Ich habe diese Diskussion mit Interesse gelesen und dazu sind mir noch andere Gedanken gekommen.
Zu Anfang meiner Zwanziger machte ich für etwa zwei Jahre einen Abstecher zur Hare-Krishna-Gemeinschaft. Dort voll integriert zu sein heißt u. a., 16 Runden auf der Mala (ebenfalls 108 Perlen) täglich das Hare-Krishna-Mantra zu rezitieren. Hier wird es erklärt:
Hare krishna mantra mit mala - Bing video
Diese Sichtweise finde ich sehr interessant im Vergleich zur Yidam-Praxis. Der Schwerpunkt der Fokussierung ist tatsächlich ein anderer.
Der Mönch in dem Video erklärt, dass er etwa 1 1/2 Stunden für diese 16 Runden benötigt.
Ich habe damals beobachtet, dass Mitglieder, die schon länger dort verweilten, besonders schnell beim Abrattern des Mantras waren. Einige besonders Schnelle schafften die 16 Runden in einer halben Stunde; da konnte man natürlich nicht mehr verstehen, was sie da rezitierten. Es war so eine Art verbale Stenografie. Interessant war, dass ausgerechnet diese Leute als "besonders fortgeschritten" galten. Somit kam also das Rezitieren dieses Mantras mir vor wie eine Art Wettbewerb in Schnelligkeit.
Als ich dann sehr viele Jahre später, nach etwa 10 Jahren vajrayanischer Praxis beim AMM-Orden (gegr. von Lama Anagarika Govinda) zu den Karma-Kagyüs wechselte, dachte ich, wenn ich die Lamas so rezitieren sah, ich habe ein Déjà-Vu-Erlebnis. Sie gaben beim Rezitieren von Mantras und rituellen Texten nur noch einen so verschleifenden Ton von sich, etwas melodisch - also, wenn man es als Bild ausdrückt, erinnerte es mich an die gegen einen Strand schwappende Ostsee bei Nordostwind. Man konnte keine einzelnen Worte mehr erkennen.
Bald wurde ich dann ins Ngöndro*) eingeführt (beim AMM gab es das nicht, da konnte man durchaus bald nach einiger konzentrativer Vorübung, das war durchschnittlich nach einem halben Jahr, Yidam-Praxis üben).
Angesichts meiner Vorerfahrungen, siehe oben, wehrte ich mich von Anfang an gegen diese verbale Stenografie und rezitierte ganz bewusst die einzelnen Mantra-Worte sehr genau. Das hatte aber zur Folge, dass ich mein Pensum zeitlich nicht schaffte (auch mein Lehrer konnte mir dazu keine praktikable Lösung vorschlagen); darum habe ich dann meistens mit dem Rezitieren schon beim Aufstehen und im Bad angefangen.
Selbstverständlich sehe ich das heute viel lockerer und ich rezitiere nur, wenn mir gerade danach ist und picke Aspekte heraus, die mir gerade einfallen. Das ist unregelmäßig und da können durchaus viele Tage dazwischen liegen, manchmal auch Wochen. Meine Hauptpraxis ist ohnehin nicht mehr das Ngöndro, sondern genaue Beobachtung dessen, was im Geist vor sich geht, damit arbeite ich. Das ist für mich die essentielle Praxis. Mantras spielen für mich nur noch eine untergeordnete Rolle, bzw. höchstens, wenn ich mich in einer Gruppe befinde und das gemeinsame Ritual angesagt ist. Auf der anderen Seite kann ich sagen, dass Mantras durchaus einen prägenden Charakter haben, besonders, wenn sie in der Lebensspanne schon weit zurückliegen; sogar die Lieder aus der Kleinkind-Zeit haben einen starken, prägenden Einfluss mit mantrischem Charakter. Obwohl das alles für mich nicht mehr so vordergründig ist.
Desweiteren hier noch die Betrachtung eines anderen Aspekts: sehr begabte und berühmte Schauspieler können sich so mächtig in ihre Rolle versetzen, dass ihr Rollentext, durch ihre starke, überzeugende Ausstrahlung, eine äußerst mantrische Färbung erhält. Das ist tief beeindruckend. Es mag sein, dass nicht wenige Schauspieler Buddhisten sind und privat meditieren, aber das ist hier nicht ausschlaggebend und für den Einzelnen nicht unbedingt nötig. Der tiefe Ausdruck ihres Werks ist eine genauso wertvolle spirituelle Praxis. Und wenn ein wertvoller Film oder Theaterstück einen tiefen Eindruck in uns hinterlassen hat und in der Folge etwas bewegt in unserem Leben, dann sind die hervorragenden Schauspieler unsere Lehrer gewesen.
Kurz und gut, die Mantra-Praxis, im engeren Sinne, kann nur einen Teil der spirituellen Praxis bedeuten, sofern es beim Ausübenden wirkt. Wirkt sie aber nicht, so gibt es, im weiteren Sinne, durchaus echte Alternativen im täglichen Leben. So lange wir mithilfe mit etwas, das mantrischen Charakter besitzt, mit unserem Geist arbeiten können, ist es eine echte spirituelle Praxis.
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*) Ich erkläre hier mal kurz das Ngöndro für Alle, da wir uns hier im allgemeinen Teil des Forums befinden. Das Ngöndro besteht zunächst aus einer Vorübung, in der wir uns meditativ z. B. vorstellen, wie kostbar unsere menschliche Existenz ist; und dann folgen die vier Haupt-Teile: 1. Akt der Zufluchtnahme und Erzeugung des Erleuchtungsgeistes, 2. Die Praxis des Vajrasattva zur Reinigung von Körper, Rede und Geist, 3. Ansammeln weiteren Verdienstes durch das symbolische Opfern von Mandalas, 4. Integration der Persönlichkeit des Übenden in die vom Lehrer repräsentierte Tradition.
Traditionell ist jeder Teil mit der Rezitation des entsprechenden Mantras von je 100.000 in der Anzahl verbunden. Heute wird das für Westler abgemildert, der 17. Karmapa Orgyen Thrinley Dorje reduzierte es auf jeweils 10.000 Mantras; während mein Lehrer es für mich nur auf je 25.000 Mantras reduzierte, so dass es insgesamt, für alle vier Teile, 100.000 werden sollten.