Thema war: Texte die zum Frieden und zur Befreiung dienen.
ZitatAlles anzeigenLama Anagarika Govinda:
Die drei Merkmale
anicca - dukkha - anattâ
Der Entstehungsprozess des Bewusstseins wird durch 14 Funktionen gekennzeichnet, die für uns an dieser Stelle nur insoweit von Interesse sind, als jede von ihnen wieder ein äußerst kompliziertes System von Vibrationen, Schwingungen feinster Art darstellt, bei denen mit Zeiteinheiten von billionstel Sekunden (nach burmesischer Tradition) gerechnet wird, so dass Buddhaghosa im Visuddhi-Magga mit Recht sagen konnte: „Ebenso wie ein Wagenrad im Rollen wie im Stehen nur mit einem Punkte den Boden berührt, ebenso besteht ein Lebewesen nur für die Zeit eines einzigen Bewusstseinsmomentes.“
Wollten wir auch nur den Mechanismus eines einzigen Bewusstseinszustandes, ja nur eines einzigen Augenblickes erschöpfend darstellen, so würde das weit über den Rahmen einer einführenden Betrachtung hinausgehen, denn jeder Moment ist ein Spiegelbild des ganzen Systems, in das er verflochten ist, und seine Analysierung käme einer Darstellung der gesamten buddhistischen Psychologie und Philosophie gleich.
Für uns genügt es, ihre Richtlinien aufgedeckt zu haben. Zeigte die buddhistische Bewusstseinslehre, vom hedonischen Standpunkt betrachtet, die Ursache des Leidens (dukkha) und damit den Weg zu seiner Aufhebung sowie die positive Seite dieses Problems, nämlich Ursache und Bedeutung der Freude, so legte sie hiermit das ethische Fundament des Buddhismus frei.
Und wenn wir sahen, wie der scheinbar einfache Bewusstseinsvorgang sich als ein höchst differenziertes Gebilde erweist, das nicht etwa Ausdruck eines dahinterstehenden Ich- Substrates ist, sondern in dem diese Ich- Vorstellung erst als Produkt gewisser Faktoren und Funktionen entsteht, also selbst ein Element des Bewusstseinsprozesses ist, so enthüllte sich hier ein weiterer Grundpfeiler: die Anattâ-Idee.
Legen wir aber den Maßstab der Zeit an dieses Phänomene des Bewusstseins, so lösen sich auch die letzten scheinbar beständigen Elemente in Schwingungen auf, deren Dauer nur nach infinitesimalen Zeiteinheiten zu bemessen sind: Anicca!
Es gibt nichts Beharrendes; alles fließt!
Es ist augenscheinlich, dass der Buddhismus eine völlige Umwälzung aller althergebrachten Anschauungen darstellt und der negative Charakter seiner Formulierungen dazu beiträgt, den Aussenstehenden abzuschrecken. Er sieht in der Anattâ-Idee die Vernichtung seiner Persönlichkeit, in der Anicca-Idee die Entwirklichung der Welt. Dabei verbürgt aber gerade die Anattâ-Idee die Entwicklung und Erweiterung der Persönlichkeit, in dem sie dartut, dass das „Ich“, nicht eine absolute Größe, sondern eine Bezeichnung für die relative Begrenzung ist, die das Individuum, je nach dem Stande seiner Erkenntnis sich selber setzt.
Der naive Mensch empfindet seinen Körper als „Ich“, der fortgeschrittenere seine Empfindungen oder seine geistigen Funktionen.
Der Buddha aber erkennt weder den Körper noch den Geist als „Ich“ an, da er deren Bedingtheit durchschaut.
Was aber die Bedingtheit selber anbelangt, so liegt gerade in ihr das Prinzip der relativen individuellen Dauer. Mögen auch die körperlichen und geistigen Baustoffe noch so schnell wechseln, sie werden stetsdie Form erfüllen, die auf Grund karmischer Gesetzmäßigkeit der Entwicklungsreihe des betreffenden Individuums entspricht.
So trägt also die Anicca-Idee nicht nur zur Entwirklichung der Welt bei, sondern sie zeigt im Gegenteil, dass die Welt ausschließlich im Wirken besteht, ein dauernder Wachstumsprozess ist. Nirgends ist Starre, nirgends Begrenzung. Kein Ding besteht für sich selbst oder „an sich“. Es gibt also nichts „Beständiges“; aber anstelle einer Welt voll toter Dinge ist ein allbelebter Kosmos getreten, der sein Spiegelbild im Bewusstsein jedes Individuums findet und seinen Brennpunkt in jedem Atom, ebenso wie jeder Augenblick, vom Standpunkt infinitesimaler Teilbarkeit, die ganze Fülle der Zeit in sich birgt. So finden wir in uns selbst gegenwärtig die Ewigkeit, die wir ausserhalb unser nicht zu finden vermochten.
In gleicher Weise aber wie die Anicca-Idee die Existenz der Dinge nicht anzweifelt, sondern nur ihre Beständigkeit, besagt die Anattâ-Idee nicht, dass es kein Ich gibt, sondern nur, dass es kein absolutes Ich gibt. Ob es aber überhaupt etwas Absolutes gibt, ist eine Frage, die nicht in den Bereich der Psychologie gehört, sondern in den der metaphysischen Spekulation.
Wer den Weg des Buddha gehen will, muss alles „Ich“ und „Mir“ aufgeben, in sich selbst überwinden. Und dieses Aufgeben ist kein Ärmerwerden, sondern eher eine Bereicherung zu nennen, denn das, was aufgegeben und vernichtet wird, sind die Grenzmauern, die ihn gefangen hielten; was aber gewonnen wird, ist jene höchste Freiheit, die nicht als einfache Verschmelzung oder Sichgleichsetzung mit allem Existierenden zu verstehen ist, sondern als das Bewusstwerden der Allbezogenheit, derzufolge jedes Individuum mit der Gesamtheit aller Lebewesen verbunden ist und an ihrem Wirken und Erleben teil hat. Es kann dies in zweierlei Form erlebt werden: entweder als das Bewusstwerden der Aufeinanderfolge aller nur denkbaren Daseinsphasen auf der Linie individueller (karmischer) Entwicklung oder als gleichzeitiges Nebeneinander aller bestehenden Lebensformen und Zustände.
Aus: Abhidhammattha - Sangaha, Benares Verlag München, 1930