Antlitz verstanden, sondern auch die Meinungen bzw. der Ruf, die andere über eine bestimmte Person haben, bzw. die Wertschätzung die ihr entgegengebracht wird. Auf ihr Gesicht legen Chinesen traditionell großen Wert.
Gesicht „verliert“ etwa, wer den an ihn in seiner sozialen Rolle etwa als Vater, Angestellter, Student etc. gestellten Anforderungen nicht genügt. Besonders stark ist der Gesichtsverlust dann, wenn dieses Defizit auch durch andere etwa durch Kritik, Zurechtweisung, Bloßstellung etc. vor Dritten ausdrücklich festgestellt wird, wobei in diesen Fällen meist auch der Kritisierende Gesicht verliert. Tief sitzt bei Chinesen von Kindheit an die Angst, ausgegrenzt oder „ausgelacht“ zu werden; Oskar Weggel spricht insofern von einer chinesischen Schamkultur, die er der westlichen Schuldkultur gegenüberstellt. Letztlich führt diese Haltung zu einem erhöhten Konformitätsdruck, der wiederum das unten angesprochene „Ritualisierungsprinzip“ verstärkt.
Ebenfalls zu Gesichtsverlust führen Verstöße gegen das o. g. Harmoniegebot, etwa durch das Zeigen von Ärger und Wut.
Häufig hindert die Angst vor dem Gesichtsverlust Chinesen daran, auch nur geringe Wagnisse und Risiken einzugehen. So wird hiermit etwa die Scheu chinesischer Hotelangestellter erklärt, (ausnahmsweise) in Vertretung Aufgaben zu übernehmen, die ihnen nicht ausdrücklich zugewiesen worden sind. Auch das Ignorieren von Anfragen, die nur abschlägig beschieden werden könnten, hängt häufig mit der Gefahr des Gesichtsverlusts für beide Seiten zusammen. Eine der schlimmsten Beleidigungen im Chinesischen ist die Phrase 不要臉子 / 不要脸子 búyào liǎnzi. Was in etwa als „schamlos sein“ oder „ohne Anstand sein“ übersetzt werden kann, heißt wörtlich „kein Gesicht nötig haben“, also "kein Ruf zu verlieren haben".