Ich habe den Eindruck, dass es da schlicht an einem soliden Grundwissen über den Buddhismus Chinas fehlt; über die geistesgeschichtlichen Zusammenhänge, also den Kontext, aus dem sich Chan entwickelte. Sanlun, Faxiang, Huayan ... Richtig ist, dass der chinesische Buddhismus auch Ideen des klassischen Daoismus aufgriff - vor anderem auch, um die schwierige Aufgabe zu bewältigen, Sutren und Shastras und die darin erörterten philosophischen Konzepte aus indoeuropäischen Sprachen in das völlig anders strukturierte Chinesisch zu übersetzen. Ähnliches lässt sich ja auch bei Übersetzungen buddhistischer Texte ins Englische oder Deutsche feststellen. Wobei letzteres eher noch problematischer ist, da da z.T. mit Begriffen gearbeitet wird, die begriffsgeschichtlich zum einen durch den Monotheismus und zum anderen durch den auf Platon zurückgehenden Idealismus konnotiert sind. Die darin angelegten Inkongruenzen zum anātaman / śunyatā - Paradigma halte ich für deutlich problematischer als die beim Rückgriff auf daoistische Terminologie auftretenden, weil die Differenz der Grundkonzepte deutlich geringer ist. Auch der (klassische philosophische) Daoismus ist eine nicht-theistische Philosophie bei der es darüber hinaus Parallelen zu den Konzepten anitya und pratītyasamutpāda gibt (der in dem Interview gegebene Verweis auf das Yijing und dessen exegetische Tradition - die sog. '10 Flügel' - die allerdings stark konfuzianisch geprägt ist). Insbesondere ist das śunyatā-Konzept durchaus verwandt mit dem neo-daoistischen xuanxue (mit 'wu' unter Rückgriff auf das Daode Jing als einem der zentralen Begriffe). Wenn man nun speziell die Yulu-Literatur des Chan (aus der die klassischen Gongan-Sammlungen schöpften) einzig vor dem Hintergrund der klassischen daoistischen und der neo-daoistischen Literatur betrachtet, klammert man deren buddhistischen Hintergrund schlicht aus. Da liegt der schon geäußerte Verdacht nahe, dass man den einfach nicht kennt.
Vollends haarsträubend Hintons Äußerungen zu Wumenguan Fall 1. Wobei es nicht der Ironie entbehrt, dass Hinton einerseits Chan eine anti-metaphysische Grundhaltung bescheinigt (was es nicht 'unbuddhistisch' macht, wobei Metaphysik von seiner Begriffsgeschichte her grundsätzlich einer der oben erwähnten inkongruenten Begriffe ist) und andererseits das Gongan als 'metaphysische' Aussage interpretiert, wenn er Zhaozhous 'wu' als Verweis auf die daoistische xuanxue-Philosophie liest. Misser kann man dieses Gongan gar nicht verstehen. Vielleicht hätte es Hinton vor diesem Missverständnis bewahrt, wenn er sich wenigstens die etwas ausführlichere Präsentation dieser Geschichte in Fall 18 des Congronglu (jap. Shōyōroku) mal angeschaut hätte - die im Übrigen auch deutlich näher an der Quelle beider Gongan-Sammlungen ist, dem Zhaozhou Chanshi Yulu, die man, wenn man so argumentiert, wie es Hinton tut, sinnvollerweise auch beiziehen sollte. Das weckt bei mir einen weiteren Verdacht - dass Hintons Kenntnisse selbst des im Rahmen chinesischer buddhistischer Literatur relativ kleinen Bereichs der Chan-Literatur ausgesprochen lückenhaft sind. Dass sich die 'vollständige' Version dieses Gongan auch bei Dōgen findet (sogar zwei mal, in Shōbōgenzō Busshō und Sambyakuzoku) sei hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
Zitat Ein Mönch fragte Zhaozhou: "Hat auch ein Hund die Buddhanatur oder nicht?" Zhaozhou sagte: "Er hat!" ....
Dieser Anwort (kurz: "u") folgt eine Nachfrage und kurze Belehrung, darauf als zweites wenda (Jap. mondo) dieselbe Frage eines anderen Mönchs, die dann mit dem bekannten "wu" beantwortet wird - ebenfalls gefolgt von einer Nachfrage und Antwort. Bei Dōgen ist die Reihenfolge der beiden mondo vertauscht.
