung, Raub, und fasst im Recht alles zusammen, was einer Gottheit oder einem Menschen an schwerer Unbill zugefügt wird

    Spannend ist ja auch die Frage, wodurch wird das Ich zu einer Grenze, die verletzt werden kann.

    Es ist "Anhaftung" ( upādāna) die Beliebiges zu einer Grenze macht, die durch Gier und Hass aufrecht erhalten wird.


    Bei einfachen Tieren ist die Grenze der Körper. Einzeller haften an bestimmten Sollwerten für Salzgehalt, Nährstoffegehalt, PH-Wert und wenn ein Wert falsch ist setzt das ein Tun in Bewegung - Membranen werden geöffnet oder geschlossen, Geiseln wedeln. Alles dient der Auferhaltung einer Form inmitten wechselnder Umstände


    Auch beim Mensch ist das Ziel der Anhaftung sehr stark der eigene Körper und sein materielles Wohl. Aber wir haben die Freiheit auch an allen möglichen andere zu haften und da die wichtige Ich-Grenze zu errichten. An Menschen zu haften, an Ideen wie "Nation" oder "Gerechtigkeit", an Organisationen oder Emotionen.


    Bei Romulus triggert man Gewalt wenn man über seine Furch hüpft, bei wem anderes wenn man seine Mutter beleidigt oder seinen Präsidenten oder wenn man Star Trek besser findet als Star Wars. Das Ich selber ist so beliebig dass man da gar nicht groß drüber reden muß.


    Wichtig sind die Prozesse des Anhaftens die der Grenze Realität verschaffen. Bei Romulus war ja die Stadt Ein nur so eine Idee - und eine Furche ist ja echt nicht impressiv. Nur durch die in die inverstierte Anhaftung und Gewalt wurde etwas reales und wirkmächtiges daraus.


    Nur so lange Romulus da eisern wacht und seine Furche abschreitet geht das. Wenn er schläft oder isst, kann jeder Spatz aus und raus hüpfen. Das Gras innen sieht nicht anders als das Gras außen.

    Als Romulus Rom gründete zog er zuerst mal mit dem Pflug eine Furche - dies sollte seiner zukünftige Stadtmauer sein. Aber sein Bruder Remus verspottete ihn, indem er darüber sprang - worauf ihn Romulus mit dem Worten „So möge es jedem ergehen, der über meine Mauern springt!“

    erschlug.


    Die genaue Form der Furche - ob Romulus jetzt sechs oder sieben Hügel umfurchte ist relativ egal - wichtig ist die Gewalt die beim Überschreiten der Grenze ausbricht


    Von daher geht auch die Frage "Was ist das ich" in eine falsche Richtung. Es ist nur eine Recht beliebige Furche. Wichtig ist der sehr reale Prozess des "Anhaftens an einem Ich" - die Gewaltbereitschaft wenn die Grenze verletzt wird. Allein dies ist wichtig. Angenommen Remus wäre über die "Mauer" gesprungen wenn Romulus geschlafen hätte. Das wäre recht egal gewesen. Oder auch ob Romulus seine Stadt ein paar Kilometer nördlich gegründet hätte.