Exkurs: Wiedergeburt und Karma aus säkularer Sicht
Die säkulare Sicht auf Wiedergeburt destilliert sich in dem Begriff „Wiederwerden“, Pali: „punabbhava“: „punabbhava“ wird landläufig mit „Wiedergeburt“ übersetzt. Diese Übersetzung führt dann aber zu dem bekannten Missverständnis, dass ein Bewusstseinskern von einem Subjekt auf das andere über die Grenze des Todes hinaus hinübergehen kann.
Buddhismus weiß, alle Erscheinungen sind bedingt, das heißt, sie sind durch unzählige Voraussetzungen prädisponiert. Diese sind die Basis von allem, was wieder und wieder auf materieller sowie auf geistiger Ebene wird. Endet die Existenz von etwas Bestehendem, löst es sich auf und aus seinen Bestandteilen entsteht Neues. Wir alle sind Resultate vorheriger Existenzen und Verhältnisse. Wir sind auf diese Weise mit allem, was je existiert hat, was jetzt existiert und je existieren wird, verbunden. Auf materieller Ebene sind wir aus den Molekülen, aus denen vor uns andere Dinge bestanden, Felsen, Bäume, Tiere, andere Menschen, was auch immer, gemacht. „Wir alle sind Sternenstaub“, heißt es oft poetisch. Und das ist richtig.
Geistig sind wir unter anderem durch die Erfahrungen unserer Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Ururgroßeltern usw. geprägt. Wir wissen nicht erst seit heute, dass Traumata aber auch positive Eigenschaften, die sich unsere Vorfahren angeeignet haben, über Generationen hinweg weitergegeben werden. Das ist uraltes Menschheitswissen. Neurologen und Psychologen bestätigen dies heute. Wenn wir durch die liebevolle, zärtliche Aufmerksamkeit der Urgroßmutter für ihre Kinder, die deshalb selbst zu empathischen Wesen heranreifen konnten und dies wiederum an ihre Kinder weitergaben, ebenfalls die Gelegenheit haben, aus psychologischer Sicht zu gesunden Persönlichkeiten werden, sind wir deshalb aber nicht die reinkarnierte Großmutter. Die Großmutter hat durch ihr Handeln lediglich einen Teil der Voraussetzungen für das geschaffen, was die Enkel heute sind. So pflanzen sich einzelne Bewusstseinsinhalte, wie etwa Verhaltensmuster, über Generationen hinweg fort. Aber das Bewusstsein eines Einzelnen inkarniert nie als Ganzes in eine andere Person. Herr Müller wird nicht zu Frau Maier, nie. Kann er gar nicht, wie ich noch zeigen werde.
Aus Sicht der Neurologie und Psychologie ist Bewusstsein in seiner engsten Definition die Wahrnehmung des eigenen Ich-Konstrukts. Wir können sagen: „Ich bin!“ Ein Ich-Konstrukt entsteht durch die Verarbeitung von Sinneseindrücken und ihrer Interpretation auf der Basis unserer Hirnfunktionen. Hören Verarbeitung und Interpretationsarbeit auf, erlischt das Bewusstsein. Das passiert, wenn wir sterben. Buddhismus beschreibt dies ebenso: Bewusstsein ist die Summe der sogenannten Skandhas, der Empfindungen, der Gefühle, der Wahrnehmung, der eigenen Interessen und Sehnsüchte und so weiter. Das, was wir für unser Ich, unser Selbst, halten, ist einzig und allein eine Ausdeutung der genannten Eindrücke. Diese befinden sich jederzeit im fluss.
Die empirische Zeitwahrnehmungsforschung geht davon aus, dass das, was wir als Gegenwart empfinden, unser gegenwärtiges Sein, jeweils eine Einheit von 2,7 Sekunden umfasst. Wenn man so will, stirbt unser Ich in diesem Intervall und wird aus den Voraussetzungen des Vorangegangenen immer wieder neu. Da ist nichts Festes, kein Kern, der weitergegeben werden könnte. Das ist mit dem buddhistischen „anatta“ gemeint. Die Voraussetzungen oder Bedingungen für die jeweilige neue Ich-Konstruktion sind das Karma. Pali „kamma“, bedeutet übersetzt „Wirken“ oder „Tat“. Karma sind also jene Voraussetzungen, die zum gegenwärtigen Sein geführt haben und gegenwärtiges Sein wiederum erzeugt Karma für künftiges Sein.
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