Selbst:
Lieber Sudhana, wegen der Produktionsgesellschaften und des französischen Regisseurs würde ich nicht einfach von einem "Hollywood-Film" sprechen wollen.
Annaud macht so wenig französische Filme wie Petersen deutsche - und Mandalay Entertainment ist eine ziemlich typische Hollywood-Produktionsfirma wie auch der Film mE eine ziemlich typische Hollywood-Produktion. Aber das ist ein unwesentliches Detail.
Selbst:
Es wird gleich zu Beginn darauf hingewiesen, dass Harrer Nazi war.
Das war einer der eher zaghaften kosmetischen Versuche der Schadensbegrenzung für diese 70-Millionen-Dollar-Produktion, nachdem Lehner Harrers problematische Vergangenheit publik gemacht hatte. Das Lexikon des internationalen Films fasst es recht mE gut zusammen:
„Ein ausuferndes exotisches Star-Epos, das die Wandlung Harrers vom arroganten Egoisten zum Menschenfreund beschreiben will, darüber aber die Chance zu historischer und spiritueller Vertiefung verpasst. Eindrucksvolle Landschaftspanoramen sind das Beste, was der Film zu geben vermag.“
Selbst:
Und die Aufgabe, die der Schüler bekam, war ja eine andere: Was ist hier "Buddhistisches" zu entdecken? In einem Ethikkurs werden dann populäre buddhistische Filmklischees womöglich zu interessanten Fragen nach einer buddhistischen Moral.
Zu den "interessanten Fragen nach einer buddhistischen Moral", die dieser Film aufwerfen könnte, habe ich anscheinend eine etwas andere Sicht bzw. andere Interessen. Ja - was ist hier, in diesem Film eigentlich "Buddhistisches" zu entdecken? Genau das ist eigentlich der Punkt, der mich zur Beteiligung an der Diskussion motiviert hat. Zunächst: ich halte diese Art des "Zugangs" (i.e. per Hollywood-Märchen) zum Buddhismus und meinetwegen auch zu buddhistischer Ethik für didaktisch völlig verfehlt, auch wenn das für Schüler/innen möglicherweise attraktiv sein sollte. Damit werden mE lediglich Stereotypen transportiert und Vorurteile - insbesondere über Buddhismus als 'exotische Religion' - verfestigt. Genau das sollte im Ethik- oder Religionsunterricht gerade nicht passieren. Aus diesem Grund stelle ich mich auch gelegentlich als Diskussionspartner für Schüler/innen im Rahmen des Schulunterrichts (in einer 'Fragestunde') zur Verfügung und bemühe mich, dort so unexotisch wie möglich aufzutreten - so trage ich da z.B. bewusst keine Robe. Ich bin dem evangelischen Religionslehrer (dem ich auch freundschaftlich verbunden bin) dankbar für solche Gelegenheiten - mir ist allerdings auch bewusst, dass es Religions- bzw. Ethiklehrer gibt, denen gerade daran gelegen ist, das 'Exotische' nichtchristlicher Religionen herauszustellen.
Harrer steht nun in diesem Film (und in der gestellten Aufgabe) stellvertretend für den Europäer, der dem Buddhismus bzw. einer buddhistisch geprägten Kultur begegnet. Und eben da stellt sich ebenfalls - nicht nur hinsichtlich der Art, wie der Film 'Buddhismus' darstellt - die Frage nach der Authentizität des Dargestellten. Alltibasu ist mit der Beantwortung einer solchen Fragestellung im Rahmen seiner Aufgabe gewiss überfordert. Trotzdem halte ich es für sinnvoll, diese Frage zu diskutieren.
Ein weiterer (und vielleicht wichtigerer) Aspekt: in eben diesem Zusammenhang und unabhängig vom Thema Buddhismus bzw. Begegnung eines Europäers mit dem Buddhismus empfinde ich auch die Verharmlosung und Relativierung der Nazi-Vergangenheit Harrers im Hinblick auf aktuelle politische Entwicklungen als - schlicht gesagt - beunruhigend. Wie schon geschrieben, geht es mir nicht darum, Harrer "schlechtzumachen". Er war so gut oder so schlecht, wie er eben war und spätestens seit er tot ist, kann ihn nicht mehr kratzen, was man über ihn sagt oder schreibt. Bemerkenswert ist es allerdings, dass es Andere kratzt. - was dann zu der erwähnten Verharmlosung und Relativierung führt.
Die illegale österreichische SA, deren Mitgliedschaft sich Harrer zeitweise gerühmt hat, war eine Terrororganisation, von der sich bruchlos eine ideologische Verbindungslinie zum NSU ziehen lässt. Dem vorgeblich harmlos-naiven Sportfunktionär, der sich unmittelbar nach dem 'Anschluss' Österreichs um Aufnahme in NSDAP und SS bewarb, kann unmöglich entgangen sein, was zwischen 1933 und 1938 im Reich vorgegangen ist: bereits im April 1933 Boykott jüdischer Geschäfte (mit SA-Posten vor den Geschäften), jüdischer Ärzte und Rechtsanwälte, Zulassungsverbot für jüdische Ärzte, Entlassung jüdischer Beamter. Im Mai die Bücherverbrennungen, im Juni die Auflösung aller noch verbliebenen oppositionellen Parteien, im September der Ausschluss aller Juden aus kulturellen Berufen. Zwei Jahre später die Nürnberger Rassengesetze, mit Beginn des Schuljahres 1936 'Rassentrennung' an den Schulen. 1937 wurde das KZ Buchenwald in Betrieb genommen und die systematische Deportation der Juden begann. Alles Ereignisse, die nicht nur Herrn Harrer kaum entgangen sein können und die er mit seinem Eintritt explizit und öffentlichkeitswirksam gut hieß. Zumindest dafür übernahm er mit seinem Beitritt auch eine Mitverantwortung - und dass der Holocaust nur die logische Fortsetzung dieser Politik war, muss ihm allerspätestens 1952 aufgegangen sein.
Wir hatten hier kürzlich einen Thread über 'Reue' und seine Rolle im Buddhismus. Ein interessantes Thema für einen Ethikunterricht wäre nun beispielsweise, ob und wie die Begegnung des Nazis Harrer mit dem Buddhismus bei ihm zu einer Reue und geistigen Umkehr geführt hat. Und da spreche ich nicht von einer Reue wegen der Beeinträchtigung seiner Popularität durch die späten Enthüllungen, sondern wegen einer anderen Sicht auf die menschenverachtende Ideologie, zu der er sich bekannt hatte. Dafür gibt es allerdings in den Schriften und sonstigen öffentlichen Äußerungen Harrers nicht das geringste Indiz.
"Interessant" wäre dieses Thema selbstredend nicht wegen Harrer, sondern weil es auf ein generelleres Thema verweist, für das der 'Fall' Harrer lediglich ein mögliches Muster aufzeigt: wie wirkt sich die Begegnung mit dem Buddhadharma eigentlich auf unsere eigenen politischen Einstellungen und Ansichten aus und - wenn dies der Fall ist - welche Konsequenzen in Bezug auf unser Handeln ziehen wir dann daraus? So in Hinsicht Reue und Umkehr? Was bedeutet es für unser persönliches Verhalten, wenn z.B. Funktionäre einer zunehmend populärer werdenden Partei meinen, an den Grenzen solle auf Flüchtlinge geschossen werden oder es sei für Bürger unseres Landes unzumutbar, einen Nachbarn mit dunkler Hautfarbe zu haben? Oder wenn ein bereits einschlägig bekannter Dharmalehrer (ich zögere etwas, dieses Wort in diesem Zusammenhang zu gebrauchen) in einer Massenveranstaltung ein Späßchen über im Mittelmeer ertrinkende Flüchtlinge macht?
Wie verhält man sich da? Ignorant? "Wie wenn man behaupten würde ganz allein auf der Welt zu sein wenn man sich nur fest genug die Ohren zu hält und die Augen schließt"? Anders gefragt - um Deine Metapher aufzugreifen: Wo ist hier eigentlich das Hauptgleis und wo das Nebengleis? Nochmal anders gefragt: was geht uns - Alltibasu und seine Mitschüler eingeschlossen - eigentlich dieser Film an?
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