Ich unterscheide zwischen zwei Formen von Verzeihen.
Da ist zum einen das Verzeihen als Ritual, als Interaktion. Das ist ein Vorgang zwischen Individuen, in der man um Verzeihung bittet und/oder Verzeihung gewährt.
Zum anderen das innere Verzeihen, also sich selbst oder dem anderen zu verzeihen, ohne dass ein "Antrag gestellt wurde", als Reifungs- und Heilungsprozess.
Beides scheint mir wichtig.
Das Ritual ist heilsam für beide Seiten.
Das innere Verzeihen ist wichtig für einen selbst, und letztlich ändert es auch das Verhalten seiner Umwelt gegenüber.
Nicht verziehen zu haben, beeinträchtigt immer.
Verzeihen als Ritual kann auch lange vor der innerlichen Befreiung hilfreich sein. Es markiert eine Wende in der inneren Haltung, den Punkt eines neuen Anfangs, es ist der Anfang von Heilung. Es markiert den Entschluss und den Willen den Weg des Verzeihens zu gehen. Wenn ich Heilung möchte, dann bleibt mir sogar nichts anderes übrig, als einseitig und vorzeitig zu verzeihen.
Mir erscheint es nicht notwendig, dass ich um Verzeihung gebeten werde, obwohl ich weiß und erfahre, dass das eine Wohltat sein kann und förderlich für den Heilungsprozess ist.
Wichtig ist für mich nur – und zwar als Mensch, der sich dazu entschlossen hat den Weg der Selbsterkenntnis zu gehen – , dass ich verzeihen kann, ob man mich darum gebeten hat oder nicht. Wenn ich Verzeihung an eine Bedingung knüpfe, z.B. dass mich jemand um Verzeihung bittet, dann hat das den Geschmack von Rache, Strafe, Vergeltung: "Du musst erst angekrochen kommen …" Es ist ein Deal. Manchmal geht es nicht anders, wenn man einfach noch nicht wirklich erkannt hat. Aber ich denke, man sollte wissen, dass man damit sein Wohl noch immer vom Verhalten des Anderen abhängig macht, man liefert sich aus. Daher auch das Gefühl der Ohnmacht, und die Beherrschung durch den Wunsch, der Andere möge einem um Verzeihung bitten – das kann einem das ganze Leben vergällen.
Mit dem Verzeihen, als Ritual und als inneren Prozess, erhält man ein Stück Autonomie und Freiheit zurück. Es ist immer ein Akt der Stärke. (Ich spreche nicht von "Verzeihen" im Beispiel, wenn die prügelnde Frau den Mann jedesmal wieder zerknirscht um Verzeihung bittet und der Mann dann verzeiht, in der Hoffnung, es sei das letzte Mal gewesen. In solchen Fällen handelt es sich eher um Spiele eines Systems der Abhängigkeit.)
Unabhängigkeit ist erst dann erreicht, wenn man bedingungslos verzeiht.
Aber dem gehen Erkenntnisprozesse voraus. Einer davon ist, dass ein Frosch quakt, wir also immer das tun, was wir gerade tun können, was die Bedingungen hergeben. Bedingtes Entstehen eben.
Wie Monikamarie schon schrieb, niemand von uns ist ohne Schuld. Die meisten Verletzungen fügen wir unseren Mitmenschen zu im Glauben, was Gutes zu tun, zumindest nichts Böses oder irgendwie Dramatisches. Das sehen wir in Eltern-Kind-Beziehungen oder in Partnerschaften. Wer hier im Forum hat noch nie eine Liebesbeziehung beendet, im Glauben, er tue was Rechtes und das Allerbeste? Wissen wir, welche verheerenden Auswirkungen das auf den Anderen hatte – das muss sich ja nicht offensichtlich äußern? Wissen Eltern immer, was sie bei ihren Kindern anrichten, obwohl sie der Meinung sind, sie seien gut zu ihnen? Wissen wir, was wir unseren Kolleginnen und Kollegen, unseren Nachbarn und Nachbarinnen antun, wenn wir ihnen grob begegnen? Wissen wir, welche Folgen es haben kann, wenn wir jemanden auf der Straße blöd ansehen, weil er uns irgendwie komisch vorkommt? … Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Wir haben nicht die Möglichkeit in das Herz der Menschen zu blicken, ihr Leben komplett zu verfolgen, aber wir können uns vorstellen, was das bei uns anrichten würde. Wir können uns ansehen, welche Botschaften, die uns verfolgen, wir verinnerlicht haben, welche kleinen und großen Dinge uns geprägt haben.
Wenn ich das erkenne, dann ist das Verzeihen unausweichlich. Es scheint mir gar eine Grundbedingung zu sein, um leben zu können, um miteinander leben zu können.
Ich denke auch, dass es derart ein Teil der menschlichen Natur ist, dass jeder täglich verzeiht. Nur fällt es uns nicht auf. Wir neigen dazu, Verzeihung mit großen Ereignissen zu verbinden, und vergessen dabei, die täglichen kleinen Verletzungen, die wir anstandslos verzeihen.
Daher meine ich, dass Verzeihung nichts ist, das von außen auf uns zukommt, das wir das erst lernen müssen, sondern dass es uns innewohnt und zu unserer Natur gehört. Aber wie alle Elemente unserer Natur können wir sie vernachlässigen oder kultivieren.
Das bedinungslose Verzeihen betrachte ich daher als Teil der Gelübde.