Offen gesagt verstehe ich diese Geschichte 'kulturelle Aneignung' nicht wirklich. Beim Zusammentreffen unterschiedlicher Kulturen in Zeit und Raum kommt es unweigerlich an den Peripherien (die sich idR überlappen) zu Transitionsprozessen. Eher selten ausschließlich einseitigen. Neben Austausch von materiellen Gütern (wobei die Grenze zwischen Handel und Raub selten scharf zu ziehen ist) ist da ein Austausch von Bräuchen und Sitten und schließlich auch von Ideen unvermeidlich - wobei sich letzteres (der Austausch von Ideen) natürlich erst seit ihrer schriftlichen Fixierung historisch nachweisen lässt. Nicht zuletzt findet auch ein genetischer Austausch statt. In der Archäologie sind für den Austausch von 'Bräuchen und Sitten' insbesondere Bestattungsformen und 'gemischte' (also zwei verschiedenen Kulturtraditionen, etwa La Hoguette- und Bandkeramik, angehörenden) Keramikdepots Indikatoren solcher in Europa bis ins Mesolithikum nachweisbaren kulturellen Wechselbeziehungen.
Es ist ein besonderes Kennzeichen der Globalisierung, dass die Peripherien unterschiedlicher Kulturen zunehmend diffus werden und die wechselseitige kulturelle Durchdringung sich zunehmend intensiviert - wobei konkret auch Migrationen nach wave-of-advance-Modell eine zunehmend bedeutendere Rolle spielen.
In diesem Kontext kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass der Diskurs zur 'kulturellen Aneignung' eigentlich unter falscher Flagge geführt wird. Dass es weniger um Respekt vor anderen Kulturen geht als um die Abgenzung von ihnen. Zur Verdeutlichung etwas provokativ formuliert: Xenophobie in der Verkleidung des Respekts.
Zur Charakterisierung kultureller Wechselbeziehungen dienen insbesondere die bewährten Begriffe 'Akkulturation' und 'Inkulturation'. Während Inkulturation - grob gefasst - das Eindringen fremder kultureller Elemente bezeichnet (von außen nach innen gerichtet), ist Akkulturation deren wertschätzende Übernahme und Aneignung (von innen nach außen). Die Inkulturation trägt häufig den Charakter einer 'feindlichen Übernahme', selten den friedlicher Missionierung. Die Inkulturation der neuzeitlichen westlichen Kultur in anderen Kulturen, mittlerweile in Form eines entwickelten liberalen Kapitalismus, mit Mitteln des Kolonialismus und Imperialismus ist ein gutes Beispiel dafür.
Dass Akkulturation in sehr verschiedenen Formen stattfindet, ist unvermeidlich und daran ist auch nichts schlimmes. Und dass sich diese Formen zuweilen stark von ihren Vorbildern unterscheiden, auch nicht - der Akkulturationsprozess ist notwendig eine Anpassung des übernommenen kulturellen Elements an den anderen Kontext. Insofern ist das ein aneignender, aktiv verändernder Prozess. Der zweifellos seine Blüten treibt, bis hin zu Trivia wie dem Deko-Buddha auf dem Klo. Was soll's, wenn es bei der Verdauung hilft ... Trotzdem würde ich mir, wenn mir so etwas begegnet, einen freundlichen und nicht übertrieben deutlichen Hinweis darauf erlauben, dass es da ein Kreuz an der Wand zur Erinnerung an Demut und Hingabe vielleicht auch täte ...
Auch ich habe einen Deko-Buddhakopf im Garten stehen, ein wohlgemeintes und von Herzen kommendes Geschenk meines Bruders zum Geburtstag. Sein Anblick lässt mich jedes Mal die Verbindung mit meinem Bruder spüren - ob das nun jemand kitschig oder irgendwie kulturell übergriffig findet, ist mir schnurz. Was in meinem Garten Platz findet, geht niemanden außer mir etwas an - dafür habe ich ihn.
Wie gesagt, ich verstehe diese etwas hysterische (so kommt sie mir jedenfalls vor) Debatte um "kulturelle Aneignung" nicht. Wenn ein Halbstarker aus Mönchengladbach sich Dreadlocks wachsen lässt (was ich persönlich etwas unappetitlich finde, aber mich nix angeht), dann drückt er damit symbolisch allem Anschein nach Anerkennung und Wertschätzung für bestimmte kulturelle Werte aus. Dass er kein gebürtiger oder wenigstens gläubiger Rastafari ist (was ja nur eine noch umfangreichere Aneignung wäre) - wen juckt's? Einen Rastafari nach meiner Einschätzung eher nicht.
Hier wurde gestern in der Zeitung im Lokalteil allen Ernstes diskutiert, ob es okay ist, wenn die Kinder als Indianer verkleidet in den Kindergarten zum Kinderfasching kommen. Geht's noch? Klar wird da ein romantisches Märchenbild reproduziert, das die grausame Wahrheit des Genozids verdeckt - aber ist es sinnvoll, kleinen Kindern den verantwortlichen Umgang damit zuzumuten? Oder auch nur, sie in diesem Alter darüber aufzuklären?
Für die signalisiert die Verkleidung Tapferkeit und Ehre und auch ein Stück Naturverbundenheit - Respekt vor dem naiv aufgefassten "Wilden", in dessen Rolle sie spielerisch schlüpfen. Was vielleicht ein paar Jahre später dazu führt, etwas hinter die Kulisse von 'Cowboy und Indianer' zu schauen und zu sehen, was da wirklich los war.
Mein Lieblingsoutfit im Kinderfasching war übrigens der Chinese - Gesicht knallgelb mit Schlitzaugen geschminkt, den gelben Kegelhut mit langem, angenähten Zopf auf dem Kopf. Lyncht mich. Mir hat's nicht geschadet und auch sonst niemand. Aktuell lese ich z.B. die Arbeit des Sinologen und Ethnologen Thomas Höllmann 'China und die Seidenstraße', eine breit angelegte und faktenreiche Geschichte kulturellen Austauschs Chinas nicht nur mit dem Westen und Norden, sondern auch dem pazifischen Raum (sog. 'Seidenstraße des Meeres'). Vielleicht eine karmische Spätwirkung meiner kindlichen Respektlosigkeit ...