Beiträge von Sudhana im Thema „Atman - Nagarjuna 18.Kapitel Mulamadhyamakavatarakarikas (MMK)“

    In diesem Kapitel weist Nagarjuna mittels logischer Argumente nach, dass es kein Atman, also kein aus sich selbst, aufgrund eines Eigenwesens, existierendes Ich oder Selbst gibt. Hat seine Argumentation denn heute noch eine Bedeutung für uns? Wer nimmt denn heute noch ein Eigenwesen der Person, des Ichs, des Selbst an? Wir wissen doch, dass es dieses nicht geben kann aufgrund des abhängigen Entstehens.

    Zunächst einmal - es ist natürlich richtig, dass Nāgārjuna in seinen MMK jeglichen Substantialismus logisch dekonstruiert. Was nun dessen "Bedeutung für uns" angeht, so weiss ich nicht, was Du mit "uns" konkret meinst. Für "uns" als Mahāyāna - Buddhisten hat Nāgārjuna natürlich Bedeutung; er hat eines der Fundamente des Mahāyāna gelegt, insbesondere für das korrekte Verständnis der Prajñāpāramitā - Sūtren. Aber man sollte Nāgārjuna nicht als Theoretiker missverstehen - ganz praktisch geht es ihm um das Verwerfen und Ablegen von jeglichen 'Sichtweisen' (dṛṣṭi), substantialistisch-essentialistischen wie auch deren Gegenteil. Das ist ein Wegweiser insbesondere für die Schulung des Geistes, die Pfad-Aspekte samyak-samādhi, samyak-smṛti und samyak-dṛṣṭi - rechte Sicht ist keine Sicht; das Nicht - Ergreifen von Sichtweisen der Kern der Übung des Pfades.


    Die von Nāgārjuna entwickelte nicht-binäre Logik ('Tetralemma', catuṣkoṭi) sowie verwandte Ideen des Strukturalismus und Poststrukturalismus wiederum machen Nāgārjunas MMK interessant für die aktuelle (insbesondere interkulturelle) Philosophie - und weisen ihm in diesem Kontext eine Bedeutung zu, zumindest eine geistesgeschichtliche.


    Zur Frage: "Wer nimmt denn heute noch ein Eigenwesen der Person, des Ichs, des Selbst an?" - ich schätze mal, grob 99,9 % der Menschheit, auch wenn einige davon die MMK gelesen und glauben, sie verstanden zu haben. Wenn Du sagst "Wir wissen doch, dass es dieses nicht geben kann aufgrund des abhängigen Entstehens", dann verstehen wir unter "Wissen" womöglich verschiedene Dinge. Zunächst einmal - woher "wissen" wir das (und auch hier: wer ist "wir")? Durch Lektüre Nāgārjunas womöglich? Und was sagt das dann über seine "Bedeutung für uns" aus? Der Hund liegt aber ganz woanders begraben: dieses "Wissen" ist doch fast immer bestenfalls intellektuelles Ergreifen eine Konzeptes, also eine Sichtweise, dṛṣṭi. Wie schon geschrieben, geht es bei Nāgārjuna nicht darum, 'falsche' dṛṣṭi gegen 'richtige' auszutauschen. Also das, was man annimmt, durch andere Annahmen zu ersetzen. Eine Annahme ist kein Wissen. Es geht vielmehr darum, ohne Annahmen auszukommen. Nochmals: Nāgārjuna geht es nicht um intellektuelles Verstehen, sondern um existentielle Einsicht - und aus dieser resultierendes Handeln. Prajñā, nicht jñāna.


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