Beiträge von VOOM108 im Thema „Mahamudra Praxis“

    Sôhei:

    Es ist nach wie vor geschlossen und Glauben. Um was geht es: jedes beliebige Verhalten kann Ausdruck oder Teil einer voll verwirklichten Person sein. Aber welche Kriterien machen es denn möglich, festzustellen ob es im konkreten Fall eine verwirklichte Person ist oder nicht? Die Berufung auf eine andere verwirklichte Person ist ja selbst wieder abhängig von der Anerkennung dieser Person durch andere etc. Selbst der historische Buddha wurde ja nicht von allen als vollkommen Erwachter wahrgenommen (und ob er es war, ist - wenn man sich in dieser Frage entscheidet - eine Glaubensentscheidung). Zu sagen, dass hat seinen Grund darin, weil alle anderen eben nicht auf seinem Level waren, ist ja keine Begründung. Ich kann das Verhalten einer Person beobachten (z.B. ob sie sich einfühlsam, pädagogisch geschickt etc. verhält), aber nicht ob sie irgendeine Erleuchtung verwirklicht hat.


    Wir reden hier ja zunächst mal nicht von "irgendeiner Erleuchtung" sondern von der einen Erleuchtung, es gibt keine Vielzahl von Erleuchtungen zumindest nicht in der hier sinnigerweise zugrundeliegenden Semantik / Wortdefinition.


    Diese ist, wie Du richtig feststellst, eben nicht durch Beobachtung von Verhalten erkennbar, weil "jedes beliebige Verhalten Ausdruck oder Teil einer verwirklichten Person" sein kann. Das Erkennen derart verwirklichter Wesen untereinander ist vielmehr ein unmittelbares Wissen, das sich schon alleine dadurch erklärt, dass ein derart verwirklichtes Wesen alles über die Objekte und Phänomene weiss, die sich im Jetzt in seiner Wahrnehmung ausdrücken. Einfach weil es durch die Erleuchtung (= Einssein mit dem natürlichen Zustand) mit allem verbunden ist.


    Und auf gewissen Weise hast Du recht: solange man nicht selbst erleuchtet ist, ist es eine Frage des Glaubens. Man kann es nicht ultimativ wissen, maximal intuitiv erfühlen. In Deinem vorletzten Post hast Du geschrieben: "ein geschlossenes Glaubenssystem" - das bestreite ich weiterhin. Es ist kein geschlossenes Glaubenssystem - es liegt alles offen für jeden, der sich dafür öffnet. Und es ist kein System. Ein System setzt per Definition eine Umwelt voraus. In Bezug auf das, von dem wir hier reden gibt es keine Umwelt - es umfasst und beinhaltet alles, was existiert und nicht existiert. Zugänge dazu, Wege dorthin können ggfls. Glaubenssysteme sein, aber der Zustand an sich ist allumfassend.

    Das ist ja eine weitestgehend allgemein anerkannte Tatsache, dass man im Anderen immer nur die Ebene der Verwirklichung maximal erkennen kann, die man auch selbst verwirklicht hat. Dass es sich hier nicht um ein geschlossenes Glaubenssystem handelt erkennt man daran, dass es bei der verwirklichten Ebene an dem hier diskutierten Punkt um die universelle Erleuchtung handelt, die man auf vielen Wegen - und nicht nur innerhalb des Buddhismus - erreichen kann. Da trifft es dann umso mehr zu, dass der äußere Ausdruck sehr verschieden sein kann - z.B. bei einem Sufi-Meister - aber der verwirklichte Sufi-Meister und ein beispielsweise ein Dzogchen-Meister sich gegenseitig als erleuchtet oder voll verwirklicht erkennen können.

    Die Praxis sieht sehr unterschiedlich aus. Ist die Essenz einmal verwirklicht, handelt es sich um die gleiche Essenz. Dennoch kann der Ausdruck eines derart verwirklichten Wesens sich individuell unterscheiden und ist dabei sicherlich von den auf dem Weg dahin gemachten Lehren und Erfahrungen geprägt. Es gibt also fast immer einen von Aussen wahrnehmbaren Unterschied, weil die immer-gleiche Essenz der Erleuchtung nur von denen eindeutig wahrgenommen werden kann, die diese selbst bereits verwirklicht haben. Daher fällt der individuelle Ausdruck bei Betrachtung von Aussen vornehmlich ins Auge.

    Mahamudra in der Kagyü-Linie beruht auf dem Dzogchen der Nyingma-Linie. Es wurde aber für den "typischen Charakter" eines Kagyü-Praktizierenden angepasst. Während im Dzogchen deutlich zwischen Vorbereitung (Tantra) und "formloser Dzogchen-Praxis" getrennt wird (Trekchöd - Übung dessen, was nicht geübt werden kann, sondern nur direkt erfahren) läuft Mahamudra in der Kagyü-Linie typischerweise bereits als "Übung der reinen Sicht" parallel zur tantrischen Praxis mit.


    Daher kann der Eindruck entstehen, Mahamudra sei eine Praxis mit Visualisierung und Mantra. Dem ist aber auch in der Kagyü-Linie nicht so.


    Anschaulich wird das z.B. in der Belehrung, eine Situation immer mit dem bestmöglichen MIttel zu meistern, das einem grad gelingt, ohne das als "höher" oder "niedriger" zu bewerten. Kann man nicht spontan die Leerheit der SItuation verwirklichen (Mahamudra), versucht man es mit Umwandlung (Tantra) z.B. eines Geistesgiftes zu einem geistigen Heilmittel, gelingt auch das nicht, versucht man die Hindernisse der Situation zu umgehen z.B. indem man sich aus der Situation zurückzieht und sie nicht "auflöst" (Sutra).


    Der Trick dabei: indem man nicht bewertet, dass man es nicht schafft, die Leerheit der Situation direkt zu verwirklichen kann man rekursiv zu der Erfahrung kommen, dass auch der Umgang mit der Situation an sich leer ist. Aus der höchstmöglichen Sicht betrachtet fällt man auch dann nicht aus der Mahamudra-Erfahrung heraus, wenn man ein Objekt vermeidet, weil auch diese Handlung leer ist.


    Diese Tricks und "Rekursionen" sind vielleicht ein besonderes Merkmal von Mahamudra in der Kagyü-Linie, die nur schwer von Aussen verständlich und zu Missdeutungen führen, wenn man nicht selbst derartige Erfahrungen gemacht hat.