Beiträge von Karnataka im Thema „Merkmale, Definition...Religion“

    Sunu:


    Hab trotzdem was gelernt...vielen Dank


    Da die eine oder der andere vielleicht nicht so mit europäischer Philosophie per Du ist, möchte ich mal erklären, wie überhaupt der Gedanke von der reinen Rationalität in die Philosophie gelangt ist. Also, aufgepasst!


    Wie die Rationalität in die Philosophie gelangte und die Ethik verdrängte


    Wir schreiben das Jahr 1930 in Wien, wo sich namentlich mit dem Wiener Kreis folgenreiche Bemühungen entwickelten, die Philosophie von ihrem metaphysischen Gewand und sinnlosen Sprachspielen a la Ethik zu befreien. Damit wurde sie zur wissenschaftlichen oder analytischen Philosophie, welche von höchstem Abstraktionsniveau ist. Oder wie Moriz Schlick es ausdrückte: Verdammt, wovon sprechen wir überhaupt??


    Von dieser Frage gequält telegraphierte Schlick 1930 also eine Gruppe von Herren zusammen, den so genannten Wiener Kreis. Diese Geburtsstunde der modernen und rationalen Philosophie soll im Folgenden nachgezeichnet werden.
    Schlick hielt gleich zu Beginn ein Impulsreferat. Dabei postulierte er gebetsartig den Grundsatz seiner neuen Philosophie, nämlich den der Rationalität. Es ginge nicht länger hin, Moralist zu sein, sondern man müsse zum Wissenschaftler werden, Forscher statt Prediger sein. Doch irgendwie kam kein Schwung in die Sache. Die Herren lümmelten und kratzten sich, spielten mit ihren Krawatten oder starrten öde in die Luft. Schließlich meldete sich Otto Neurath: Sag mal Moritz, soll das jetzt heißen, dass wir empirisch forschen sollen? Vielleicht gar zu den Wilden nach Borneo fahren oder sonst wohin? Befreiendes Gelächter. Ein Denker und Philosoph als empirischer Forscher, was für eine Zumutung! Das hatte es noch nie gegeben. Doch Schlick beruhigte seine Freunde: Davon könne überhaupt keine Rede sein. Nein, sondern es ginge der modernen Philosophie lediglich darum, beharrlich die Worte Wissenschaft und Rationalität mit größter Inbrunst in den Raum zu stellen!


    Das wirkte. Nach und nach richteten sich die Zuhörer auf und ein Leuchten gelangte in ihre Augen. Sie begriffen, dass hier ein wissenschaftliches Weltbild im Entstehen war, eine vollkommen neue Philosophie. Schließlich endete Schlick kurz und prägnant: Rationalität, Rationalität, Rationalität!


    Tosender Applaus. Einzelne Herren konnten nicht an sich halten und skandierten begeistert: Scheiß-Ethik! Scheiß-Ethik… Zur Beruhigung der Gemüter brauchte es Cognac und Zigarren und es wurde eifrig geschwatzt. Nur unwillig trennte man sich für die anschließende Arbeit in den Kleingruppen, um nun zielsicher die Frage zu klären, wovon im Weiteren zu sprechen sei. Jedes Grüppchen erhielt viele bunte Filzstifte! Über die Arbeit in den Kleingruppen ist wenig bekannt, doch sah man später ausnehmend bunte Flipcharts.


    Als dann der gesamte Kreis wieder zusammentrat, entstand zunächst eine Diskussion, ob die Rauchpause vielleicht zu kurz gewesen sei. Beinahe alle Herren meldeten sich mit sehr differenzierten Beiträgen zu Wort. Schlussendlich war es Carnaps Vorschlag, die nachmittägliche Kaffeepause sowohl kürzer als auch länger einzuplanen, der zur allgemeinen Zufriedenheit führte. Trotz begrenzter Zeitressourcen vor der Mittagspause gelang es noch, die Resultate der Arbeit der Kleingruppen zu präsentieren. Denn es gab keine. Das war schon irgendwie bedrückend und man einigte sich sofort, sich noch einen Cognac zu leisten. So ausgestattet bewunderte man die ausnehmend bunt gestalteten Flipcharts.


    Pünktlich um 14 Uhr wartete man noch ein wenig, aber es war bloß Wittgenstein, der eintrudelte. Ursprünglich war nun eine Runde geplant, wo sich alle Teilnehmer zu folgenden Fragen äußern sollten: Wie fühlen wir uns gerade? Allerdings, warum auch immer, war nun doch etwas in den Köpfen der Herren gereift. In einer Phase höchster Produktivität entstand sodann an jenem Nachmittag das berühmte Manifest des Wiener Kreises. Am Ende fasste Schlick zusammen: Besser wissend werden wir die anderen Wissenschaften auslegen. Damit ist das Gebiet moderner Philosophie bestimmt.


    Zuvor war nicht unbegründet eingeworfen worden, dass dies doch schon immer das Geschäft der Philosophie gewesen wäre. Daraufhin hatte Schlick den Herren sehr eindrücklich ins Gewissen gesprochen: Wer ist die Wissenschaft? Wir sind die Wissenschaft. Und wer ist die Rationalität?! Wir sind die Rationalität! Eifrig hatten die Herren daraufhin ihre Cognacgläser geschwenkt und gerufen: Wir sind die Wissenschaft, wir sind die Rationalität!!


    Ja, so ist das damals gewesen.

    Stero:
    Karnataka:


    Das Argument von der menschlichen Bedeutung von Fürsorglichkeit lässt sich nicht so einfach vom Tisch wischen, es begründet jede Form konstruktiven sozialen Zusammenlebens und ist tief in unser Hirn eingeschrieben.


    Neulich lief eine Reportage über Massenmörder im TV. Darin kamen auch die sog. "Kindersoldaten" in Afrika zur Sprache, die mit Freude metzelten und mordeten. Interviews inklusive. Die Fachleute, die sich äußerten vertraten genau die deiner Position gegensätzliche Position.
    Aber ich habe mich dran gewöhnt von deinesgleichen mit der "guten Natur des Menschen", garniert mit "in den Genen" oder wie jetzt "in unser Hirn eingeschrieben" bepredigt zu werden. ;)


    Es geht wohl in der Ethik des DL in erster Linie darum, sich selbst zu verbessern. Viele Konfliktpotentiale entstehen aufgrund von Überschuss an jungen Männern, die keine ökonomischen Möglichkeiten besitzen (siehe Gunnar Heihnsohn), Dürre, unfähigen Politikern, Ideologien, uralten ethnischen Konflikten, Großmächten, die den Hass schüren aus strategischen Interessen, extremer Armut usw. Von einer guten oder bösen Natur des Menschen zu reden, hilft da nicht weiter.


    "Fürsorgliche Empfindungen": lassen sich evolutionär, stammesgeschichtlich, aber auch durch die individuelle Entwicklung begründen und erklären. Ein Kind, das keine Fürsorglichkeit und Bindung erfährt, entwickelt häufig im späteren Leben wenig Sicherheit, mit Problemen umzugehen. Das ist wissenschaftlich erwiesen. So bleibt Fürsorglichkeit unser ganzens Leben lang bedeutsam. Sogar beim Sterben, wo es uns eigentlich egal sein könnte, hat sie noch große Bedeutung für uns.

    Stero:
    Karnataka:


    Dagegen meint Ethik prinzipiell, die Welt verbessern zu wollen. Dies erweitert den Blickwinkel, da man nicht nur an sich selbst denkt. Ein weiterer Blickwinkel findet zumeist bessere Lösungen für Probleme.


    Ja, da benennst du das ganze Dilemma von Ethik, das ganz Konfliktpotential von Ethik, die letztlich zur Perpetuierung von Glaubenskriegen führt. Ethik braucht auch immer Predigt, weil der Ethiker immer in das Leben anderer eingreifen will. Die Anderen sind ja "die Welt", die es vermeintlich zu verbessern gilt. Diese Übergriffigkeit von Ethik ist das Hauptproblem. Wer kennt einen Ethiker/Moralisten, der nicht davon redet und von dessen "nobler" Ethik nie jemand etwas gehört oder gelesen hat? ;)


    Karnataka:


    Dies entspricht einfach unserer menschlichen Natur und unserem Bedürfnis nach einem glücklichen Leben.


    Ja, das mit der "Natur" ist immer das ultima "ratio" Argument ;) von Religiösen jedweder Couleur, ob klassisch Religiösen oder humanistisch Religiösen.


    Zur Übergriffigkeit von Predigern: Da magst du nicht ganz falsch liegen und da ist natürlich Authentizität gefragt. Der Ansatz des DL meint eigentlich, sich selbst zu verbessern.



    Das Argument von der menschlichen Bedeutung von Fürsorglichkeit lässt sich nicht so einfach vom Tisch wischen, es begründet jede Form konstruktiven sozialen Zusammenlebens und ist tief in unser Hirn eingeschrieben.

    Stero:


    Was ist die Ursache von Drogenkonsum? Irrationalität und damit auch Moral/Ethik, Emotionalität von Individuen. Trifft diese auf die Irrationalität weiterer Individuen, dann sind Entwicklungen wie von dir beschreiben der Fall. Die Irrationalität einer Gesellschaft beruht auf der Irrationalität der Individuen. Mit Moral hat dies, aus der Perspektive von Rationalität, nur dann zu tun, wenn du "Moral" und "Irrationalität" gleichsetzt wie ich es tue.


    Drogensucht kann mit der frühkindlichen Entwicklung oder mit späteren Verletzungen zu tun haben. Die Lösung lautet nicht, mal kurz "rational" nachzudenken.


    Ich glaube, es gibt kein "Außerhalb" der Moral. Natürlich bedeutet das nicht, dass man die spezifische Moral der Gesellschaft immer und überall teilen muss. Aber eine Bereitschaft, Werte zu entwickeln, sollte schon da sein.


    Auch glaube ich, dass es falsch wäre, die faktische Moral einfach als irrational abzutun. Beispielsweise habe ich darüber nachgedacht, warum so viele landwirtschaftliche Gesellschaften patriarchal strukturiert waren. Ich glaube, es gab rationale Gründe dafür und ebenso gibt es Gründe, weshalb es in industrialisierten, wohlhabenden Gesellschaften mit geringerer Geburtenrate nicht mehr so ist.

    Stero:


    Alles was du aufführst zur Begründung deiner Ethik, kann ich aufführen zur Begründung meiner Rationalität, die Ethik verneint.


    Ganz sicher bestätigt einem die reine Logik nur selbstverständliche Dinge, so wie: Junggesellen sind unverheiratete Männer. Deine Definition von Rationalität meint jedoch, es gäbe ein Denken, das abseits von Gefühlen, Empfindungen und Stimmungen besteht. Wenn man zuhause am Schreibtisch sitzt, dann mag das ab und an zutreffen. Doch selbst da entscheidet man sich oft für Überzeugungen, um sie dann erst nachträglich für sich zu begründen. Ich bezweifle also, dass reine Rationalität genügt, um gute Urteile zu finden, da sich praktisch alles irgendwie begründen lässt. Dagegen meint Ethik prinzipiell, die Welt verbessern zu wollen. Dies erweitert den Blickwinkel, da man nicht nur an sich selbst denkt. Ein weiterer Blickwinkel findet zumeist bessere Lösungen für Probleme.


    Im wirklichen Leben wird es noch komplizierter. Wenn man etwa einkaufen geht, dann kann man nicht immer alles ständig von vorne bis hinten überlegen und abwägen, sondern man greift beispielsweise nach einem umweltschonenden Produkt, ganz einfach weil man für Umweltschutz ist. Man hat also Prinzipien, die mit dem Welt-verbessern-wollen zu tun haben.


    Im wirklichen Leben sind wir zudem mit unseren Emotionen konfrontiert. So kann beispielsweise Zorn den Blickwinkel trüben und man sieht dann nur noch solche Dinge, die einem im Zorn bestätigen usw. Daher spricht Ethik von inneren Werten wie Versöhnlichkeit, Geduld, Mitgefühl, Toleranz, Hilfsbereitschaft usw. die diesen Zuständen entgegenwirken und helfen, den Prinzipien gerecht zu werden.


    Dabei geht es aber nicht nur um „moralische Urteile“. Zumeist gibt es gar nichts zu beurteilen, sondern es geht einfach nur darum, fürsorgliche Beziehungen mit den Mitmenschen zu pflegen. Dies entspricht einfach unserer menschlichen Natur und unserem Bedürfnis nach einem glücklichen Leben. Dabei zeigt sich ein wunderbarer Zusammenhang zwischen dem eigenen und dem gemeinsamen Wohlbefinden. Fürsorglichkeit ist aber ein Gefühl, ein Zusammenwirken von Gedanken und Empfindungen. Sie entsteht nicht aus reiner Rationalität. Sie ist kein "rationaler Vertrag", den man mit anderen, etwa dem Partner, abschließt.

    Stero:


    Diese Aussagen hatte ich bereits hier ( http://www.buddhaland.de/viewt…t=15777&start=150#p327435 ) zum ersten Mal aufgegriffen. Einen wesentlichen Aspekt möchte ich nun noch nachtragen: Der dort genannte Wille zur Rationalität ist sekundäre Motivation, eine Motivation, die daraus entsteht, dass erfahren oder erkannnt wird, dass anders als durch Rationalität das gesteckte Ziel, welches auf der primären Motivation beruht, entweder gar nicht oder nur sehr ineffizient erlangt wird.
    Deswegen ist Rationalität auch jeglicher Ethik oder Moral überlegen: Sie hat ausschließlich das Ziel vor Augen, aber nicht, dass die Methode der Zielerreichung eine moralische "gut" oder "schlecht" Norm erfüllt.
    Die Kritik, die Moralisten/Ethiker nun daran äußern mögen, kann sein, dass die effizienteste Zielerreichung vielleicht mit den moralisch verwerflichsten Methoden möglich sei.
    Das kann nicht ausgeschlossen werden und ist sicher im Kontext von Rationalität, die keine moralischen Urteile fällt, irrelevant. Was aber berücksichtigt werden sollte, ist, dass die Zielsetzung die primäre Motivation ist und die Zielsetzung als Ursache die effizienteste Methode zur Erreichung des Zieles als Wirkung bestimmt. Alleine die Negation von Moral und Ethik lässt auch aus der Perspektive von Moralisten/Ethikern keinen Schluss auf die Qualität der Methode nach ihren eigenen moralischen Maßstäben zu.


    Wenn das Ziel beispielsweise wäre, Drogen zu bekämpfen, dann wäre es vermutlich eine effektive Methode, die Lynchjustiz und den Mord an Dealern zu legalisieren und anzuregen, wie das auf den Philippinen derzeit angeblich geschieht. Dabei wird aber unter anderem übersehen, dass ein solches Vorgehen die Menschen vielleicht dazu ermutigt, in Zukunft Konflikte verstärkt selbst und mit Gewalt zu lösen, statt auf den Staat zu vertrauen. Es entstehen also Auswirkungen und Folgen auf die „Moral“ einer Gesellschaft.


    Diese gesellschaftliche Moral ist ein sensibles Gleichgewicht manchmal widerstreitender Ansichten, das sich verändert und entwickelt. Ich glaube, dass offene, wohlhabende Gesellschaften manche Dinge nicht mehr so rigide regeln und vorschreiben (welchen Haarschnitt man tragen soll usw.), sondern eher Eigenverantwortung zulassen. Aber auch Eigenverantwortung ist etwas, das mit Ethik zu tun hat.

    Stero:
    Karnataka:

    Reine Rationalität motiviert zu gar nichts, würde ich mal sagen....


    Diese Aussagen hatte ich bereits hier ( http://www.buddhaland.de/viewt…t=15777&start=150#p327435 ) zum ersten Mal aufgegriffen. Einen wesentlichen Aspekt möchte ich nun noch nachtragen: Der dort genannte Wille zur Rationalität ist sekundäre Motivation, eine Motivation, die daraus entsteht, dass erfahren oder erkannnt wird, dass anders als durch Rationalität das gesteckte Ziel, welches auf der primären Motivation beruht, entweder gar nicht oder nur sehr ineffizient erlangt wird.
    Deswegen ist Rationalität auch jeglicher Ethik oder Moral überlegen: Sie hat ausschließlich das Ziel vor Augen, aber nicht, dass die Methode der Zielerreichung eine moralische "gut" oder "schlecht" Norm erfüllt.
    Die Kritik, die Moralisten/Ethiker nun daran äußern mögen, kann sein, dass die effizienteste Zielerreichung vielleicht mit den moralisch verwerflichsten Methoden möglich sei.
    Das kann nicht ausgeschlossen werden und ist sicher im Kontext von Rationalität, die keine moralischen Urteile fällt, irrelevant. Was aber berücksichtigt werden sollte, ist, dass die Zielsetzung die primäre Motivation ist und die Zielsetzung als Ursache die effizienteste Methode zur Erreichung des Zieles als Wirkung bestimmt. Alleine die Negation von Moral und Ethik lässt auch aus der Perspektive von Moralisten/Ethikern keinen Schluss auf die Qualität der Methode nach ihren eigenen moralischen Maßstäben zu.


    Gegen Vernunft und begründendes Denken ist nichts zu sagen. Aber mal ganz praktisch gedacht (das gilt besonders auch für Luhmanns Kritik an der Moral...): Egal, wie toll und perfekt die Regeln und Gesetze für die Gesellschaft sind, muss es immer Menschen geben, die dafür und für die Umsetzung zuständig sind, Politiker, Richter, Polizisten, Unternehmer usw. Wenn diese Menschen aber keine Integrität besitzen, wenn sie sich durch Geldumschläge bestechen lassen, Posten an ihre Freunde vergeben, notwendige Reformen aufgrund von Eigeninteresse blockieren usw. dann wird dieses Verhalten bald nicht nur im Staat zu finden sein, sondern es wird sich auf die ganze Gesellschaft übertragen und der Wirtschaft und dem gegenseitigen Vertrauen schweren Schaden zufügen. Darum ist Ethik nicht nur für das persönlich und gemeinschaftlich gute Leben, sondern auch für das Funktionieren einer Gesellschaft erforderlich.

    Sunu:
    Karnataka:

    Reine Rationalität motiviert zu gar nichts, würde ich mal sagen. Einen „guten Willen“ braucht es schon. Niklas Luhmann bestreitet dies übrigens, indem er meint, selbstsüchtige Absichten würden in der Wirtschaft zu guten Folgen führen.


    Das würde mich sehr wundern wenn Luhmann das gesagt hätte. Er lieferte nur Methoden die der Beschreibung von Systemen dienten und zwar urteilslos. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da ein gut/schlecht hineingepasst hätte....oder gar ein " selbstsüchtig". Vlt. wurde da der Autopoiesis Begriff irgendwie von irgendwem als " Selbstsucht" interpretiert...
    Gibt es dazu Zitate ?


    https://www.youtube.com/watch?v=qRSCKSPMuDc Luhmann sagt das kurz nach Minute 23. Luhmanns Behauptung lautet, die Ethik würde übersehen, dass selbstsüchtige Absichten in der Wirtschaft zu guten Folgen führen (können). Da aber genau diese These durch den Moralphilosophen und Ökonomen Adam Smith berühmt gemacht wurde, scheint mir Luhmanns Behauptung nicht stichhaltig.


    Übrigens hat sich auch der DL mit Adam Smith auseinandergesetzt. Er schreibt in Führen, gestalten, bewegen über ihn:
    (…) Obwohl er großes Interesse an moralischen Fragen hatte und auf diesem Gebiet zu zahlreichen Erkenntnissen gelangte, war Smith der Ansicht, dass Wettbewerb und staatliche Regulierung allein Wohlstand für alle bringen müssten. Er vergaß, darauf zu bestehen, dass dazu auch Rechtes Handeln erforderlich ist. Wettbewerb und Regulierung allein schaffen noch keinen angemessenen Lebensstandard für alle.
    Der DL möchte der freien Marktwirtschaft gerade keine Selbstsucht, sondern die Dimension der Verantwortung hinzufügen!

    Stero:


    Ich unterscheide nicht zwischen Moral und Ethik, weil die Worte von Moralisten/Ethikern austauschbar verwendet werden und zudem sowieso eine semantische Schnittmenge aufweisen. Insofern würde ich auch nicht sagen, "dass Ethik vor Moral warnen müsste". Ich würde aber sagen, dass Rationalität vor Moral und Ethik schützt.


    Es gibt keine allgemeingültige Definition dessen, was Moral und Ethik sein sollen. Zumeist zeigen die Erklärungen von Ethikern bloß, woher der weltanschauliche Wind bläst. Gibt es im englischen Sprachgebrauch überhaupt eine Unterscheidung? Werden Übersetzungen dieser Unterscheidung gerecht?


    Sinnvoll scheint mir, mit „Moral“ das zu bezeichnen, was empirisch feststellbar ist, z.B.: In Russland wird Homosexualität überwiegend tabuisiert.


    Ethik meint demgegenüber das Nachdenken über solche Phänomene. Dass Ethik hierin aber eine Wissenschaft sein kann, halte ich für Quatsch.


    In Form von „Tugendethik“ meint Ethik zudem das persönlich und gemeinschaftlich gute Leben. Hier lässt sich die säkulare Ethik des Dalai Lama einordnen, die allerdings auch utilitaristische und religiöse Züge trägt.

    Schließlich gibt es noch den gewöhnlichen Sprachgebrauch, wo das Wort „Moral“ häufig mit überholten Vorstellungen zur Sexualität assoziiert wird, wohingegen Ethik cooler klingt.


    Reine Rationalität motiviert zu gar nichts, würde ich mal sagen. Einen „guten Willen“ braucht es schon. Niklas Luhmann bestreitet dies übrigens, indem er meint, selbstsüchtige Absichten würden in der Wirtschaft zu guten Folgen führen.

    Sunu:
    Karnataka:


    Besonders Darwins Gedanken zum moralischen Empfinden gehören für mich zum Tiefsinnigsten, was je dazu gedacht wurde. Kurz habe ich ihn mal gelesen und war von seiner Sprache sehr beeindruckt.


    Übrigens...
    Darwin spricht dabei ja von einer angeborenen Moral. Ich denke im Gegensatz dazu bezieht sich Niklas Luhmann auf eine ideologische Moral. Wie du weiter oben beschrieben hast, geht es dort um das " Moralisieren" ,d.h. um eine Umkonditionierung von eigentlich angeborenen moralischen Verhalten, welches nicht erlernt werden muss.


    Darwin schreibt zur Entwicklung des moralischen Empfindens:

    „Wenn der Mensch in der Kultur fortschreitet und kleinere Stämme zu größeren Gemeinschaften vereinigt werden, so wird das einfachste Nachdenken jedem Individuum sagen, dass es seine sozialen Instinkte und Sympathien auf alle Glieder der Nation auszudehnen hat, selbst wenn sie ihm persönlich unbekannt sind. Ist dieser Punkt einmal erreicht, so besteht dann nur noch eine künstliche Grenze, welche ihn abhält, seine Sympathie auf alle Menschen aller Nationen und Rassen auszudehnen. In der Tat, wenn gewisse Menschen durch große Verschiedenheiten im Äußeren oder in der Lebensweise von ihm getrennt sind, so dauert es, wie uns unglücklicherweise die Erfahrung lehrt, lange, ehe er sie als seine Mitgeschöpfe betrachtet. Sympathie über die Grenzen der Menschheit hinaus, d.h. Humanität gegen die niederen Tiere scheint eine der spätesten moralischen Erwerbungen zu sein…
    Diese Tugend, eine der edelsten, welche dem Menschen eigen ist, scheint als natürliche Folge des Umstands zu entstehen, dass unsere Sympathien immer zarter und weiter ausgedehnt werden, bis sie endlich auf alle fühlenden Wesen sich erstrecken.“


    Nach Jahren des Nachdenkens, was überhaupt das Gebiet der Ethik sein soll, fand ich all dies bei Darwin in einem einzigen Satz ausgedrückt. Er schrieb: Schließlich entsteht unser moralisches Gefühl, oder unser Gewissen; ein äußerst kompliziertes Empfinden, entsprungen den sozialen Instinkten, geleitet von der Anerkennung unserer Mitmenschen, geregelt von Verstand, Eigennutz und, in späteren Zeiten, von tiefen religiösen Gefühlen, und befestigt durch Erziehung und Gewohnheit.


    Darwin hat sogar den Eigennutz in seine Definition eingebunden! Zugleich zeigt dies, wie komplex die Sache ist. Das „Angeborene“ der Moral nenne ich „Fürsorglichkeit“. Gemeint ist ein Empfinden, das beispielsweise eine Mutter motiviert, für ihr Kind zu sorgen.


    Du schreibst von "Umkonditionierung": ich glaube auch, dass etwa die spezifische "Moral der Mafia" eine solche zur Voraussetzung haben muss.


    Luhmann hat den gesellschaftlichen Aspekt der „Anerkennung unserer Mitmenschen“ hervorgehoben. Seine Kritik formulierte er anhand der Auseinandersetzung um die Atomkraft (Wackersdorf). Sie findet sich hier, kurz nach Minute 13 bis Minute 17: https://www.youtube.com/watch?v=qRSCKSPMuDc

    Sunu:

    Die Frage wie diese Aussagen Sarazins verstanden werden, kann sich jeder nur selber beantworten. Es ist allerdings so, dass es in Kombination mit " Survival of the Fittest" und dem Gedanken der "unabänderlichkeit der Gene" in eine gefährliche Richtung gehen wird.....dabei weiß man heute, dass wir alle nur einen Teil unseres Genpools nutzen. Genetische Sequenzen können dabei je nach umwelbedingung aktiviert oder deaktiviert werden (siehe Epigenetik)... Wer sich in der Geschäftswelt als intelligent herausstellt, kann sich im Urwald ziemlich unzulänglich anstellen und umgekehrt. Aber das ist eben kein unabänderlicher Zustand oder ein Zustand der nur durch Mutation der Nachkommenschaft potenziell verändert werden könnte... http://www.spektrum.de/thema/epigenetik/1191602


    Ein ausführlicher und interesanter Artikel ob eine neue Evolutionstheorie benötigt wird oder nicht gibt es hier: http://www.spektrum.de/news/br…evolutionstheorie/1320620


    Ich bin der Meinung wir bräuchten eine Neue, auch wenn sich Darwins Evolutionstheorie immer weiter entwickelt hat und entsprechend überarbeitet wurde. Das Problem ist, dass das Grundgerüst in den Schule gelehrt wird und weniger die relativierenden neuen Erkentnisse der Biologie. Relativierendes wird dann eher dem Sozialunterricht oder sogar dem Religionsunterricht überlassen und bekommt dadurch einen mehr oder weniger unwissenschaftlichen Beigeschmack. Das spricht ja Sarazin mehr oder weniger auch an...mit seiner Behauptung, dass ab Anfang der 70er (Hippiezeit) allgemein der Konsens herrschte die Darwinsche Entwicklungslehre hätte keine gültige Relevanz für den Menschen ( viele werden dann gedanklich hinzufügen: obwohl es wissenschaftlich erwiesen ist, will man es halt nicht haben, nur wg. unserer Nazivergangenheit ect. ect. :roll: ).


    Danke für den interessanten Artikel, der zeigt, dass alles eigentlich viel komplizierter ist… Wenn mein Hirn ausgeschlafen ist, werde ich nochmal darüber nachdenken… Am Schluss musste ich lachen, wenn es heißt:
    Darwin hatte bereits mehr als 40 Jahre lang Daten gesammelt, bevor er die Behauptung aufstellte, Regenwürmer hätten "in der Geschichte der Welt eine weitaus größere Rolle gespielt als gemeinhin angenommen". Und selbst dann veröffentlichte er dies nur aus der Befürchtung heraus, bald "zu ihnen zu gehören".


    Besonders Darwins Gedanken zum moralischen Empfinden gehören für mich zum Tiefsinnigsten, was je dazu gedacht wurde. Kurz habe ich ihn mal gelesen und war von seiner Sprache sehr beeindruckt.

    Stero:
    fotost:

    Ihre Feinde sind sich in ihrem Weltbild einig.


    Im Kontext von Ideologien entwickelt sich Dissenz zwar häufig zu Feindschaft, generell kann man aber nicht von Feindschaft sprechen.
    Ideologien benötigen aber aufgrund der ihnen eigenen selbsterhaltenden Dynamik Lagerbildung und damit auch Feindbilder und da kommen dann natürlich alle Personen recht, die bestimmte Ausdrücke verwenden, die bei Lesern und Hörern eine ideologische Signalwirkung haben.
    Nimmt man z.B. die beiden extremen Lager der "bloß genetischen Bedingtheit" auf der einen Seite und der "bloß sozialen Bedingtheit" auf der anderen Seite, so ist es zur Auslösung feindseliger Angriffe eines Lagers vollkommen ausreichend ausschließlich eine der beiden Sichtweisen explizit zu erörtern, obgleich man vielleicht der anderen ebenso einen Stellenwert einräumt, dies aber nicht explizit machen will, eben weil man z.B. wahrnimmt, dass das Gleichgewicht ("der mittlere Weg") in der öffentlichen Diskussion sich etwas verschoben hat, und man glaubt mit der ausschließlichen Behandlung einer Seite diese wieder "ins richtige Lot" bringen zu können. Die explizite Affirmation einer Seite bei vollkommenem Fehlen der expliziten Negation der anderen Seite ist vollkommen ausreichend um diese reflexhaften ideologischen Angriffe auszulösen. Ideologien tolerieren kein differenziertes "sowohl (und zwar unter diesen und jenen Einschränkungen) als auch (und zwar unter diesen und jenen Einschränkungen)", sondern nur ihre eigene extremistische Position.
    Ganz aussichtslos ist eine Diskussion auch, wenn eine der beiden Seiten sich auf eine moralische Gesinnung stützt. Moral ist das Gift, dass in Deutschland derzeit jede politische Diskussion verunmöglicht.
    In Berlin haben Sarrazin-Gegner eine Lesung von ihm "abgeschossen", indem sie ihn mit Sprechchören zusammengeschrien haben. Die Veranstaltung musste abgebrochen werden, bevor sie richtig begonnen hatte. Die Schreihälse wähnten sich sicher alle im Recht und auf der moralisch richtigen Seite. Politisch war es eine Bankrotterklärung dieser Leute.


    Niklas Luhmann kommt in seiner Kritik der Moral zum Schluss, dass Ethik vor Moral warnen müsste. Denn Moralisieren wäre empirisch nichts anderes als das Verteilen von Achtung/Missachtung und hätte daher immer eine Nähe zum Streit, zur Lagerbildung. Besonders Fragen, die mit zukünftigen Risiken zu tun hätten, müssten abseits von Moral geklärt werden, forderte er. Moralisieren hätte höchstens eine Alarmfunktion, dass etwas Grundsätzliches nicht passt, zumeist würde es den vernünftigen Diskurs aber behindern.


    Ich teile Luhmanns Warnung nur sehr bedingt. Aus Luhmanns absolut wertfreier Perspektive wäre beispielsweise der Islamismus so eine "moralische" Ideologie, die keine vernünftige Auseinandersetzung zulässt. Gerade aufgrund dieser Problematik gesellschaftlicher Moralisierens finde ich jedoch, dass Ethik zentral der Stärkung der gegenseitigen Achtung dienen sollte, wie dies im berühmten Satz der Nächstenliebe eben zum Ausdruck kommt.

    Das Niederschreien erinnert an die Peter-Singer-Debatte vor 30 Jahren. Die Demonstranten wollten keinen rein rationalen Diskurs über Sterbehilfe für schwerstbehinderte Neugeborene, da sie dies als „Dammbruch“ empfanden.


    Im zuerst zitierten Satz geht es aber nicht nur um Intelligenz, sondern um „alle anderen psychischen Eigenschaften“, die laut Sarrazin überwiegend erblich seien und durch Selektion geformt würden. Diese Behauptung scheint mir wissenschaftlich unseriös, da zwar die Disposition zu bestimmten Affekten wie Wut, Schrecken usw. angelegt ist, der Begriff „psychische Eigenschaften“ jedoch alles Mögliche bedeuten kann. Insbesondere meine ich, eine Behauptung beispielsweise, dass auch die „psychische Eigenschaft“ Ehrlichkeit oder Hilfsbereitschaft genetisch angelegt wäre, wäre schlichtweg Quatsch, da solche Eigenschaften erst in einem komplexen Zusammenspiel entstehen, für das vermutlich besonders frühkindliche Erfahrungen verantwortlich zeichnen. Diese unsaubere Ausdrucksweise ist aber nicht zufällig gewählt, sondern ich verstehe sie im Kontext zu Sarrazins späterer Behauptung vom „sittlichen Empfinden“.


    Ich habe zuvor zwei Sätze als irrelevant bezeichnet und übersprungen. Sie lauten: Selbst der klassische Gegensatz von Leib und Seele kann heute als aufgelöst gelten. Das, was wir als menschliches Bewusstsein empfinden, ist quasi der Spiegel des Körpers im Hirn und existiert in ähnlicher Form auch bei anderen höheren Lebewesen.
    Warum fügt Sarrazin diese Sätze ein? Aus meiner Sicht sind dies typische Sätze, mit denen Neurologen so tun, als hätten sie das große Geheimnis um Körper und Geist gelüftet. Was haben solche Behauptungen aber in diesem Kontext „psychischer Eigenschaften“ zu suchen? Ich denke, Sarrazin möchte damit sehr fein ausdrücken, dass das unterschiedliche Aussehen von Populationen auf ebenso unterschiedliche psychische Eigenschaften schließen ließe. Immerhin folgt nun seine Bemerkung zum „sittlichen Empfinden“.


    Diese Verknüpfungen ergeben sich nicht „notwendigerweise“, da hast du wohl Recht. Sie sind jedoch alles andere als eine bloße Unterstellung. Es folgen reihenweise Aussagen, die sich eben alle in vergleichbarer Hinsicht auslegen lassen. Auf Wikipedia findet sich unter Sarrazins Namen die Auseinandersetzung mit diversen Aussagen sehr detailliert und chronologisch.

    Stero:
    Karnataka:

    ....


    Im Unterschied zum Humanismus ist der Sozialdarwinismus der Auffassung, dass eine Vermischung der Populationen Schaden bringt. Diese Ansicht ist längst nicht mehr tabu. Autoren wie Thilo Sarrazin, dessen Bücher wie warme Semmeln weggehen, vertreten sie vehement. Hier zeigt sich die ideologische Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse.


    Sarrazin vertritt nicht diese Ansicht. Er vertritt aber die Ansicht, dass Zuwanderer aus bestimmten Regionen der Welt ein geringes Bildungsniveau ausweisen und sich dies negativ auf das Land auswirkt, in das sie zuwandern. Das ist nun nicht sehr spekulativ. Manche der Verknüpfungen, die er herstellt zwischen Bildung, Intelligenz und Vererbung sind jedoch zum Teil spekulativer Natur.
    Er selbst sagte

    Zitat

    ... Er sei definitiv nicht der Ansicht, „dass es eine genetische Identität gibt“,


    Menschliche Identität bildet sich vermutlich aus dem Zusammenspiel von Umwelteinflüssen, vererbten Veranlagungen und freier Entfaltung. Sarrazin argumentiert, dass der Einfluss der Geschichte, selbst derjenigen der letzten Jahrhunderte, bereits genetischen Ausdruck finden würde. Er gewichtet den Einfluss der Genetik als überaus entscheidend.


    Meine Einschätzung zu Thilo Sarrazin stützt sich auf seinen derzeitigen Bestseller „Wunschdenken“. Dazu ein kurzes Zitat aus dem Unterkapitel: Zur Entwicklung des Menschen.

    Wir wissen heute, dass nicht nur die menschliche Intelligenz, sondern auch alle anderen psychischen Eigenschaften überwiegend erblich sind und fortlaufend durch die natürliche Selektion weiter geformt werden. (Es folgen zwei irrelevante Sätze, dann:) Auch sittliches Empfinden kann dem Grad der Funktionsfähigkeit bestimmter Hirnareale zugeordnet werden. In die Politik scheint diese Erkenntnis bis heute nicht vorgedrungen zu sein. Nachdem man die Ideologie des Sozialdarwinismus verworfen und eugenische Überlegungen aus dem Raum der Politik und der Politikberatung gänzlich verbannt hatte, schien Anfang der siebziger Jahre bei dem Thema der natürlichen Evolution allgemein der Konsens zu herrschen, dass die Darwin'sche Entwicklungslehre zwar grundsätzlich gültig sei, für den Menschen aber keine praktische Relevanz habe...


    Liest man die Passage im größeren Kontext, so steht also auch „sittliches Empfinden“ in Verbindung mit der typischen Veranlagung von Populationen. Begründet wird dies allerdings allein mit einer Fußnote. Dort wird auf einen bekannten Fall aus dem Jahr 1848 verwiesen, wo ein Mann namens Phineas Gage ein Frontalhirnsyndrom erlitt und daraufhin plötzlich ein verblüffend unsoziales Verhalten zeigte. Heute weiß die Medizin um eine Vielzahl von kognitiven Defiziten, die aus einer solchen Verletzung folgen.


    Dies gibt aus meiner Sicht ein gutes Beispiel für die ideologische Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse. Es zeigt zudem, wie Sarrazins Schriften sich „geschickt“ in einem rechtlichen Graubereich bewegen. Wird nämlich Populationen die Fähigkeit zur Moral in nur geringem Maße zugesprochen, dann werden solche Menschen pauschal dämonisiert, als dauerhaft und unabänderlich minderwertig betrachtet. Das ist dann als Rassismus und Verhetzung zu bezeichnen.

    Zu "Darwinismus" und "Vorbild Tibet":


    Dass in der Schule kein Sozialdarwinismus gelehrt wird, hat einmal den Grund, dass die rassistischen Annahmen des Nationalsozialismus falsch waren und unfassbar grauenhafte Folgen hatten. Damit war in Folge der Begriff der „Rasse“ überhaupt vom Tisch.


    Natürlich haben sich die Populationen des Homo Sapiens nicht aufgrund des Evolutionsmechanismus über die Erde verteilt, sondern weil sie Kleidung, Feuer usw. benutzten. Da aber im Durchschnitt jede Generation einige hundert Meter weiter zog, trennten sich die Populationen bald und entwickelten unterschiedliche genetische Veranlagungen, wie an der Pigmentierung der Haut leicht zu erkennen ist.


    Im Unterschied zum Humanismus ist der Sozialdarwinismus der Auffassung, dass eine Vermischung der Populationen Schaden bringt. Diese Ansicht ist längst nicht mehr tabu. Autoren wie Thilo Sarrazin, dessen Bücher wie warme Semmeln weggehen, vertreten sie vehement. Hier zeigt sich die ideologische Interpretation wissenschaftlicher Erkenntnisse.


    Der Fehler solcher Ansichten ist aus meiner Sicht, dass das „soziale Kapital“ einer Gesellschaft, welches durch die Vermischung angeblich Schaden nimmt, in seiner moralischen Dimension nicht verstanden wird. Denn gerade Vertrauen und Hilfsbereitschaft sind es, die auch für die wirtschaftliche Kraft einer Gesellschaft verantwortlich sind. Hier kommt die moderne Interpretation der christlichen Religion ins Spiel, die universelle Nächstenliebe im Zentrum hat und die gegenseitige Achtung stärkt. Dagegen kann der Sozialdarwinismus zur Ansicht einer grundsätzlichen Minderwertigkeit anderer Populationen führen. Besonders wenn viele junge Männer keine ökonomischen Möglichkeiten besitzen, führt der Sozialdarwinismus leicht zu infektiösem Hass. Daher ist es der Sozialdarwinismus, der einer Gesellschaft enormen Schaden zufügen kann, würde ich meinen.


    Tibet, sofern seine Vergangenheit überhaupt als Vorbild dienen kann, zeigt jedoch ebenso, wie ein Volk „demographisch“ überrannt und dessen Kultur zerstört wurde. (Nach meiner Ansicht war es richtig, das Bevölkerungswachstum Chinas totalitär zu bremsen. Der Dalai Lama spricht sich dagegen ausschließlich für freiwillige Familienplanung aus.)