Beiträge von Sudhana im Thema „Loslassen im Alltag“

    Stero:

    Das "anhaften" steht für "für-wahr-Halten" oder "als inhärent existent wahrnehmen".


    Logisch betrachtet ist der zitierte Satz eine Aussage mit drei Operanden: "anhaften", "für-wahr-Halten" und "als inhärent existent wahrnehmen". Völlig nebulös ist allerdings, was die Junktoren in diesem Satz besagen sollen. Welche Beziehung zwischen "anhaften" einerseits und "für-wahr-Halten" oder "als inhärent existent wahrnehmen" andererseits soll "steht für" ausdrücken? Eine Subjunktion, eine Bisubjunktion oder eine Konjunktion? Wobei da zunächst zu klären wäre, für was wiederum das "oder" stehen soll. Anders gefragt: "steht" "anhaften" für entweder "für-wahr-Halten" oder für "als inhärent existent wahrnehmen" - oder soll das "oder" in "für-wahr-Halten" oder "als inhärent existent wahrnehmen" eine Tautologie ausdrücken? "Steht" "anhaften" also nach Deiner Auffassung für (mindestens zwei) verschiedene Sachverhalte - i.e. "für-wahr-Halten" und "als inhärent existent wahrnehmen" oder ist "für-wahr-Halten" und "als inhärent existent wahrnehmen" nach Deiner Auffassung identisch bzw. das Eine notwendig durch das Andere bedingt? Wenn ja - was inkludiert was? Das "als inhärent existent wahrnehmen" das "für-wahr-Halten" (was immerhin etwas mehr Sinn ergibt als umgekehrt)? Wobei natürlich interessant wäre zu wissen, ob das "für-wahr-Halten" hier ein 'falsch' implizieren soll - also irrtümliches "für-wahr-Halten" gemeint ist - oder lediglich eine spekulative Aussage ohne hinreichenden Grund. Dass hier psychologische, epistomologische und ontologische Kategorien bunt durcheinandergewürfelt werden, trägt zur Klarheit der Aussage auch nicht gerade bei.


    Weiterhin wären noch zumindest zwei Fragen semantischer Natur zu klären. Zunächst: wie ist "wahr" in diesem Kontext zu verstehen? Einen (unvollständigen) Überblick über mögliche Definitionen des Begriffs "wahr" findet man beispielsweise hier: https://de.wikipedia.org/wiki/…ematischer_.C3.9Cberblick . Grundsätzlich ist es natürlich zumindest problematisch, Gefühlen wie Gier und Hass (denn um das Anhaften an diesen Gefühlen ging es ja) einen Aussagewert "wahr" bzw. "falsch" zuzuweisen. Gefühle sind nun einmal Gefühle und keine Aussagen. Das Thema "falsche" und "wahre" Gefühle sollte man besser den Autoren und Konsumenten schnulziger Liebesromane überlassen. Die zweite Frage wäre, was genau unter "inhärent existent" verstanden werden soll und was dieses "inhärent existent" von einem bloßen "existent" unterscheidet - welche Beziehung also zwischen "inhärent existent" und "existent" vorgestellt ist. Anders ausgedrückt: welcher Inhärenzbegriff wird hier verwendet? Ein westlicher, z.B. der Kants? Oder doch das samavāya der Prasangika-Madhyamika (das wiederum von der Vaiśeṣika-Philosophie übernommen wurde)? Da man bei Vielen hier eine Vertrautheit mit dem Begriff 'Inhärenz' bzw. seiner Begriffsgeschichte nicht voraussetzen kann, wäre eine Begriffsklärung hilfreich - sofern tatsächlich eine Intention, verstanden zu werden vorliegt, die wiederum voraussetzt, dass es da wirklich etwas zu verstehen gibt (an beidem hege ich nicht nur gelinde Zweifel). Und eine Intention, zu verstehen, was Du da schreibst. Nicht, dass ich Letzteres für sinnvoll hielte - der absehbare Ertrag scheint mir der Mühe nicht wert.


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    Sherab Yönten:

    Nicht mehr anzuhaften an negative Emotionen wie Gier, Hass u.s.w. gehört zu den wichtigsten praktischen Übungen im Buddhismus. Bei manchen scheinen diese Übungen ein Kampf gegen innere Hindernisse zu sein, für mich ist es eher ein Unterschied beim Grad des Bewusstseins. Bin ich mir dessen bewusst, dass ich mich ärgere, kann ich relativ auch schnell loslassen und mich heilsamen Dingen widmen. Beim Loslassen von Gewohnheitsmustern wird es da schon schwieriger, denn diese Gewohnheitsmuster sind eher unbewusst und lassen sich nicht so leicht identifizieren.
    Wie praktiziert ihr dieses Loslassen im Alltag jenseits der Meditation ?


    Es geht nicht nur darum, Emotionen vom Typus Gier und Hass loszulassen, sondern letzlich darum, sie nicht (mehr) entstehen zu lassen. Sie beruhen auf einer ich-zentrierten Wahrnehmung und dem reflexhaften Bestreben, die scheinbaren Objekte dieser Wahrnehmung in den Bezugsrahmen 'Ich' zu integrieren (Gier) oder sie zu desintegrieren (Hass). Sinn buddhistischer Meditation und Praxis (anders, traditioneller, ausgedrückt: des edlen achtfachen Pfades) ist es, dieses reflexhafte Verhalten zu verlernen - es ist gewissermaßen ein Entwöhnungsprogramm.


    Zum Begriff 'Praxis' möchte ich auf die vor einer Weile von mir hier zitierte Definition Aryadevas / Kanadevas verweisen. 'Praxis' des Buddhadharma ist gerade eben nicht die sog. 'Meditation', sondern im Gegenteil alles Andere. Sie ist der "Alltag jenseits der Meditation" - denn tatsächlich wird beides zunächst als Getrenntes, Verschiedenes erfahren. 'Meditation' ist 'Anhalten', das Aufgeben des Interagierens aus einer Ich-Zentrierung heraus. Dieses 'Anhalten' des ich-zentrierten Interagierens hat den Effekt, dass man dessen Antriebe wahrnimmt: Es sind eben die Impulse 'Gier' und 'Hass', die unter den Bedingungen der 'Meditation' durch Übung in zunehmend subtileren Entwicklungsstadien erfahren und losgelassen werden können - wobei dieses 'Loslassen' mehr ist, als den Impulsen (die Meditation für den Anfänger zu einer schwierigen, sogar oft als unangenehm erfahrenen Angelegenheit machen) nicht zu folgen. Das Loslassen der Impulse, sie - bildlich gesprochen - wirkungslos 'verpuffen' zu lassen, ist gleichzeitig nichts Anderes als das Aufgeben der Ich-Zentrierung, die Bedingung ihrer Entstehung ist. Das Loslassen der "Gewohnheitsmuster" und der Ich-Zentrierung sowie der daraus resultierenden grundlegenden Willensimpulse, die durch Integration und Desintegration dieses Ich formen und verfestigen - sehr tiefe und grundlegende Konditionierungen - ist therapeutisch; es ist ein Entwöhnungprozess.


    'Praxis' wiederum ist in diesem Sinne 'entwöhntes' Interagieren. Das heisst, eine andere Qualität, in der der kleine Ausschnitt aus dem allumfassenden Funktionszusammenhang, den wir gewöhnlich als 'Ich' begreifen, mit anderen Funktionszusammenhängen wechselwirkt. Auch diese ' entwöhnte Praxis' braucht einen 'Motor' , eine treibende Energie. Die Energien, die die Grenzen des Ich aufrechterhalten und befestigen, werden durch Energien substituiert, die diese Grenzen auflösen - die brahmavihara. Wobei sowohl Ich-Konstruktion als auch Ich-Dekonstruktion in verstärkender Wechselwirkung mit den ihnen zugehörigen Energien stehen. Insofern ist diese 'Praxis' nicht einfach Ergebnis und Anwendung der 'Meditation', sondern selbst therapeutisch wirksam und daher auch in einer verstärkenden Wechselbeziehung mit der 'Meditation'. Fortschreitende Übung (notwendig in beidem, versteht sich) verstärkt die Wechselbeziehung, bis 'Meditation' und 'Praxis' unterschiedslos ineinander aufgehen.


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