Leichenbetrachtung im Satipaṭṭhāna-Sutta

  • Die Leichenbetrachtung im Satipaṭṭhāna-Sutta soll nicht schockieren, sondern die Anhaftung an den Körper lösen, Vergänglichkeit ins Bewusstsein rufen und damit eine tiefere Gelassenheit, Ethik und Befreiung fördern. Aber, ist diese Art der Meditation noch zeitgemäß?

    "Es gibt nur eine falsche Sicht: Der Glaube, meine Sicht ist die einzig richtige."

    Nagarjuna / 塞翁失馬焉知非福

  • Was spricht denn deiner Meinung nach dafür, dass diese Meditation heutzutage nicht mehr zeitgemäß ist?

    Gruß Helmut


    Als Buddhisten schätzen wir das Leben als höchst kostbares Gut.

  • Was spricht denn deiner Meinung nach dafür, dass diese Meditation heutzutage nicht mehr zeitgemäß ist?


    Zunächst einmal, würde ich sagen, dass das kulturelle Umfeld bei uns fehlt. Offene Verbrennsungstätten und Leichenfelder wie in der alten indischen Kultur sind bei uns nicht vorhanden. Das ist dann auch ein praktisches Problem. In der Meditationsanweisung für die Leichenbetrachtung, wird die Leiche in den verschiedenen Verwesungsstadien betrachtet. Soll ich warten, bis die Oma oder der Opa stirbt und sie dann wochenlang daheim rumliegen lassen, damit ich endlich eine Leichenbetrachtung durchführen kann?


    Die Leichenbetrachtung könnte bei Menschen in der westlichen Kultur zu Überforderung, Trauma und Abwehrreaktionen führen, statt zur Einsicht in Vergänglichkeit und der Notwendigkeit des Loslassens. Man muss psychisch schon sehr stabil sein, um so eine Meditation durchführen zu können, denke ich.


    Die buddhistischen Lehren sind kontextgebunden entstanden. Die Leichenbetrachtung war eine redikale Methode für Mönche und Nonnen in einem völlig anderen kulturellen Umfeld. Es gibt heute für uns sicher verträglichere Methoden, um Einsicht in Vergänglichkeit Loslassen und Nicht-Selbst zu erlangen.

    "Es gibt nur eine falsche Sicht: Der Glaube, meine Sicht ist die einzig richtige."

    Nagarjuna / 塞翁失馬焉知非福

  • Ich sehe die Gefahr in der Leichenbetrachtung, dass wir Westler, die wir oft genug kein positives Verhältnis zu unserem Körper haben und das erst aufbauen müssen, nach so einer Leichenbetrachtung dann auch noch Ekel empfinden. Ekel vor allem Körperlichen und dadurch auch vor uns selbst. Das wird dann auch noch buddhistisch überhöht in der Meinung, dass jedes gutes Körpergefühl ja Anhaftung sei und überwunden werden müsse.


    Das Gleiche machen wir mit dem Ich, dass einige Buddhisten schon abschaffen wollen, bevor sie ein gesundes Ich ausreichend entwickelt haben.


    Wenn dann auch noch der Verstand als grundlegend negativ bewertet wird, sind wir auf dem Weg zu einem gefühlskalten, dissoziierenden Menschen, der sich selbst immer weniger halten kann, sich aber buddhistisch ganz oben fühlt.


    Ich finde, man kann sich die Vergänglichkeit des Lebens auch auf ungefährlichere Art und Weise bewusst machen. Das liegt für mich u.a. auch in der Verantwortung eines jeden buddhistischen Lehrers.


    Es geht doch darum, immer das aus dem umfangreichen Palikanon herauszusuchen und anzuwenden, was für unsere jetzige Entwicklung hilfreich ist. Und nicht nur stumpfsinnig das hinterherzubeten und wortwörtlich anzuwenden, was vor 2000 Jahren in deren völlig anderen Lebensumständen relevant war.


    Ich selbst werde ganz sicher keine wurmgefüllten Leichen betrachten. Es reicht mir, die von Jahr zu Jahr stärker werdenden Veränderung meines Körpers aufmerksam wahrzunehmen und zu üben, sie immer wieder anzunehmen. Das reicht mir als anschauliches Beispiel. 😃

  • Leichenbetrachtung ist, ohne das Wesen der Anhaftungen an den fünf Anhäufungen zu erkennen, nicht hilfreich.

    Der Mensch, der an seinem Körper angehaftet hat, ist nun eine Leiche. Wie viel Kraft hat es ihn gekostet, diese Anhaftung aufrechtzuerhalten? Sie zu erhalten. Hat ihn das Festhalten letztlich umgebracht, weil sie ihn gefesselt hat?


    Anhaftungen durch Festhalten des Zusammengesetzten sind Leiden, weil alles Zusammengesetzte zerfallen wird. Da ist nichts zu machen.

    Das Zerfallen kommt für Menschen viel schneller, je mehr sie an den fünf Anhäufungen festhalten, anstatt mit ihnen zu leben, so gut es eben geht.

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  • Wenn man es richtig macht, dann spricht nichts dagegen.


    Im Visuddhimagga heißt es, dass der Übungsbeflissene sich zu einem Meditationslehrer zu begeben hat und sich von den 40 Übungsobjekten ein seiner eigenen Natur angemessenes geistiges Übungsobjekt geben lässt. Man gibt sich also nicht selbst ein Übungsobjekt und macht dann mal. Sondern der Lehrer schaut sich den Charakter desjenigen an und teilt dann zu. Darüber hinaus führt diese Meditation zur vollen Sammlung und ist damit in höchstem Maße mit geistiger Freude (piti) verbunden.


    So wie diese Übung früher nichts für jeden war, so ist sie es auch heute nicht.

  • Gestorben wird auch heute noch, aber der Umgang damit hat sich verändert, denn für den Tod gilt: "Das Wahre ist nicht schön und das Schöne ist nicht wahr".


    Im Mittelalter gab es noch das "Memento Mori" (Gedenke des Todes) und in der Neuzeit das "Vanitas" (Vergänglichkeit), mit den entsprechenden bildlichen und sprachlichen Darstellungen, wie z.B. dieses Gedicht, das sehr an die buddhistische Leichenbetrachtung erinnert:


    Zitat

    Über die Gebeine der ausgegrabenen Philosetten


    O häßlich' Anblick! ach! wo sind die güldnen Haar!

    Wo ist der Stirnen Schnee? wo ist der Glanz der Wangen?

    Der Wangen / die mit Blut und Lilien umfangen?

    Der Rosen rote Mund! wo ist der Zähne Schar?

    Wo sind die Sternen hin? Wo ist der Augen Paar

    Mit den die Liebe spielt? Itzt flechten schwarze Schlangen

    Sich um das weite Maul / die Nasen ist vergangen

    Die keinem Elfenbein vorhin zu gleichen war.

    Ist jemand der noch kann beherzt und sonder Grauen

    Der Ohren kahlen Ort / der Augen Lucken schauen?

    Ist jemand / der sich nicht vor dieser Stirn entsetzt?

    Der denke / wie sich werd' alsdann sein Geist befinden

    Wenn er in kurzem wird auf gleichen Schlag verschwinden?

    Weil schon der Tod auf ihn die schnellen Pfeile wetzt.

    Andreas Gryphius

    1616-1664


    Brrrrr... muss das sein? Wir schauen lieber auf die schöne Seite des Daseins, solange sie noch erhältlich ist.