Falls die gestrige Diskussion zwischen Spock, Morpho und mir - die als Diskussion unter Zennis etwas hermetisch und für Außenstehende möglicherweise missverständlich war - Anlass dieser Frage gewesen sein sollte, hier eine eingehendere 'klassische' Erläuterung des Begriffs wu nian:
ZitatAlles anzeigenGute Freunde, von alten Zeiten her bis zur Gegenwart haben Alle in dieser meiner Lehre Nicht-Gedanke [無念, wu nian] als Hauptdoktrin aufgestellt, Nicht-Form als Substanz und Nicht-Verweilen als Basis. Nicht-Form bedeutet, selbst in Verbindung mit Form von Form getrennt zu sein. Nicht-Gedanke heisst, selbst in Gedanken verwickelt nicht zu denken. Nicht-Verweilen ist die ursprüngliche Natur des Menschen.
Aufeinanderfolgende Gedanken hören nicht auf; vorangegangene Gedanken, gegenwärtige Gedanken und zukünftige Gedanken folgen einander ohne Unterlass. Wenn ein Denkvorgang abgeschnitten wird, trennt sich der Dharmakörper vom physischen Körper und inmitten aufeinanderfolgender Gedanken wird kein Raum für Anhaften an irgendetwas sein. Wenn ein Denkvorgang an etwas festhält, dann halten [auch] folgende Gedanken fest; dies ist bekannt als 'gefesselt sein'. Wenn Gedanken an allen aufeinanderfolgenden Dingen nicht festhalten, dann bist du ungefesselt. Daher wird Nicht-Verweilen [in der Lehre] zur Basis gemacht.
Gute Freunde, äußerlich von allen Formen getrennt zu sein, dies ist Nicht-Form. Wenn du von Form getrennt bist, ist die Substanz deiner Natur rein. Daher ist Nicht-Form [in der Lehre] zur Substanz gemacht.
In allen Umständen unbefleckt zu sein wird Nicht-Gedanke genannt. Wenn du dich auf der Basis deiner eigenen Gedanken von Umständen trennst, dann werden in Bezug auf Dinge keine Gedanken erzeugt. Hörst du auf, die Myriaden von Dingen zu denken und verwirfst alle Gedanken, wirst du, sobald du einen Gedankenmoment abschneidest, in einem anderen Reich wiedergeboren. Studierende, hütet euch! Ruht nicht in objektiven Dingen und im subjektiven Geist. Schlimm genug, wenn ihr selbst im Irrtum seid, um so schlimmer, wenn ihr Andere in ihren Fehlern bestärkt. Der getäuschte Mensch sieht selbst nicht und verleumdet [darüber hinaus] die Lehren der Sutren. Daher ist Nicht-Gedanke als Doktrin aufgestellt. Weil der Mensch in seiner Täuschung Gedanken in Bezug auf seine Umstände hat, entstehen aus diesen Gedanken heterodoxe Ideen und Leidenschaften und daraus werden falsche Sichtweisen erzeugt. Daher hat diese Lehre Nicht-Gedanke als Doktrin aufgestellt.
Menschen der Welt, trennt euch von Sichtweisen; aktiviert keine Gedanken. Gäbe es kein Denken, hätte Nicht-Gedanke keinen Ort, zu existieren. Wovon ist 'Nicht' das 'Nicht'? Was zu 'denken' bedeutet 'Gedanke'? 'Nicht' ist die Trennung von dem Dualismus, der die Leidenschaften erzeugt. 'Gedanke' bedeutet, die ursprüngliche Natur der wahren Realität zu denken. Wahre Realität ist die Substanz von Gedanken, Gedanken sind die Funktion wahrer Realität. Wenn du aus deiner Selbstnatur Gedanken aufsteigen lässt, dann – obwohl du siehst, hörst, wahrnimmst und weisst – bist du nicht durch die mannigfachen Umstände befleckt und stets frei. Im Vimalakirti Sutra heisst es: „während er äußerlich all die Formen der verschiedenen Dharmas gut unterscheidet, steht er innerlich fest im ersten Prinzip.“
(Das Plattform Sutra des sechsten Patriarchen, Dunhuang-Text mit geringfügigen Ergänzungen der Kōshōji-Version, Abschnitt 17, Übersetzung nach Ph. Yampolski)
Vor allem im letzten Absatz wird deutlich, dass der Begriff 'Nicht-Gedanke' keineswegs ein Negativum, also die bloße Abwesenheit von etwas, bezeichnet. Es geht vielmehr um eine andere Qualität mentaler Aktivität, des 'Denkens', für das mangels einer postiven Bezeichnung ein Begriff verwendet wird, der darauf verweist, was dieses 'Denken' nicht ist - eben nicht das gewöhnliche, be- und ergreifende dualistische Denken bzw. das, was man gewöhnlich unter Denken versteht.
Dōgen versucht, dieser differenzierten Auffassung (die eben nicht mit plattem 'Nichtdenken' verwechselt werden sollte) mit einem anderen Begriff etwas gerechter zu werden, wobei er auf das dem dritten Patriarchen Sengcan zugeschriebene fei si liang (非思量, Jap. hishiryō) zurückgriff, das ich mit 'Undenken' übersetzt habe. 非 dückt wie 無 eine Verneinung aus, wobei eine Übersetzung hier eher in Richtung 'ist nicht' als einfach 'nicht' geht. Statt 念 (in unserem Kontext: Gedanke) steht hier 思 'Denken' insbesondere im Sinn von diskursivem Denken, nachdenken, erwägen, überlegen – aber auch kontemplieren. Eine wichtige Konnotation von 思 ist die Bezeichnung einer motivgesteuerten mentalen Funktion, einer Absicht. So wird 思 auch verwendet, um Skrt. cetana wiederzugeben – den Willensimpuls, den Buddha mit karma identifizierte. Dass die Abwesenheit dieser Art des Denkens nicht einfach ein Vakuum hinterlässt, zeigt das dritte Schriftzeichen 量, das man hier mit 'ermessen' oder 'erfassen' übersetzen kann. Ich verzichte darauf, Dōgen zu diesem Begriff zu zitieren (etwa das Shōbōgenzō Zazenshin), da dies mE nur jemandem den Begriff näher erschließen würde, der hinreichende Erfahrung mit (und damit ein Verständnis von) dem von Dōgen gelehrten Zazen hat.
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