Antwort gibt hier ein neues Kapitel in Heinrich Dumoulins "Geschichte des Zen-Buddhismus" (Band I), angekündigt für März 2016 im Francke Verlag. Ein Auszug (ohne Fußnoten, basierend auf neuen Funden von Manuskripten Dumoulins):
"Vom Ostberg zur Nordschule
Die Nordschule des Zen ist keine klar umrissene, institutionell greifbare Formation im chinesischen Buddhismus. Die Bezeichnung wurde im Gegensatz zur Südschule geprägt, als Shen-hui, ein Jünger Hung-jens in der dritten Generation, den Angriff auf dessen Nachfolger Shen-hsiu (606-706) und seine Gefolgschaft eröffnete. Ihr haftet die pejorative Bedeutung einer «Nebenlinie des Bodhidharma-Zen» oder gar einer «Häresie» an. Anhänger der so genannten Nordschule bedienten sich dieses Namens nicht als Selbstbezeichnung. Unter diesen Umständen ist es schwierig, den Anfang und die ersten Vertreter der Nordschule genau zu bestimmen. Yanagida sieht im Ostberg die historische Stätte des Aufbruches einer neuen Bewegung im chinesischen Buddhismus. Nach seiner Ansicht machen «die vom Dharma-Tor des Ostberges rasch nach Ch’ang-an und Lo-yang aufgebrochenen Jünger insgesamt die Nordschule» aus. Die Zen-Methode der Nordschule ist eine Fortentwicklung der Zen-Methode des Ostberges. «Das Shushin Yôron wird zur Grundlage des Zen der Nordschule.»
Hung-jen hatte auf dem Ostberg eine zahlreiche Jüngerschar um sich versammelt, unter denen zehn große Jünger hervorragen. Es ist unwahrscheinlich, dass die vielen Jünger nach dem Hinscheiden des Meisters einträchtig zusammenhielten. In den überkommenen Quellen zeichnen sich Unterschiede und Gruppierungen ab, die sich im Einzelnen nicht feststellen lassen. Als Pionier der Nordschule gilt Fa-ju (638-689), über den die frühesten schriftlichen Dokumente aus jener Zeit berichten. Zwei Texte, beide ziemlich gleichzeitig kurz nach dem Tode des Fa-ju verfasst, nämlich das Epitaph eines anonymen Verfassers und der ebenfalls anonyme Text über «Wirken und Verhalten des Zen-Meisters Fa-ju» (jap. Hônyo Zenji Gyôjô, chin. Fa-ju Ch’an-shih hsing-chuan), stimmen inhaltlich weitgehend überein, so dass eine gegenseitige Abhängigkeit zu bestehen scheint, jedoch die Frage der Priorität nicht beantwortet werden kann. Beide Texte enthalten die Generationslinie, die die Zen-Patriarchen des Ostberges mit Bodhidharma verbindet, und betonen überdies die unmittelbare Geistüberlieferung außerhalb der Schriften, wobei sie sich auf ein Zitat aus der Vorrede des Hui-yuan (334-416) zum Meditationssutra des Dharmatrâta (jap. Datsumatarazengyô, chin. Ta-mo-to-lo ch’an ching, T. No. 618) berufen, die die Geistüberlieferung vom Buddha über Ânanda bis Dharmatrâta und Buddhasena bezeugt und als eine Andeutung der Zen-Lehre von der «Weitergabe der Leuchte» verstanden werden kann. Bemerkenswert ist, dass diese frühe Generationslinie in einer Schrift der Nordschule den Namen des Lieblingsjüngers Ânanda enthält, während die Generationsfolgen der Südschule späteren Datums im Kontext der legendären Geschichte vom Lächeln Buddhas Kâśyapa nennen.
Auf den zwei frühen Texten über Fa-ju fußt der biographische Abschnitt der Chronik Dembôhôki, der dem Pionier der Nordschule hohes Lob spendet. Als sein erster Lehrer wird Hui-ming genannt, der Jünger des wegen seiner asketischen Härte berühmten Fa-min (679-745) aus der Mâdhyamika-Schule, der gemäß einer Nachricht seinen Schüler an Hung-jen verwies, bei dem er 16 Jahre bis zum Tod des Meisters verweilte. Auf dem Ostberg empfing Fa-ju das Siegel der Dharma-Nachfolge, kann also als ein legitimer Erbe des fünften Patriarchen angesehen werden. Der Text Hônyo Zenji Gyôjô vermerkt, dass er die Erleuchtung im «plötzlichen Eingang in das Eine Fahrzeug» erlangte. Das «plötzlich» (jap. ton, chin. tun) charakterisiert hier die Erfahrung des Meisters der Nordschule.
Als er nach dem Tod des Kaisers Kao-tsung (683) einen hohen Verwaltungsposten in der Hauptstadt annehmen sollte, entwich Fa-ju in die Einsamkeit des Berges Sung. Während der drei letzten Jahre seines Lebens widmete er sich mit vollem Einsatz ungestört der Verbreitung der Lehre und der Praxis des Zen. Im durch den Aufenthalt Bodhidharmas und Hui-kos berühmten Kloster Shôrinji sammelte er zahlreiche Jünger um sich, denen er vor seinem Tod empfahl, sich Shen-hsiu anzuschließen.
Die wenigen erhaltenen Quellen zeichnen Fa-ju als eine bedeutende Gestalt im frühen chinesischen Zen. Yanagida nennt ihn den «ersten Pionier» und «tatsächlichen Begründer der Nordschule des Zen». Doch für ein bleibendes Gedächtnis war die Zeit seines Wirkens zu kurz bemessen. Ein Grund dafür, dass spätere Chroniken seinen Namen nicht erwähnen, mag darin liegen, dass Shen-hui beim Angriff auf die vermeintlich abweichende Linie seine Aufmerksamkeit auf Shen-hsiu und dessen Jünger konzentrierte.
Die Nordschule kam recht eigentlich zum Zuge, als Jünger des Hung-jen an den Kaiserhof berufen wurden und dieser Einladung folgten. Das Erscheinen der herausragenden Meister Lao-an und Shen-hsiu in der Hauptstadt (ca. 700 und 701) erregte Aufsehen. Beide wurden von der Kaiserin Wu mit Ehren empfangen und vom ganzen Hof, aber auch vom Volk, nicht zuletzt wegen ihres hohen Alters, hoch geschätzt. Lao-ans Geburtsdatum ist unsicher, doch lebte er wahrscheinlich ein volles Jahrhundert. Seine Wunderkräfte erhöhten den Zauber seiner Erscheinung. Auch sind charakteristische Zen-Worte von ihm überliefert, z. B.: «Wenn du einen Nagel in einen Spiegel schlägst, klingt eine Stimme. Erklingt auch eine Stimme, bevor du schlägst?» Lao-an wirkte vor und nach seinem Aufenthalt in den Hauptstädten im Tempelkloster Gyokusenji (chin. Yü-ch’üan ssu). Die Namen mehrerer seiner Jünger sind überkommen, darunter Tao-shun, der ebenfalls zum Kaiserhof geladen wurde (707 oder 708) , und Chih-t’a (auch Hui-t’a), ein beredter Anwalt plötzlicher Erleuchtung.
Shen-hsiu, der anerkannte Führer der Zen-Jünger in den Hauptstädten, wurde mit Auszeichnungen überhäuft. Der Zeitpunkt seines Wirkens war überaus günstig. Nach einem von Intrigen und Gewalttaten befleckten Aufstieg regierte die Kaiserin Wu (690-705), die den Buddhismus nach Kräften förderte, bedeutende Buddhisten aller Schulen an ihren Hof zog, buddhistische Schriften wie das Avataṃsaka-Sûtra, das Laṅkâvatâra-Sûtra, das Vimalakîrti-Sûtra, das Daijôkishinron (chin. Ta-cheng ch’i-hsin lu) u. a. neu übersetzen ließ und reichlich materielle Güter spendete. Die Stunde brachte dem Bodhidharma-Zen, dessen Anhänger in großer Zahl eilig vom Ostberg in die Hauptstädte Chang-an und Lo-yang zogen, einen entscheidenden Aufschwung, den Yanagida so charakterisiert: «Die Zen-Schule, die im chinesischen Buddhismus als ungewöhnliche Neuerung begonnen hatte, gewann eine Position als Buddhismus der neuen Epoche.» "