Sherab Yönten:
Was versteht man im Zen Buddhismus unter Leerheit/Leere ?
Nun - ich weiss nicht, was man in Deiner (tibetischen?) Tradition unter "Leerheit/Leere" versteht und ob das tatsächlich dasselbe ist wie im Zen. Ich weiss nicht einmal, ob man überall im Zen dasselbe unter "Leerheit/Leere" versteht - nicht einmal, ob mein Sitznachbar dasselbe Verständnis hat wie ich. Das liegt wohl hauptsächlich daran, dass das wirkliche Verständnis von Leerheit/Leere - und damit meine ich eben kein intellektuelles, sondern eines mit ungeteiltem Körper-und-Geist - sich sprachlichem Ausdruck auf konventioneller Ebene entzieht. Was bei dem Schwerpunkt, den Zen bei der Lehrübermittlung auf die unmittelbare, existentielle Erfahrung von Śūnyatā / Kū legt, sich darin zeigt, dass geringeres Gewicht auf die klassische buddhistische Literatur gelegt wird (was nicht heisst, dass man sie nicht kennt) als auf das lebendige, persönliche Vermitteln - das 'Zeigen' durch jemanden, der dem Schüler die existentielle Erfahrung, von der ich oben schrieb, voraus hat. Dieser Zweifel am Wert oder doch zumindest Nutzen des Sagbaren drückt sich auch in der unkonventionellen Sprache der Kōan aus - und in der Wertschätzung des Herzsutra, das in seiner aphoristischen Kürze die gesamte Prajñāpāramitā-Literatur in ein paar Zeilen zusammenfasst.
Das Madhyamaka kam bereits um 400 u.Z. nach China und führte dort zur Entstehung der Sānlùn zōng, der 'Schule der drei Abhandlungen'. Konkret sind das Nāgārjunas Zhōnglùn (die Mūlamadhyamakakārikās mit einem kurzen Kommentar des Übersetzers), Nāgārjunas Shíèr mén lùn (Dvādaśadvara-śāstra, nur in chinesischer Übersetzung erhalten) und Kānadevas Bǎi lùn (Śata-śāstra). Kānadeva ist identisch mit dem in Tibet bekannten Āryadeva. Die Schule hatte Ableger in Korea und Japan und war eine wichtige Quelle für die ca. zwei Jahrhunderte später entstehenden indigenen Schulen Huāyán zōng (jap. Kegon-shū) und Tiāntái zōng (jap. Tendai-shū) und über deren Vermittlung für die sich ab dem 7. Jahrhundert u.Z. formierende Chan zōng (jap. Zen-shū). Die exegetische Ausrichtung des ostasiatischen Madhyamaka ist am ehesten mit der des Prasaṅgika vergleichbar - wobei man berücksichtigen muss, dass die für das tibetische Madhyamaka so entscheidende Rollen einnehmenden Kommentatoren Nāgārjunas Bhāvaviveka und Candrakīrti für das in China längst verankerte Madhyamaka keine Rolle mehr spielten.
Nāgārjunas Präsentation der 'zwei Wahrheiten' findest Du im 24. Abschnitt der Mūlamadhyamakakārikās - anders als bei den (abschließenden) Abschnitten 26 und 27 wird ihre Authentizität von der (indologischen) Wissenschaft nicht in Zweifel gezogen.
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