Selbstmitgefühl - was ist die richtige Lehre?

  • Hallo an das Forum,


    nach eurem einleuchtenden Input zu meiner Frage vor kurzem habe ich noch eine weitere, die ich so in dieser Form hier nicht gefunden habe.


    Ich konnte erst vor wenigen Stunden wieder starke Tendenzen von unerbittlicher Selbstkritik in Aktion erleben, nachdem mir aus Unachtsamkeit ein Missgeschick passierte, das jedoch "gut" ausging. Ich habe mir nach Feierabend am Automaten Bargeld abgehoben, die Karte eingesteckt, doch das Geld im Automaten gelassen, weil ich "noch schnell" den Bus erreichen wollte und gedanklich schon auf dem Weg nach Hause war. Es fiel mir erst auf, nachdem ich im Bus eine Fahrkarte kaufen wollte und ins "Leere" griff. Das Geld wurde vom Automaten wieder eingezogen und ist nicht gestohlen worden.


    Die Sache war längst passiert, doch habe ich mich nachhaltig erschrocken, wie sich Wahrnehmung und Geist unter diesem Einfluss verändert haben. Von sich abwertenden Gedanken war so ziemlich alles Erdenkliche dabei. Vor allem präsent war der Gedanke "warum passiert dir das, du praktizierst wohl nicht genug oder falsch, streng dich gefälligst an... jedem anderen Praktizierenden/dem Dalai Lama/einem Meister wäre das nicht passiert... wo ist denn das Problem, einfach nur präsent und achtsam zu sein"


    Nun zu meiner Frage: Meine Meditationspraxis ist stille Sitzmeditation mit dem Objekt auf Atem und Buddho, 2x täglich (früh morgens und abends) für 15 Minuten, die ich allmählich ausdehnen möchte, damit es zur Gewohnheit wird. Doch ich fürchte, ich praktiziere falsch und folge nicht der richtigen Lehre. Wie sonst kommt es, dass ich keine Fortschritte sehe und unsicher bin, trotz all den verschlungenen Mantras und Sutras?


    Wisst ihr, ob es neben Metta noch andere Formen gibt, wie ich es schaffe, mit mir selbst gütiger und gerechter zu sein? Therapeutisch habe ich vieles versucht, aber das Problem sitzt wohl auf anderer Ebene.


    Gassho

    haiku1996

  • Doch ich fürchte, ich praktiziere falsch und folge nicht der richtigen Lehre. Wie sonst kommt es, dass ich keine Fortschritte sehe und unsicher bin, trotz all den verschlungenen Mantras und Sutras?


    Wisst ihr, ob es neben Metta noch andere Formen gibt, wie ich es schaffe, mit mir selbst gütiger und gerechter zu sein? Therapeutisch habe ich vieles versucht, aber das Problem sitzt wohl auf anderer Ebene.

    Falsche Lehre kann sein (es gibt ja unzählige Lehren im Buddhismus). Vielleicht solltest du den Blick mal weiten, was andere buddhistische Lehren so sagen?

    mankind ... must act and reason and believe; though they are not able, by their most diligent enquiry, to satisfy themselves concerning the foundation of these operations, or to remove the objections, which may be raised against them [Hume]

  • Das Wahrnehmen, was in Folge des Vergessens des Geldes in deinem Geist passiert, ist doch viel Fortschritt.


    Ich hab bei den Büchern von Jack Kornfield verstanden, was Mitgefühl ist, und mir die praktische Anwendung

    zum Selbstmitgefühl aus dem Übungsbuch von Neff/Germer genommen (von denen gibt es auch ein umfangreicheres Lesebuch zum Thema) . Zusammen mit dem Buch „Sei nicht so hart zu dir selbst“ von Andreas Knuf und „Selbstmitgefühl für Eltern“ von Susan Pollak.

  • Ich habe ca 10 bis 15 Jahre mit dem Mantra Buddho gearbeitet.

    Ein paar kurze Anmerkungen von mir dazu :


    Die 15 Minuten reichen absolut nicht aus.

    Du musst es in jedem wachen Moment machen.

    Ich habe sehr lange mit einer Mala gearbeitet, die ich von einem Lehrer bekommen hatte.

    Was ich zum Beispiel sehr lange falsch gemacht hatte war :


    Nachdem man ständig mit dem Mantra arbeitet, sollte man sich zwischendurch der Beobachtung/Kontemplation der Dinge, Gefühle, Gedanken usw widmen.


    Nach einer gewissen Zeit mit dem Mantra wird der Geist so still, dass man damit arbeiten kann.


    Zerlege den Körper vor deinem inneren Auge in seine Einzelteile.

    Untersuche die Beschaffenheit und Eigenschaften der Körperteile.


    Schau dir den Raum zwischen den Gedanken an.


    Es gibt viele Dinge die man erforschen muss.


    Wenn Du müde wirst, kehre wieder zum Mantra zurück.


    Wenn Du nur die 15 Minuten praktizierst, bist Du wie jemand der sich was kocht weil er hungrig ist, aber dann diese Speisen nicht isst.


    Du wirst hungrig bleiben.


    Durch Einsichten und Weisheit verändert sich Dein Leben.


    Dehne die Buddho-Praxis auf den ganzen Tag aus.

    Ich habe zum Beispiel auch einen Tag in der Woche nur Metta gemacht.

    Da würde ich auch mehr tun.


    Wenn dir was passiert, versuche sofort zu lächeln. Verurteile dich nicht.


    Wenn du aufstehst und im Badezimmer dein Spiegelbild siehst, versuche wieder zu lächeln.


    Die Praxis soll nichts außergewöhnliches sein, sondern was ganz normales.


    Wenn du vom Kissen aufstehst, dann endet deine Praxis nicht, sondern beginnt erst richtig.


    Ich habe eine sehr lange Zeit keine wirkliche Veränderung an mir bemerkt, aber ich konnte immer deutlich meine Fehler erkennen.

    Ich hatte nicht genug Liebe für mich.


    Irgendwann haben meine Freunde zum mir gesagt : "Du strahlst so eine Ruhe aus", oder "ich würde auch so gerne so gelassen werden wie Du"


    Mir selbst ist das nicht so aufgefallen.


    Ich wünsche Dir alles Gute!


    LG Martin

  • Hallo Haiku,

    ich weiß nicht wirklich, was Du anders machen solltest. Aber ...


    Ich praktiziere seit über 30 Jahren. Gerade in den letzten Wochen hätte mir das, was Dir passierte, auch passieren können. Ich habe mich vor ca. 2-3 Wochen dann gezwungen, langsam zu handeln, mich erneut um Achtsamkeit und Konzentration bemüht.


    Immer wenn wir etwas WOLLEN, besteht die Gefahr, die Achtsamkeit zu verlieren.


    Auch können, wie ich bei mir vermute, körperliche Beschwerden wie ein zu hoher Puls den Stress verursacht haben.


    Nachdem ich nun meinen Eingriff am Herzen hinter mir habe, bin ich wieder so entspannt wie früher. Ich habe einige Geduldsprüfungen in letzter Zeit durchgemacht, die ich gerade im KH endlich akzeptierte, akzeptieren musste.


    Jetzt fühle ich wieder Mitgefühl, nicht nur für mich.


    Shit happens. Sei dankbar, sehe es als Anstoß, in die Achtsamkeit zurückzukehren. Wir wissen nicht, was wir brauchen, um zu lernen.

    Ich kenne Deine Enttäuschung, am besten habe keine Erwartungen, sondern praktiziere einfach.


    Ich wünsche Dir alles Gute

    _()_ Monika

    Ohne mich ist das Leben ganz einfach

    Ayya Khema

    Oder anders ausgedrückt: Die Beherrschung der Gedanken ist der Weg zum Glück (SH Dalai Lama)

  • So wie auch Martin schreibt: nicht nur für kurze Zeit praktizieren, sondern immer, immer wieder in die Gegenwart kommen und darüber reflektieren.

    _()_

    Ohne mich ist das Leben ganz einfach

    Ayya Khema

    Oder anders ausgedrückt: Die Beherrschung der Gedanken ist der Weg zum Glück (SH Dalai Lama)

  • Zum Thema Achtsamkeit hast Du Antowrten bekommen. Nur noch kurz ein Zutat von meinem Lehrer

    "Achtsam zu sein ist ganz einfach, aber überhaupt nicht leicht."


    Darüber hinaus eine Frage: Warum suchst Du nach einer Alternative zur Metta-Meditaion? Das ist ja die "Standardmethode". Ganz besonders bei Menschen in Deiner Situation.


    Wenn ich mich recht entsinne, haben wir Dir bereits ein Buch von Pema Chödrön empfohlen. In dem Buch geht es unter anderem genau darum: Was kann ich praktisch tun, wenn ich das Gefühl habr, da mit der Metta-Meditation klappt für mich im Moment nicht. Du bist damit nicht alleine! (Habe ich selbst letzte Woche etwa zum 200sten Mal gelesen)


    Liebe Grüße,

    Aravind.

  • Wisst ihr, ob es neben Metta noch andere Formen gibt, wie ich es schaffe, mit mir selbst gütiger und gerechter zu sein? Therapeutisch habe ich vieles versucht, aber das Problem sitzt wohl auf anderer Ebene.

    Aber das unfriedliche, ablehnende Gedanken immer mal wieder hoch kommen im Geist, ist doch ganz normal. Das ist eine Übungssache. Es gibt die Vier großen Rechten Anstrengungen. Wer beherrscht schon das nicht aufkommen lassen, ablehnender Gedanken sofort ? Sehr wenige Menschen haben sie von Natur aus wenig, aber völlig ohne solche Gedanken ist wohl kein Mensch ( außer als Kind vielleicht, aber auch nur die ersten Jahre ). Es gibt keine Praxis mit der die ablehnenden Gedanken schneller verschwinden. Aber du bist doch schon sehr gut davor oder schon weiter als manch andere, dass du Deine Gedanken so gut beobachten kannst und als unheilsam für Dich erkennst. Ablehnende Gedanken gegen sich selbst führen zu ablehnenden Gedanken bei anderen. Meistens. Daher ist es gut, solche auch über sich nicht aufkommen zu lassen. Viel Erfolg. Bin ja auch noch genau das am Üben. Da ich schon noch öfter ablehnende Gedanken gegen andere hoch kommen bemerke, muss ja auch etwas mit meiner Selbstgüte nicht stimmen. Lehne ich mich wohl auch noch oft selbst ab, ohne es zu merken. Du merkst das ja zumindest. Metta- Meditation hilft schon viel, denn durch sie werde ich achtsamer, auch wenn es in erster Linie darum geht Mitgefühl zu entwickeln für mich und andere. Aber immer ist die Metta nicht voll entw. und dennoch die Achtsamkeit größer ( durch die Metta- Meditation ) und so erkenne ich ablehnende Gedanken schneller und versuche sie nicht weiter zu führen. Wenn sie gar nicht erst hoch kommen, muss man wohl schon ein Buddha sein. ( Oder die Metta, die Liebende Güte ist so entwickelt, dass die ablehnende Gedanken nicht hoch kommen, aber irgendwann ist dieser Zustand vorbei, aber ein Erwachter hat wohl immer Metta. ):? LG


    Und mit Druck üben oder meditieren, sich zwingen ist auch nicht so gut, man sollte es gerne machen. Wobei das ja nun auch nicht gut wäre, das tagelang, monatelang nicht mehr zu üben. Du machst es sicher richtig. Aber dann halt keine zu hohen Erwartungen haben. Nicht erwarten, dass du dann sofort alles besser kannst als vorher- aber ich neige ja auch dazu. :oops: Mein Problem mit dem rastlos sein nach der Arbeit könnte sein, dass ich zu wenig Selbstgüte habe, aber immer versuche sie mit anderen zu haben ( was auch meistens gut geht ), aber ich sollte sie auch für mich üben. Oder aber, ich habe kein Problem mit Selbstgüte, denn sonst könnte ich Metta gar nicht für andere entwickeln. Das Problem der Rastlosgkeit muss von was anderem kommen. Wahrscheinlich war die Metta nicht genug entwickelt. Nur so ein Viertel.

    Zitat


    Die Vier Rechten Anstrengungen (samma padhana)[Bearbeiten | Quelltext bearbeiten]

    1. Unaufgestiegene unheilsame Dinge vermeiden.
    2. Aufgestiegene unheilsame Dinge aufgeben / auflösen.
    3. Unaufgestiegene heilsame Dinge ins Leben rufen.
    4. Aufgestiegene heilsame Dinge festigen.

    Der Weise, der, auf Sittlichkeit gestützt,

    Den Geist entfaltet, sich in Weisheit übt,

    Ein solch entschlossener und weiser Jünger

    Mag dieses Lebens Wirrsal einst entwirren.


    (Diese Verse finden sich im Samyutta-Nikāya).

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  • Mir ist heute aufgefallen, das manche hier recht hatten in einem anderen Faden, fragte ich oder erzählte ich, dass ich beim Meditieren, meine Gedanken bekämpfe. Es als einen Kampf sehe. Da sagten mir viele, dass es die falsche Herangehensweise ist. Ich glaube, dass es mal so mal so sein kann. Rechte Anstrengung erfordert ein wenig so etwas wie ein energisches Kämpfen, und manchmal kann man seine Gedanken sanft annehmen und da sein lassen, sie dann nur nicht weiter führen, sondern ersetzen. Oder ein Kämpfen, ein Druck ist immer falsch. Das was mir hier viele sagten. Rechte Anstrengung sollte nie krampfhaft, nie ablehnend sein gegen sich, gegen seine Gedanken. Ein liebevoller Umgang mit ihnen ist besser.

    Das passt doch in diesen Faden. Ayya Khema sagte, wir sollen uns für unsere Gedanken ( ablehnende oder überhaupt Gedanken während der Meditation ) nicht tadeln, sondern sie erkennen und ersetzen ( mit dem Meditationsobjekt ). Während der Meditation sind alle Gedanken unhilfreich, sehe ich es richtig ? Daher sollen wir auch die guten Gedanken nicht weiter fortführen, da es ja darum geht nicht mehr zu denken.

    Aber das soll eben liebevoll geschehen.

    Mit einem entspannten, offenen Geist, es nicht wie einen Kampf sehen. So wie die Gedanken sind, das was da auftaucht, das nicht ablehnen, sich wieder auf den Atem konzentrieren ( wie das bei Metta ist, wie ich das da mache, weiß ich grad nicht ). Liebevoller Umgang mit sich ist wohl wichtig. Anfangen zu Meditieren mit einer Freude darauf, auch einen Entschluss ( zB" ich möchte mehr Herzensgüte entwickeln" ), diesen aber danach wieder fallen lassen, sonst können wir uns nicht konzentrieren. So sagte es Ayya Khema. Mit einem Ziel zu meditieren, das wird nichts. Das Ziel kurz nachdem man es gefasst hat, wieder fallen lassen. Denn wenn man kein Ziel hat, keinen Druck auf sich ausübt, dann kann man sich fallen lassen und dass die Konzentration entsteht, auch das nicht erreichen wollen. Diese Art wäre wohl was man als "nur sitzen" bezeichnet. Schon versuchen in eine Stille zu kommen, aber nicht ablehnend sein dabei gegen das was auftaucht. :)

    Der Weise, der, auf Sittlichkeit gestützt,

    Den Geist entfaltet, sich in Weisheit übt,

    Ein solch entschlossener und weiser Jünger

    Mag dieses Lebens Wirrsal einst entwirren.


    (Diese Verse finden sich im Samyutta-Nikāya).