5. Gesang
Höchster WEG, gar nicht schwer!
Die Worte treffen's, Rede trifft.
Eins hat Arten vielerlei.
Zweie gibt nicht beiderlei.
Enden des Himmels: Sonne geht auf, Mond geht unter.
Vor dem Geländer: tief die Bergwelt, kalt die Gewässer.
Dem Totenschädel schwanden die Sinne;
wie soll ihm Freude erstehn?
Im morschen Baum ein Drachengesang:
noch ist er nicht verdorrt.
Schwer, ja schwer!
Wählerisch wählen? Wolkenlos klar?
Freund, sieh selber zu!
6. Zwischenbemerkungen zum Gesang
»Höchster WEG, gar nicht schwer.« - Derselbe öffentliche Aushang nun zum dritten Male! [Erst vom Dritten Patriarchen ausgegeben, dann von Dschau-dschou, nun gar noch von Hsüä-dou - und so geht es weiter!] - Er stopft sich den Mund mit Reif voll [nimmt etwas in den Mund, was einem das Sprechen unmöglich macht), - Was behauptet er da?
»Worte treffen's, Rede trifft.« - Schwimmt der Fisch, trübt sich das Wasser, fliegt der Vogel, so fallen Federn. - So zerflattert die Blüte in Sieben, acht Blättchen. - Er streicht Schminke auf!
»Eins hat Arten vielerlei.« - Schön, wie er das auseinanderlegt. - Wäre es nur ein einziges Einerlei, so gäbe es ja auch keinen letzten Schluss [keine letzte Erkenntnis].
»Zweie gibt nicht beiderlei.« - Wie könnte er es dann erst mit vier-, fünf-, sechs- und siebenerlei aushalten. Was will er eigentlich mit diesem Rankengewirr?
»Enden des Himmels; Sonne geht auf, Mond geht unter.« - Eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht wird hier geboten! - Über dem Haupt endlose Weite, endlose Weite unter den Füßen. - Nur jetzt nicht das Haupt erheben oder senken! [Jetzt hast du es mit dem höchsten WEG zu tun; da schaut man sich nicht nach Einzelheiten um! Nicht um Gegenstände handelt es sich hier, sondern um dich selbst. (da bin ich nicht ganz mit einverstanden, denn: Sonne = Leben, Mond = Shunyata, siehe auch wie es weitergeht:)]
»Vor dem Geländer: tief die Bergwelt, kalt die Gewässer.« - Ganz sterben, nicht wieder leben! - Du fühlst doch wohl die kalten Körperhaare sich dir sträuben (!!!)?
»Dem Totenschädel (= Mensch gefangen in der Shunyata) schwanden die Sinne; wie soll ihm Freude erstehn?« - Aber im Sargholz drin reißt er dann doch die Augen auf (!!!)! - Der Pilger Lu [Hui-nëng, der Sechste Patriarch] ist ihm Weggenosse.
»Im morschen Baum ein Drachengesang: noch ist er nicht verdorrt (rührt sich noch Leben?).« - Nanu! - Der morsche Baum treibt wieder Blüten! - So kam auch Bodhidharma [noch in hohem Alter] zu uns in den Osten.
»Schwer, ja schwer!« - Falsche Lehre! Lässt sich nicht vertreten. - Er stellt seine Behauptung auf den Kopf. - Wo kann man hier von schwer und wo von leicht reden?
»Wählerisch wählen? Wolkenlos klar? Freund, sieh selber zu!« - Ich bin doch aber blind! [Yüan-wu spielt den Ängstlichen, welcher der eigenen Entscheidung ausweichen möchte.] - Ich dächte, das geht andere Leute an. - Es läuft also zum Glück darauf hinaus, dass er [Hsüä-dou] erst einmal selber zusehen muss. - Den Mönch vom Berge [mich, Yüan-wu] geht es nichts an!
7. Erläuterung zum Gesang
Hsüä-dou kennt den Punkt, auf den es Dschau-dschou in seiner Unterweisung ankommt. Den stellt er deshalb in seinem Gesang heraus mit den Worten: »Höchster WEG, gar nicht schwer.« Wenn er daraufhin fortfährt: »Worte treffen's, Rede trifft«, so ist das so zu verstehen, dass er eben eine Ecke vorweist, ohne die drei andern zu berücksichtigen. Aber indem er daran die Verse anschließt: »Eins hat Arten vielerlei, zweie gibt nicht beiderlei«, kommt er dann doch in gewissem Sinn über die drei anderen Ecken auf die erste zurück.
Ihr, saget mir einmal: Welches sind denn die Umstände, unter denen Wort und Rede »es treffen«? Wieso hat denn »Eines« doch »vielerlei Arten«, und gibt zwei doch »nicht beiderlei«? Wenn dir dafür die Augen fehlen, in welcher Richtung willst du denn suchen? Wenn du aber durch diese beiden Sätzchen durchgedrungen bist . . .
Darum heißt es bei den Alten: Klappe es zu einem Blatt zusammen! Dann siehst du, wie früher auch, die Berge als Berge, Wasser als Wasser, Langes lang, Kurzes kurz; Himmel ist Himmel, Erde Erde. [Denn »Eins hat Arten vielerlei.«] Zu Zeiten aber nennst du die Erde Himmel, zu Zeiten sagst du vom Berg: es ist kein Berg, zu Zeiten sagst du vom Wasser: es ist nicht Wasser. (Denn »Zweie gibt nicht beiderlei.«)
Also, um es kurz und schlicht zu sagen: Wie gewinnt man Ruhe und Frieden? Kommt ein Wind, so rührt sich's im Baum; wölbt sich die Welle, so hebt sich das Boot. Im Frühjahr sproßt es, im Sommer wächst es hoch, im Herbst wird geerntet, im Winter gespeichert. [Darum heißt es in der Meißelschrift vom Glauben an den Geist, im 10.. Doppelvers:]
Die Eine Art, von ebenem Mut,
Zerläuft von selbst, wie Wasser tut.
Mit diesen vier Versen also ist Hsüä-dou's Gesang [auf Dschau-dschou's Unterweisung] schlagartig zu Ende.
Nun hat Hsüä-dou aber noch mehr auf dem Herzen. Er knüpft sein zugeschnürtes Bündel auf und zählt her. Nur dass nach seinen vier ersten Versen [die über den höchsten WEG eigentlich schon alles Nötige enthalten] nicht mehr viel zu sagen übrig bleibt. Trotzdem fährt er fort: »Wenn an den Enden des Himmels die Sonne aufgeht, dann geht der Mond unter; wenn vor dem Geländer das Bergland in die Tiefe reicht, dann sind die Gewässer kalt.« Hier kann man wohl sagen: Auch diese Worte treffen es, auch diese Rede trifft. Hier ist Vers um Vers WEG (DAO), Wort für Wort vollkommene Wahrheit. Wie sollte dies nicht die Stelle sein, an der einer die Scheidewand, mit welcher wir das Innere vom Äußeren trennen, einmal vergisst und beides, alles miteinander »zu einem Blatt zusammenklappt«?
Nachdem Hsüä-dou sich in seinen ersten Versen äußerst schroff und streng gezeigt hat, wird er nun gegen das Ende zu auch reichlich leck und locker. Wenn du in diese Verse fleißig eindringst, bis du sie durchschaust, wenn dir ihr Sinn beim Hinsehen durchsichtig geworden ist, dann wirst du es ungewollt verspüren wie den unvergleichlichen Geschmack des Schaums auf zerlassener Butter. Hast du jedoch die in der Unterschiedenheit befangene Erklärungsweise noch nicht vergessen können, so zerflattert dir die schöne Blüte in sieben, acht Blättchen, und du bleibst bestimmt außerstande, solche Reden [wie sie die obigen zwei Verse bringen] zu verstehen.
»Dem Totenschädel schwanden die Sinne: wie soll ihm Freude erstehn? Im morschen Baum ein Drachengesang: noch ist er nicht verdorrt. Dies hat er einfach zusätzlich hineingemengt. Und zwar handelt es sich um einen »öffentlichen Aushang« der alten Meister, der die Frage nach dem WEG betrifft. Den holt sich Hsüä-dou herbei und zieht ihn zur Vervollständigung seines Gesanges mit den Worten des Dritten Patriarchen vom höchsten WEG auf einen und denselben Strang. Aber heutzutage verstehen die Leute nicht mehr, wie die Alten es meinen Sie kauen an deren Worten und Sätzen nur herum und kommen zu keinem Schluss. Es muss einer schon sehr gut bewandert sein, um diese Geschichte richtig wahrzunehmen.
Seht, sie ist so. Ein Mönch fragte Hsiang-yän: Was ist es um den WEG? Hsiang-yän erwiderte: Das ist, wie wenn in einem morschen Baum der [Wind-] Drache summt. Der Mönch fragte weiter: Wie steht es mit einem Menschen, der im WEGE lebt? Hsiang-yän sagte: Ein Totenschädel mit Augäpfeln darin.
Später kam der Mönch zu Schi-schuang. Den fragte er: Was bedeutet das Drachengesumme im morschen Baum? Schi-schuang erwiderte: Ein Dasein, das sich noch mit Freude gürtet. Und was bedeutet ein Totenschädel mit Augäpfeln darin? [fragte der Mönch weiter]. Schi-schuang antwortete: Ein Dasein, dem die Sinne noch geblieben sind.
Der Mönch [immer noch unbefriedigt] kam auch zu Tsau-schan. Diesen fragte er: Was bedeutet das Drachengesumme im morschen Baum? Tsau-schan gab zur Antwort: Dem sind die Blutadern nicht durchschnitten. [Der Mönch fragte weiter:] Was ist es um einen Totenschädel mit Augäpfeln darin? Darauf Tsau-schan: Der ist noch nicht ganz dürr. [Tsau-schan ist ein gütiger Schalk. Auf die erste Frage beantwortet er schon die zweite, auf die zweite nachträglich die erste. Auch darin liegt die Wahrheit, die dem Mönch nicht eingehen will: Zweie gibt nicht beiderlei. So fragt er immer noch weiter:] Welcher Mensch hat es denn schon gehört [das Drachensummen im morschen Baum]? Tsau-schan sagte: Auf der weiten Erde ist nicht einer, der's nicht hörte. Da sagte der Mönch: Nun möchte ich nur wissen: in welchem Kapitel steht eigentlich dieses Wort vom Drachengesumme? Da erwiderte Tsau-schan: Ich weiß nicht, in welchem Kapitel das steht. Die es hören, müssen alle daran sterben.
Es gibt auch einen Gesang. Er lautet:
Wenn im dürren Baum der Drache dir singt,
siehst wahrhaft du den WEG.
Wenn im Totenkopf keine Sinne mehr sind,
wird erst das Auge klar.
Wo Freude dir und Empfindung schwand,
bleibt zu vermelden nichts.
Wie nähme ein solcher den Unterschied
des Reinen im Trüben wahr?
Bei Hsüä-dou, das muss man schon sagen, hat alles großartig Hand und Fuß. Da mengt er dir in seinen Gesang auf einmal eine Zutat hinein. Aber obgleich es eine solche ist, so gibt es, mit dem übrigen zusammengenommen, doch »nicht beiderlei«.
Zum Beschluss gibt Hsüä-dou den Seinen noch etwas zum persönlichen Gebrauch mit. Er setzt neu an und sagt: »Schwer, ja schwer!« Auch durch das muss man erst hindurchgedrungen sein, bevor man es gewinnt. Wie ist das zu verstehen? Dafür gibt es ein Wort von Bai-dschang, das lautet: »Alles, alles, Worte, Reden, Berge, Flüsse, die ganze große Erde, jedes einzelne Ding, es macht alles kehrt und kommt zuletzt nur auf dich selbst zurück.« So muss auch dies alles, was Hsüä-dou hier zwischen die Finger nimmt und aufgreift, letzten Endes Wort für Wort notwendig auf dich selbst zurückkommen.
Und nun saget mir: Welches ist der Punkt, an welchem Hsüä-dou seinen Leuten noch etwas zum persönlichen Gebrauch mitgibt? »Wählerisch wählen? Wolkenlos klar? Freund, sieh selber zu!« Nachdem er bereits sein Rankengewirr fertig geflochten hat und mit seinem Gesang am Ende ist, warum sagt er da noch: »Freund, sieh selber zu«? Ein glücklicher Wurf, diese Mahnung, du sollest selber zusehen. Saget nicht, ihr alle hier, ihr könnet es nicht verstehen! Selbst der Mönch vom Berge hier ist an diesem Punkte in genau derselben Lage: er kann es nicht verstehen.