Lieber Son,
wir kennen uns aus dem Holocaust-Thread. Dieser hat mich interessiert, weil ich über eine sehr vergleichbare Gewalterfahrung verfüge, in deren Verlauf ich lebensgefährlich verletzt wurde und auch Familie betroffen war.
Nun, ich habe eine Bekannte, da hat der Mann den Kindern überraschend die Kehlen durchgeschnitten. Was sagt man nun der Mutter? Was sagt sich die Frau selber? Da fehlen einem die Worte. Für mich war eine der Lösungen, erst einmal mit sich selber im Gespräch zu bleiben und Achtsamkeit zu üben. Sich nicht hilflos traurig zu fühlen, sondern erst einmal zu erkennen, dass es Trauer ist, die einen durch den Alltag begleitet, einen schwächt und würgt.
Ich weiß, dass das sich für Dich vielleicht dämlich anhört. Ich habe ja schließlich selber jahrelang kaum noch ein Wort gesprochen, weder mit mir noch mit anderen, weil ich einfach keine gefunden habe. Und weil mich das, was andere gesagt hätten nicht erreicht hätte. Aber, Son, wir müssen in engem Kontakt mit uns (und anderen) bleiben. Nach großem Leid ist die persönliche Haltung entscheidend und die braucht Kommunikation und Achtsamkeit, damit sie nicht krumm wird (Thema Bitterkeit oder Hass). Danach kommt das Einsichtnehmen - was ist Leid, wieso erfahre (gerade) ich Leid, wie kann ich es auflösen. Wie genau löst man Erinnerungen an großes Leid auf? Da bin ich auch nicht so gut drin. Ich wache immer noch manchmal auf und sehe Blut die Wand runterlaufen.
Insgesamt ist es so, dass man das Buddhaland durchaus nutzen kann, um guten Rat zu finden. Die Beiträge von Sudhana sind unfassbar lehrreich und haben eine saubere Ausstrahlung, die aus durchlebter Praxis kommt. Was mir Kilaya und mkha' bislang geraten haben, das ist ebenfalls durchlebte Praxis. Suche Dir gezielt diejenigen aus, die heilsam schreiben.
Was ich nicht mehr mache, Son, ist, den Leidensprozess anderer Menschen einschätzen. Manche kapseln ihre Gefühle ab - und stellen deswegen keine Kerze mehr auf, weil sie "Angst haben, vor Schmerz ohnmächtig zu werden" (das sagte mir ein Vater, dessen Tochter vergewaltigt und getötet wurde). Solche Sicht kommt, meine ich, ebenfalls daraus, dass man nicht mit sich im achtsamen Kontakt ist. Also nimmt man an, dass man es nicht kann. Man riskiert es dann auch gar nicht. Die schiere Annahme führt dann zur "krummen Handlung".
In einer dramatischen und möglicherweise entscheidenden Phase unseres Lebens, beginnen wir etwas zu tun, was wir sonst nie getan haben: Wir beginnen auf ungeprüfte Annahmen hin zu handeln. Das möchte ich Dir gerne aus durchlebter Praxis mitgeben: Frage Dich bei jedem Gedanken "Hat mir das jemand gesagt, dass das so ist - oder habe ich das gerade einfach selber erfunden?". Wir können es uns nicht erlauben, aus ungeprüften Annahmen heraus zu handeln, mein Lieber. Ich höre Bitterkeit aus deinen Zeilen. Sei Achtsam, dass Deine Haltung nicht krumm wird! Sei aber auch lieb und mitfühlend Dir gegenüber. Das ist auch wieder so eine Weisheitskeks-Weisheit, die bei mir ziemlich löchrig funktioniert - aber wir sollten dran bleiben, Son.
Engelbert