Beiträge von Jojo im Thema „Meditationsplan erstellen?“

    bel:

    Zielgerichtet wäre, wenn ich in meiner Verwirrung wüßte, was das Ziel denn tatsächlich wäre, also jenseits aller wohlfeil nachplapperbarer Phrasen, und entsprechende Erwartungen hegen würde, mir dazu einen Plan machen würde usw. Und genau das weiß ich nicht und lasse mich deshalb lieber von mir überraschen.


    Naja, so ganz stimmt das ja nicht. Wenn ich nach New York reise und war vorher noch nie da, weiß ich auch nicht, wie es da genau aussehen wird. Trotzdem komme ich hin, wenn ich mich an die übliche Wegbeschreibung halte.


    Das Problem ist halt, dass wir alle von unterschiedlichen Punkten aus starten. Wenn ich mitten in den Alpen sitze, nutzt mir die Wegbeschreibung von jemand, der gerade die Wüste Gobi durchquert hat, gar nichts.

    diamant:
    Jojo:

    Hast du mal 40 Minuten bewegungslos im Sessel gesessen, ohne deine Position zu verändern?


    Das ist ja der Punkt: Es ist eben unnatürlich, bewegungslos über lange Zeit zu sitzen.


    Ja. Es ist auch unnatürlich zu lesen und zu schreiben. Trotzdem lohnt es sich absolut, lesen und schreiben zu lernen.


    diamant:

    Das muss man erst mal verstehen, damit man weiß, was für einer Idee man da "aufsitzt". Einer Art militärischem Drill.


    Wenn es Drill ist, ist es FALSCH.


    diamant:
    Jojo:

    Wenn es erstaunlich und überraschend bleibt, hast du noch nicht durchschaut, wie der Schmerz entsteht, und was die Basis für die Veränderung schafft. Wenn du DAS durchschaust, kommst du weiter.


    Wenn du es "durchschaut" hast, sage es doch deutlich: Was ist die Basis für die Veränderung?


    Ich kann das nicht sagen, was aber nicht heißt, dass es was Kompliziertes wäre. Vergleich: Ich kann z.B. auch nicht sagen, wo genau der Balancepunkt erreicht ist, wenn man aufs Fahrrad steigt - und wie man oben bleibt, statt wieder runterzufallen. Man muss halt oft genug üben und ein Gefühl dafür bekommen.


    Beim Rad würde ich sagen: Rechten Fuß aufs Pedal, mit dem linken anschieben, hops, hops, hops - und dann Popo auf den Sattel. Und dann nicht vergessen zu treten. Was ich über das Sitzen sagen könnte, würde ähnlich langweilig klingen... eben all der ganze Schmonzes, den du schon kennst.


    Nur: man muss das auch TUN. Man muss diesen Schmonzes im eigenen Sitzen genau untersuchen. Und das, was dann vor sich geht, ist systematisch. Da bricht nichts über einen herein. Anfangst bricht jede Veränderung herein, weil man nicht weiß, worauf man achten muss. Mit der Zeit sieht man immer besser, was passiert, und dann ist das "plötzliche" Aufhören von Schmerzen auch keine Überraschung mehr. Wenn es aufhört, eine Überraschung zu sein, ich glaube dann ist man eine Stufe weiter. Dann kommt die nächste "Überraschung". Und so weiter.


    diamant:

    vom Zen inspirierte asiatische Kampfkünste. Mit dem Körper übt man da aber in Bewegung, nicht im Sitzen. Das ist auch das Zen, das ich empfehle - sofortige Anwendung im Tun und in der Aktivität statt Verharren in der Passivität.


    Wenn das Sitzen passiv ist, ist es FALSCH.
    Es ist kein Tun, aber es ist auf gar keinen Fall passiv. Es ist das aktive Aufhören von allem (meist automatischen) Tun. Bei diesem aufhören geht es nicht darum, Passivität zu erreichen, sondern es geht darum, nicht mehr weiter zum Opfer von automatisiertem Tun zu werden.


    diamant:
    Zitat

    sondern im Geist tauchen Gedanken zu diesen Schmerzen auf. Das ist etwas völlig anderes als die Schmerzen selbst. Diese Unterscheidung ist die absolute Grundlage für eine richtige Praxis.


    Natürlich sind Gedanken über den Schmerz, das beschrieb ich ja schon weiter oben (in Form von Ablehnung, Wut usw.) etwas anderes. Aber der Schmerz existiert weiter als das, was wir Schmerz nennen, wenn diese Gedanken getilgt sind. Also auch wenn wir

    Zitat

    mit voller Aufmerksamkeit beim Körper zu sein

    meinen. Denn diese Aufmerksamkeit und Schmerzwahrnehmung ist ja nichts anderes als eine Körperempfindung, ein Signal, das im Hirn registriert wird.


    Das weiß ich nicht - ob das im Hirn registriert wird.


    diamant:
    Zitat

    kommt man auch zu der Identität von emotionaler Pein und physischer Pein


    Ich wünsche dir wirklich mal eine handfeste Migräne, die - wie bei mir - von der Wetterlage abhängig ist. Damit dir diese Flausen ausgetrieben werden. Ich muss sogar meine emotionalen und körperlichen Hochs (z. B. Orgasmen) den rein physischen Fakten unterordnen. Mir scheint, auch du hegst die stille Hoffnung, durch Zazen den Schmerz ausrotten zu können. Weil du eben meinst, emotionale und körperliche Schmerzen seien identisch - und man ja davon ausgeht, dass man durch buddhistische Praxis die Emotionen glättet.


    Hm. Das sind jetzt zwei verschiedene Themen. Thema eins: Schmerz. Selbstverständlich meine ich nicht, dass man mit dem Sitzen alle Schmerzen ausrotten könne. Aber man kann lernen, sehr deutlich zu sehen, wo man selbst zum Entstehen und Fortbestehen eines Schmerzes beiträgt, und wo nicht. Und es ist interessant und überraschend zu sehen, wie oft und in welchem Maß man selbst zum Entstehen und Fortbestehen von Schmerzen beiträgt.


    Thema zwei: Emotionen setzen sich zusammen aus Gedanken einerseits und einer physischen Komponente andererseits. Auf die letztere kann man sich konzentrieren. Wenn die physische Komponente der Emotion vergeht, vergeht auch die Emotion. Das meine ich nicht nur - das ist so. Das habe ich (leider) oft genug geübt, und zwar im Alltag.


    diamant:
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    was betrachtet denn da den Geist? Betrachtet etwa der Geist den Geist?

    Natürlich, was denn sonst? Das Hirn von Person X macht sich Gedanken über sich und die Welt und betrachtet, registriert Schmerz, Erleichterung, Gedankenruhe. Es läuft alles im Hirn zusammen, also im Geist.


    Wo das Betrachten lokalisiert ist und was es ist, weiß ich nicht, aber es ist nicht in den Gedanken und es besteht nicht aus Gedanken.


    Zu der Huineng vs. Dogen-Diskussion kann ich nichts sagen.

    Ich sehe auch keinen Grund, einzugreifen.


    Ganz im Gegenteil. Es ist doch interessant, zu sehen, wie unterschiedliche Leute die Praxis unterschiedlich auffassen und erfahren. Welche unterschiedlichen Zugänge und Übungsweisen es gibt.


    Vor einem Jahr ungefähr, als ich das erste Mal auf die Transformation stieß und dann anfing auf der Straße immer mehr Leute zu sehen, die still vor sich hinleiden, ohne zu wissen warum und wie ihr Leiden zustande kommt und wie sie damit umgehen können, bekam ich das dringende Bedürfnis, einen totalitären Staat zu errichten, in dem Zazen mindestens zehn Jahre lang als Pflichtfach in der Schule unterrichtet wird. :D


    Aber so läuft das eben nicht.


    Dass die Geisteswirklichkeiten der Menschen absolut unterschiedlich sein können, war mir klar, seit ich mich im Studium ein bisschen mit Kommunikations-, Erkenntnis- und Entwicklungstheorien beschäftigt hatte (nicht, dass ich da irgendwie Expertin wäre). Dass sich aber auch die Körperwirklichkeiten der Menschen so krass unterscheiden, dass scheinbar naturgesetzliches Geschehen nicht mal in Ansätzen kommunizierbar ist, das ist für mich neu und überraschend.


    Man sollte ja denken: Körper = Physik = reagiert gemäß Naturgesetzlichkeiten = immer gleich, wiederholbar = empirisch fundierte Erfahrung (vs. Konstruktion/Interpretation) = intersubjektiv einwandfrei kommunizierbar.


    Scheint aber ja doch so zu sein, dass man den Körper nur durch den Geist vermittelt "erfährt". Und dass auch Erfahrung immer Konstruktion ist. Ich kann darüber halt leider nichts Zuverlässiges sagen, weil mir "Geist" noch nicht klar ist (ich klebe beim Sitzen nach wie vor am Körper).

    Tai:

    bel, Jojo ...: Wie sieht's bezüglich der "geistigen Haltung" im Alltag denn laut Soto-Schulen aus? So was wie: Nur sitzen, nur arbeiten, nur essen etc?


    Keine Ahnung, was die offizielle Soto-Doktrin angeht, muss ich komplett passen.
    Ich wurstel mich so durch.

    Sôhei:

    Hmm, sorry, aber da bin ich definitv anderer Ansicht. Hier entsteht bei mir der Eindruck, dass du das Sitzen zu einer Art Körperarbeit hochstilisieren tust. Sitzen im Seiza oder Lotossitz ist natürlich eine körperliche Arbeit; aber es gibt m.M.n. viele bessere Methoden, um mit dem Körper zu arbeiten. Rein körperlich würde ich behaupten, gibt bloßes Sitzen wirklich nicht so viel her. (Und ich kenne wirklich viele Körpermethoden, praktisch und theoretisch.)


    Hm, kann natürlich sein, dass ich die wirklich effektiven Methoden einfach nicht kenne.


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    Auch erscheint mir deine Unterscheidung zwischen Gedanken und sensorischer Ebene doch problematisch. So als ob es ein unmittelbares sensorisches Bewusstsein gäbe, unabhängig oder frei vom Geist/den Gedanken im Kopf. Ich würde jetzt mal eher vermuten, dass auch wenn du dich ganz in deinem zwickenden Knie oder wo immer fühlst: es sind trotzdem deine Gedanken vom Knie und wie es zwickt.


    Ja, kann sein, dass ich einfach noch nicht klar genug sehe.


    Zitat

    Schließlich schreibst du:

    Jojo:

    Wenn man das lange und sorgfältig genug übt, kommt man auch zu der Identität von emotionaler Pein und physischer Pein, und schließlich zu der Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Gedanken und Körper.


    Das knüpft ja jetzt doch wieder an das an, was ich im anderen Thread hinterfragt hatte, die Sache mit der "Anstrenung an der Basis körperlicher Schmerzen". Für das Sitzen, vielleicht; aber ich glaube nicht mal da ausschließlich. Und wie gefragt: wo ist die Anstrengung deinerseits, wenn die eine Kastanie auf den Kopf fällt, wenn du Kopfweh hast, wenn du vielleicht eine Erkrankung mit Schmerzen hast etc.?


    Du willst darauf hinaus, dass es Schmerzen gibt, die einem (ohne eigenes Zutun) zugefügt werden? Na klar.


    Ich muss zugeben, dass ich meine jeweils letzte Entdeckung in der Regel für die Wahrheit halte. Langsam komme ich dahinter, dass auf jede neue Entdeckung irgendwann eine noch neuere Entdeckung folgt, aber so richtig eingesickert ist das noch nicht…

    Sôhei:

    Was nunmal nichts anderes heißt, als dass es viele Wege gibt. (...) Alles kann funktionieren, und umgekehrt funktioniert weder das eine noch das andere automatisch.


    Absolut. Und leider, sonst wäre es schön einfach... :( Wie genau praktizierst du eigentlich?

    Das hat mir doch keine Ruhe gelassen. Vorsicht, echt lang (ich hab gerade Ferien).


    diamant:

    Der Körper begibt sich nämlich nach meiner Beobachtung weltweit, wo die Leute sich hinsetzen, bevorzugt in eine entspannte Haltung (...) Aus diesem Grund kann einer auch länger im Sessel sitzen als im Zazen.


    Ist das so? Hast du mal 40 Minuten bewegungslos im Sessel gesessen, ohne deine Position zu verändern?


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    Ich danke Dir für Deine ausführliche Beschreibung. Denke jedoch, dass du einem Irrtum aufsitzt, was andere Übende angeht. Auch die Leute, die seit 30 Jahren Zazen machen, erleben dabei körperliche Pein. Selbst die ernannten Meister oder "Erwachten". Die lässt nur nach, weil sie sich eben an diese Form der Haltung gewöhnen und gleichzeitig ihre Duldsamkeit erhöhen. Der Leiter von Eisenbuch musste sich, wie man mir vor Jahren sagte, einer Knieoperation unterziehen. Wie krummbuckelig der uralte Abt des Eiheiji aussah, habe ich ja schon mal schmunzelnd kommentiert.


    Ja, ich denke, dass viele Japaner (und ihre westlichen Schüler) beim Zazen rücksichtslos mit ihrem Körper umgehen. Da hat die Kultur die Übung überformt. Ich selbst musste eine Zeit lang ziemlich offensiv meine Übungsweise gegen einen Lehrer verteidigen, der aus der Soto-Tradition kommt, und in dessen Sangha ich seit Jahren sitze (ich habe bei ihm angefangen, und ein Wechsel lohnt sich nicht, andere - für mich geographisch erreichbare - Lehrer sind auch nicht anders). Das ging so weit, dass ich dem Kyosaku-Mann androhte, aufzuspringen und ihm eine runterzuhauen, wenn er bei seiner Runde noch mal versucht, mich zu "korrigieren". Danach haben sie mich bei den Übungsperioden in Ruhe gelassen.


    Inzwischen, zwei Jahre später, spricht dieser Lehrer selber davon, dass man den Körper nicht in die Haltung hineinzwingen darf, dass sie sich entwickeln muss. Aber er benutzt immer noch ein aggressives, aktionsorientiertes Vokabular (drücken, pressen, stoßen), das für Anfänger vollkommen falsche Signale setzt. Ich ignoriere das.


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    Natürlich kenne ich diese Augenblicke, wo der "Sitzschmerz" völlig überraschend mittendrin abfällt. Das ist in der Tat erstaunlich.


    Wenn es erstaunlich und überraschend bleibt, hast du noch nicht durchschaut, wie der Schmerz entsteht, und was die Basis für die Veränderung schafft. Wenn du DAS durchschaust, kommst du weiter.


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    Den Unterschied zwischen "Körper durcharbeiten" und "Betrachten des Geistes" kann ich so nicht unterschreiben. Wenn ich Schmerzen beim Zazen habe, tauchen die doch auch im Geiste auf, ansonsten gibt es auch nichts durchzuarbeiten.


    Ein sehr guter Chan-Lehrer, der leider in den USA lebt und dessen Retreats ich daher nicht besuchen kann, hat mir mal was bestätigt, worauf ich durch Zufall und intuitiv gekommen bin, und DAS ist meiner Meinung nach entscheidend: das allererste, womit du übst, ist der Körper. NICHT mit den Gedanken, die zum Körpergeschehen entstehen.


    Die Schmerzen selbst tauchen also nicht im Geist auf, sondern im Geist tauchen Gedanken zu diesen Schmerzen auf. Das ist etwas völlig anderes als die Schmerzen selbst. Diese Unterscheidung ist die absolute Grundlage für eine richtige Praxis.


    Was geschehen muss, ist: Die Aufmerksamkeit bleibt auf der sensorischen Ebene, der Fokus bleibt strikt bei den sensorischen Ereignissen ("sensate level, visceral phenomena"). Gedanken dazu sind natürlich da, sie brabbeln im Hintergrund und man braucht sich nicht mit ihnen zu beschäftigen - außer aufzupassen, dass sie nicht diie Oberhand übernehmen. Sie KÖNNEN nicht aufhören. Erst wenn der Körper zur Ruhe gekommen und vollkommen entspannt ist, kommen auch die Gedanken zur Ruhe - und das kann lange dauern.


    Bis dahin gilt: Die Gedanken zu betrachten, auch wenn es Kommentargedanken zum Körpergeschehen sind, heißt, NICHT mit voller Aufmerksamkeit beim Körper zu sein. Und das führt dazu, dass man seine körperlichen Probleme nicht vollständig wahrnimmt, und nicht angemessen damit umgeht. Und das wiederum führt im schlechtesten Fall zu gewaltsamem Sitzen mit daraus folgenden Verletzungen, und im besten Fall dazu, dass man seine Sitzperioden auf eine so kurze Dauer beschränkt, dass nichts kaputt geht.


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    Wer sich deshalb in Zazen setzt, schafft also physische Pein, wo gar keine sein müsste, und behauptet, sie würde prophylaktisch anderer Pein vorbeugen. Dann ist Zazen tatsächlich ein "um ... zu", eine Art Physiotherapie. Die aber sicher zu den schlechteren gehört, weil sie an anderer Stelle den Körper wie gesagt auch belastet.


    Wer sich in Zazen setzt und richtig übt (und das herauszufinden ist zugegebenermaßen nicht einfach), schafft keine physische Pein, sondern macht bereits existierende psychophysische Pein wie unter einem Vergrößerungsglas sichtbar, bevor sie sich z.B. im Alltag z.B. als körperliche Einschränkung manifestieren kann. Er hört auf, jedem Pipi auszuweichen, und das führt auf Dauer zu überraschenden Veränderungen.


    Wenn man das lange und sorgfältig genug übt, kommt man auch zu der Identität von emotionaler Pein und physischer Pein, und schließlich zu der Ursache-Wirkungs-Beziehung zwischen Gedanken und Körper. Und das geht über Physiotherapie weit hinaus. Wahrscheinlich geht´s da noch weiter, aber davon habe ich im Moment noch keine Ahnung.


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    Die eigentliche Zenübung in deinem Sinne, also das Betrachten des Geistes, kommt erst, wenn der Körper im Wesentlichen durchgearbeitet ("durchschaut, durchfühlt") ist.


    Dieser Satz bietet mir die Gelegenheit, mein Verständnis oder meine Erfahrung zusammenzufassen. Zazen ist eine gute Sache. Meditation an sich ist empfehlenswert. Aber ich glaube fest, dass unser Körper uns wesentlich beschränkt und bestimmt, inclusive natürlich unseres Gehirns. Wir können da machen, was wir wollen, es wird der Körper sein, der unser Leben beendet, nicht der Geist. Deshalb ist das Betrachten des Geistes - abgesehen davon, dass es eine Hirnübung ist - nicht wesentlich von einer Körperübung abhängig.


    Ja. Und nein. Richtig, unser Körper beschränkt und bestimmt uns. Und genau deshalb ist das Betrachten des Geistes zu 100% vom Körper abhängig.


    Zum Einen sind wir uns in der Regel nicht dessen bewusst, wie stark unser Körperzustand unser Denken - sei es begrifflich oder sonstwie - determiniert. Beispiel: Dieselbe Situation wird für uns völlig unterschiedliche Bedeutung haben, je nachdem ob wir entspannt oder verspannt sind. Wenn wir verspannt sind, ohne das zu merken (was die Norm ist), entsteht daraus in der Regel Fehlwahrnehmung, Fehlbeurteilung, und auf Dauer ein unangemessenes Weltbild, ein Set von unangemessenen Handlungsmustern. Solange das nicht übermäßig dysfunktional ist, fällt uns das überhaupt nicht auf. Wir halten das für normal, und nennen es Charakter oder Persönlichkeit.


    Dies vollständig zu durchschauen ist einer der wichtigsten Zwecke der Übung. Und das kann Jahre und Jahrzehnte dauern. Dass man diese Übung (in vitro) auch in komplexere Situationen (in vivo) übertragen will und soll, ist irgendwie klar. Wenn man mit der in-vitro-Übung aber zu früh aufhört, macht man sich was vor. Die interessante Frage ist nun: wann ist zu früh?


    Zum Zweiten: was betrachtet denn da den Geist? Betrachtet etwa der Geist den Geist? Wenn du das denkst, dann denkst du nur, du betrachtest - in Wirklichkeit denkst du aber. Denn das wäre nur ein Aneinanderreihen von Gedanken: Gedanke A, darauf folgt Betrachtungsgedanke A1, darauf folgt Gedanke B, darauf folgt Betrachtungsgedanke B1 und so weiter. Diese Art von "Betrachtung" bringt überhaupt nichts - sie ist einfach Fortsetzen des Denkens mit anderem Inhalt.


    Dazu muss ich nicht Buddhist werden, das machen die Christen auch, und jeder Atheist, der einem humanistischen Ideal folgt. Also, was ist Betrachten, und was ist es, das da betrachtet? Kommt das Betrachten aus dem Körper? Wenn ich mir diese Fragen stelle, will ich automatisch Körper und Geist in eine ruhige, möglichst unkomplexe Situation bringen - einfach damit ich genauer sehen kann, was da vor sich geht.


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    Was Huineng also lehrte, ist für mich, dass es keines "formalisierten Körpers" bedarf, diesen Geist zu üben. Wenn der Körper bei Huineng eine Rolle spielt, dann als im Alltag "tätiger" Geist, also indem er das umsetzt, was der Geist erkannt hat oder was ein Loslassen der anhaftenden Gedanken widerspiegelt.


    Es wäre interessant zu sehen, ob Huineng wirklich eine solche Körper-Geist-Beziehung postuliert, wie du sie hier darlegst, nämlich dass der Körper ein Vehikel für den darin wohnenden Geist ist. Was ja eher ein Descarte´sches Modell ist - richtig (Schulwissen :()?


    Mein Fazit bleibt also: Nach allem, was ich aus Eurer Diskussion verstanden habe, postuliert Huineng lediglich, dass eine formalisierte Praxis ohne rechte Aufmerksamkeit zwecklos ist, und dass sich die Praxis nicht auf die formalisierte Praxis beschränkt.

    Ach, und um zurück zu kommen auf Huineng: Ich hab ihn nicht gelesen, und schon gar nicht im Original. Aber aus den Zitaten, die hier angeführt werden, kann ich nicht sehen, dass er das Sitzen verdammt, nur das Sitzen ohne Aufmerksamkeit, und die Beschränkung der Übung auf das Sitzen. Und das bestreitet doch niemand. Verstehe also nicht, worum es geht.

    Sôhei:

    Und noch was: Ich behaupte, niemand sitzt wirklich unbewegt. Es sei denn er ist tot, aber dann fällt er um oder ist festgeschnallt. Ansonsten bewegt sich schon mal der Bauch bei der Atmung, und es bewegt sich das Herz und das Blut etc. Letztlich wird der ganze Körper ständig durch Mikrobewegungen ausgeglichen und stabilisiert. Mit unbewegt sitzen ist da nichts.


    Selbstverständlich :D
    ich seh schon, da ist so viel Missverstehen, dass ich gar nicht erst anfangen will, das aufzudröseln. Aber jeder muss halt von seiner Situation ausgehen.


    Ich kann schon verstehen, dass man dem Ganzen einen religiösen Touch gegeben hat (sit down and shut up).


    Letztlich geht es beim Sitzen wohl um das, was Doris zusammengefasst hat. Man kann auch Nur-Stehen üben, oder Nur-Liegen. Entscheidend ist, dass man für eine gewisse Zeit aufhört, das zu tun, was ich "ausweichen" nenne. Dann passiert das, was ich den Aquarium-Effekt nenne: Wenn ein paar Fische in einem großen Ozean herumschwimmen, bemerkt man sie wahrscheinlich nicht. Wenn dieselben Fische in einem Aquarium herumschwimmen, bemerkt man sie sehr gut. In unbewegtem Zustand funktionieren die Körpergrenzen wie die Wände eines Aquariums. Man bemerkt die inneren Impulse sehr viel deutlicher, und dann kann man halt damit "arbeiten", bzw. eben nicht "arbeiten", sondern jede Aktivität zu einem Ende kommen lassen, bis das Aquarium leer ist. Bei mir ist die Aktivität halt "den Körper aufrecht halten", bei anderen, die schon weiter sind, ist die Aktivität "fühlen", oder "denken"; vielleicht ist auch "bewusst sein" eine Aktivität - ich weiß es (noch) nicht.


    Ich übe an der Supermarktkasse gerne "Nur-Stehen". Beide Füße parallel auf den Boden stellen, den Körper entspannen, und fünf Minuten lang "nicht ausweichen": nicht Standbein und Spielbein wechseln, das Becken nicht verlagern, Arme entspannt hängen lassen. Dann das Körpergewicht in den Boden sinken lassen, die Schwerkraft aus dem Boden in den Körper aufsteigen lassen (wie weit kommt sie? bei einem verspannten Körper wahrscheinlich nur bis zu den Knien, vielleicht bis zum Becken, bei einem entspannten Körper bis zur Schädeldecke), den Atem betrachten (bleibt er im Oberkörper oder geht er bis zum Unterbauch? Fließt er frei oder hängt er irgendwo fest?)... Das macht garantiert nicht die Knie kaputt, und trotzdem wird man sehr schnell merken, wo die Hindernisse sind.

    diamant:

    So. Was übst du denn dabei? Sitzen?


    Ja, unter anderem. "Einfach" sitzen.


    Geh in ein beliebiges Zendo und du siehst, dass die Leute nicht richtig sitzen (können) (mich eingeschlossen). Der Körper ist nicht im Gleichgewicht, kann sich nicht entspannt und frei aufrichten.


    Jahrelanges Ignorieren der automatischen Vermeidungshaltungen führt zu chronischen Verspannungen, die wachsen sich zu Fehlhaltungen aus, und die manifestieren sich nach zwanzig, dreißig Jahren als "Krankheiten". Rückenschmerzen, Depressionen, alles Mögliche.


    Manchen Leuten hilft schon regelmäßiger Sport, regelmäßiger Sex ist auch gut, andere nehmen Yoga. Mir hilft nichts davon, aber das lange, unbewegte Sitzen hat geholfen. Wie ein Mega-Vergrößerungsglas fördert es unbemerkte Spannungen zutage, und zwingt auch die unzugänglichsten Muskeln, sich (spätestens durch Erschöpfung) zu lösen.


    Da Körper und Geist eins sind, wirken sich das direkt auf den Geist aus. Man wird relaxter, hat weniger Aggressionen, und ist handlungsfähiger. Und der Sex (ich erwähne das, weil es dir so wichtig ist) wird auch deutlich besser.


    Wenn du das Sitzen so nicht (bewusst) erlebt hast, heißt das nichts. Bei Leuten, die grundentspannt genug sind, bleibt das unterhalb der Wahrnehmungsschwelle, andere Leute üben falsch (versuchen, eine soldatische Haltung einzunehmen und zu bewahren, statt ihren Körper kennenzulernen, SO WIE ER IST) und geben das Sitzen dann irgendwann auf ("wird mir zu anstrengend", "ups, Knie kaputt"). Wieder andere üben nur so kurze Einheiten, dass sie nicht an ihre (muskulär gehaltenen) Grenzen kommen.


    Andere achten nicht auf den Körper, weil sie die Aufmerksamkeit auf ihren Atem verengen, oder sich damit beschäftigen, ihre Gedanken "abzuschneiden". Der Körper arbeitet sich dennoch durch die Verspannungen durch, und irgendwann erfahren die Leute "ein großes Loslassen" und interpretieren das als eine Veränderung im Geist. Ich hatte dieses Glück nicht. Ich hatte extreme Verspannungen, und konnte diese Vorgänge deshalb detailliert beobachten.


    Deshalb funktioniert Zazen am besten bei jungen Leuten zwischen zwanzig und dreißig. Da sind schon Vermeidungshaltungen da, aber sie sind noch nicht so eingefressen wie bei Älteren (bei mir zum Beispiel).


    Das alles setzt natürlich voraus, dass kein wirkliches medizinisches Problem vorliegt.


    Die eigentliche Zenübung in deinem Sinne, also das Betrachten des Geistes, kommt erst, wenn der Körper im Wesentlichen durchgearbeitet ("durchschaut, durchfühlt") ist. Ich persönlich bin aber der Ansicht, auch die Körperbetrachtung ist schon "richtiges" Zen.


    Ich kann mir im Moment noch nicht vorstellen, dass man tatsächlich irgendwann mal einen Wendepunkt erreicht, nach dem das Sitzen unnötig wird, zum Ballast. Denn das Leben bringt ja ständig neue Situationen, und der Körper hat seine Vermeidungshaltungen automatisiert, so dass man das jeden Tag neu "bereinigen" muss. Andererseits scheint es ja verbrieft zu sein, dass irgendwann ein solcher Wendepunkt kommt (es gibt keinen Spiegel...). Ich würde mich freuen, wenn das der Fall wäre. Bis dahin poliere ich täglich meinen Spiegel, sozusagen; sitze täglich, und mein alltägliches Leben hat - unzweifelhaft als Resultat davon - inzwischen eine Qualität, die ich mir vor zwei Jahren nicht hätte vorstellen können.


    Zitat
    Zitat

    Drama, Baby, Drama!


    Ich werd dich dran erinnern, wenn sich wieder mal jemand darüber beschwert, dass hier zu viel Englisch steht.


    Komm, werd nicht albern :D

    diamant:

    Zen hat verschiedene Ausdrucksformen angenommen, und man muss begreifen, dass das Sitzen nur eine von vielen war.


    Das Sitzen ist keine Ausdrucksform, sondern eine Übungsform.
    Und du brauchst sie nicht.
    Na gut, warum nicht?
    Und andere brauchen sie.
    Warum nicht?



    Drama, Baby, Drama! https://www.youtube.com/watch?v=y8Qru3cu4vw