Beiträge von Karnataka im Thema „Dalai Lama und Einfluss der Wissenschaften“

    kilaya:
    Karnataka:

    Heute allerdings stellt die chinesische Bevölkerung die Mehrheit in Tibet.


    Der Korrektheit halber:


    Code
    Ethnische Gliederung (Quelle: Wikipedia)
    
    
    Name des Volkes         Einwohner       Anteil
    Tibeter                 2.427.168       92,77 %
    Han                       158.570        6,06 %
    Hui                         9.031        0,35 %
    Monba                       8.481        0,32 %
    usw. ...


    Danke, kilaya! :)
    Irgendwann möchte ich nachlesen, was der DL in seiner Autobiographie zur Sache Tibets schreibt.

    jianwang:

    Für mich ist an diesem Mönch "problematisch", das er sich (für mich) zu aktiv ins Politische einmischt. Aber z.B. zu Myanmar ist kaum Etwas zu lesen/hören.


    _()_



    Der DL war über Jahrzehnte das politische Oberhaupt der tibetischen Exilregierung. Er selbst sieht sich in drei Rollen: als Mensch, als buddhistischer Mönch und drittens als Dalai Lama.


    Er schreibt: Meine erste Aufgabe im Leben – als Mensch – besteht in der Förderung der Menschlichkeit und der Herzensbildung, also der Schlüsselelemente für ein glückliches Leben des Einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft.
    Meine zweite Aufgabe – in meinem Leben als buddhistischer Mönch – besteht in der Förderung der Harmonie zwischen den Religionen.
    Meine dritte Aufgabe – in meinem Leben als Dalai Lama – ist die Sache Tibets, die mir ganz speziell am Herzen liegt.


    Dass sich der DL zu Myanmar ausschweigen würde, stimmt ganz und gar nicht. Kaum ein Interview, wo dies nicht zur Sprache kommt.


    OT: Die Sache scheint mir jedoch besonders heikel. Es dürfte nicht zuletzt dem Einfluss des DL zu danken sein, dass die Menschen in Tibet gegenüber den chinesischen Zuwanderern kaum zur Gewalt griffen, was ein sinnloses Blutvergießen bedeutet hätte. Heute allerdings stellt die chinesische Bevölkerung die Mehrheit in Tibet.


    Die Situation in Myanmar zeigt eine gewisse Ähnlichkeit, fürchte ich. Die Bevölkerungsdichte in Bangladesch liegt bei 1071 Menschen pro Quadratkilometer, es ist vermutlich das am dichtesten besiedelte Land der Erde. Die Bevölkerungsdichte im benachbarten Myanmar beträgt 76 Menschen pro Quadratkilometer, der Hass dort richtet sich gegen eine als bengalisch verstandene Ethnie.


    Der Konflikt in Myanmar ist nicht neu, sondern wurde Jahrzehntelang unter einer Militärdiktatur niedergehalten, die den Schutz Chinas besaß. Nach einer zugegeben simplen These wäre sonst die Situation Millionen junger Männer ohne Perspektive in Bangladesch schlicht der Grund für einen langanhaltenden blutigen Konflikt um Land geworden, vermute ich.


    Bangladesch und China haben ihre Geburtenraten drastisch gesenkt.

    Lucy:

    Hallo Karnataka,


    Das stimmt, aber Methoden finden sich überall für den, der bereit ist.


    ....Was lehrt denn dl zum Umgang mit Emotionen?


    Hallo Lucy :rose:


    der DL nennt drei Ratschläge für die schwierige Aufgabe, den negativen Tendenzen im eigenen Gefühlsleben zu begegnen.


    • Einmal geht es darum, positive Eigenschaften zu verstärken. Mehr Geduld wirkt als Mittel gegen den Hang zum Zorn. Zufriedenheit wirkt gegen die Neigung zum Neid. Güte gegenüber Hass, tieferes Verständnis bei übertriebenem Zweifel und Kritiksucht.


    • Zweitens sollen wir nicht jeweils den äußeren Umständen und anderen die Schuld zuschreiben. Einerseits stimme es natürlich, dass wir auf äußere Ereignisse reagieren. Doch genauso haben unsere Reaktionen immer ganz wesentlich mit uns selbst zu tun. Weitgehend bestimmen also unsere eigene Perspektive, unsere innere Einstellung und unsere emotionalen Gewohnheiten darüber, wie wir reagieren. Ob diese Reaktionen nun übertrieben und damit realitätsfern sind, könnten wir nur feststellen, wenn wir nicht immer und überall den anderen oder den Umständen die Schuld geben.


    • Der dritte Rat des Dalai Lama lautet, uns die grundsätzliche Natur der Wirklichkeit bewusst zu machen. Wir sollten eine Toleranz gegenüber problematischen Situationen und Ereignissen entwickeln. Denn es wäre eine Illusion zu denken, wir könnten einen bleibenden Zustand vorfinden oder schaffen, der keinerlei Anlass zur Frustration bereithalten würde.

    Doris Rasevic-Benz:
    Zitat

    Ängste projektiver Art, also spezielle Ängste, große soziale Ängste und panische Furcht sind jedoch ein anderes Thema. Hier stellt sich die Frage, ob kognitive Wege oder rationale buddhistische Psychologie (soweit ich sie aufgrund der Werke des DL kenne) wirklich Hilfe bringen können.


    Meiner Erfahrung nach: ja.


    Soweit ich es beurteilen kann, gibt es eine Form der irrationalen Angst, die wenig kompliziert ist. Als Beispiel fällt mir eine äußerst stürmische Schifffahrt vor Jahrzehnten ein. Ich musste kotzen und fühlte mich erbärmlich. Als ich endlich wieder an Land kriechen durfte, hatte ich eine neue Angst „gelernt“. Jahre später kam ein Urlaub, wo ich erneut auf See ging. Diesmal gab es eine positive Erfahrung, die See war ruhig und ich fühlte mich wohl. So einfach erfolgte die Löschung des irrationalen Teils meiner Angst.


    Die Verhaltenstherapie spricht von Konfrontation. Eine gezielte Konfrontation soll das Löschen der Furchterfahrung ermöglichen, sofern es sich um unbegründete Angst und Furcht handelt.


    Die vom DL geschätzte kognitive Therapie mit ihren vernünftigen Überlegungen behandelt den Zusammenhang von Sorge und Angst. Denn pessimistische Grundannahmen können die Bereitschaft, Angst zu entwickeln, verstärken.


    Hier sehe ich ebenso den Nutzen der Geistesschulung, die der DL vertritt. Denn solche Grundannahmen stehen sicher auch in Verbindung mit der jeweiligen Stimmung. Besonders ergibt sich aus der Schulung des Geistes das Vermögen, bewussten Einfluss auf sich selbst zu gewinnen.


    Es gibt aber auch eine sehr tiefliegende Bereitschaft zur irrationalen Angst, die vielleicht schon in der kindlichen Entwicklung angelegt wurde. Denken wir an das „innere Bild“ eines gewalttätigen Vaters. Die Behandlung solcher Übertragungsängste scheint mir äußerst schwierig. Ich weiß nicht, ob die genannten Methoden – Konfrontation, vernünftige Überlegungen, Schulung des Geistes – dafür ausreichen.


    Auch das (vermeintliche) Wissen um die eigene Sterblichkeit scheint mir eine belastete Grundhaltung zu fördern. Bekanntlich bieten die Religionen Antworten an.

    Lucy:

    Ich finde, wenn HHDL eine solche Ethik auf beobachtbares und Evolution gründet, tut er den Menschen im Westen einen großen Dienst.
    Er bietet einen niedrigschwelligen und leicht verstehbaren Einstieg in gutes Verhalten.


    Wer dann bemerkt, dass es eben nicht unbedingt so einfach ist, sich gut zu verhalten, der findet genug Methoden um sich anzunähern.


    Neben der Frage der Motivation spielt sicher auch der Umgang mit dem eigenen destruktiven Gefühlen eine Rolle. Zur Behandlung destruktiver Affekte, Gefühle, Stimmungen aus Sicht der Ethik des DL:


    Der DL ist sich sehr bewusst, wie schwierig die Aufgabe ist, den eigenen destruktiven Gefühlen zu begegnen. Seine Ratschläge ähneln ihrem Wesen nach der Kognitiven Verhaltenstherapie. Über einen Begründer der Kognitiven Verhaltenstherapie, Aaron Beck, schreibt der DL: Als wir uns trafen, war Aaron Beck Anfang achtzig. Ich fand es ausgesprochen interessant, wie nah viele seiner Beobachtungen den Erkenntnissen der klassischen buddhistischen Psychologie kamen.


    Aaron Beck entwickelte die Kognitive Therapie ursprünglich zur Behandlung von Depressionen. Er spricht von allgemeinen Überzeugungen (zum Beispiel: Nichts gelingt mir, mein Leben ist sinnlos, ich werde auch in Zukunft unglücklich sein…), die dazu führen, dass belastende Situationen schnell dramatisiert werden. Es kommt zu kognitiven Verzerrungen und Fehlinterpretationen. Solch vermeintliche Katastrophen werden wieder als Bestätigung der skeptischen Grundannahmen gewertet, es entsteht eine kognitive Negativspirale.


    Eine kritische Anmerkung: Den häufigsten Grund, weshalb Therapeuten konsultiert werden, bilden angeblich Angststörungen. Meditation von Mitgefühl/Liebender Güte bietet sich aus meiner Sicht als ausgezeichneter Weg, um der übertriebenen Sorge (und vielen anderen Problemen) zu begegnen. Ängste projektiver Art, also spezielle Ängste, große soziale Ängste und panische Furcht sind jedoch ein anderes Thema. Hier stellt sich die Frage, ob kognitive Wege oder rationale buddhistische Psychologie (soweit ich sie aufgrund der Werke des DL kenne) wirklich Hilfe bringen können.

    fotost:

    Bei mir geht das etwas weiter. Was, wenn in 5 Jahren reproduzierbar, mit einer wissenschaftlichen Ansprüchen genügenden Theorie über Wirkzusammenhänge feststeht, daß Meditation, daß Sitzen, daß Achtsamkeitsübungen wirklich wirken (wovon ich ausgehe), aber gleichzeitig auf gleichem Niveau festgestellt wird, daß leichtes Joggen oder Gesellschaftsspiele oder (ganz schlimm) 10 Tabletten über 2 Monate eingenommen deutlich bessere Ergebnisse bringt?


    Aus säkularer Sicht finde ich deine Frage berechtigt. Welche Aktivität passt gerade? Wenn es darum geht, Priorität zu setzen, dann ist der Nutzen von etwas Sport für das eigene Wohlbefinden sehr groß. Unter Umständen sind die sozialen Kontakte und das Gemeinschaftserleben, das durch Chorsingen entsteht, sehr befriedigend. Vielleicht passt die Meditation ideal, wenn es um Trauerarbeit geht, Achtsamkeitsübungen helfen, mit zornigen Impulsen klar zu kommen, Gesellschaftsspiele wirken gegenüber Gefühlen der Isolation usw.


    Vermutlich wird die Wissenschaft der Zukunft sehr genau erkennen, welche Gehirnregionen durch welche Tätigkeiten wie intensiv stimuliert werden. Vielleicht werden sie auch Rückschlüsse auf Eigenschaften und Schwächen aufgrund von Hirnvorgängen treffen können.

    fotost:


    Was mir zum Thema noch einfällt wäre die Frage nach intensiven 'Wirksamkeitsstudien' zu einzelnen Momenten der Praxis.
    Welche Kriterien für 'Wirksamkeit' gibt es innerhalb der Lehre? Wie wird diese Wirksamkeit gegen vergleichbare Wirkungen vollkommen fremder (dem System Buddhismus fremd) Methoden, Anwendungen, you name it bewertet?
    Könnte sich hier ein Schutz gegen 'Dünkel' verstecken?


    Die Frage nach Wissenschaftlichkeit im Sinne der Ethik des DL meint, ob die praktische Methode der Geistesschulung (also die Meditation von Liebevollen Güte bzw. Mitgefühl) nachweislich geeignet ist, eine positive Veränderung der Persönlichkeit zu bewirken.


    Der DL schreibt sinngemäß, dass eine solche wissenschaftliche Bestätigung wichtig sei, um die Methode der Geistesschulung im Schulsystem zu verankern. An anderer Stelle meint er sinngemäß sogar, dass ihre Wirkung bis zu einer physischen Veränderung des Gehirns reichen könnte. Dies könne für säkular denkende Menschen etwas mit dem religiösen Begriff der Erleuchtung Vergleichbares bedeuten, schreibt er.
    (Die entsprechenden Textstellen finden sich irgendwo in: Rückkehr zur Menschlichkeit, möglicherweise zitiere ich aber etwas unsauber)


    Einfach gefragt: Können wir unsere emotionalen Instinkte bewusst trainieren und durch ein solches Training einen "besseren" Charakter entwickeln? Verschiedentlich finden sich Hinweise auf solche Studien, etwa die Spendenfreudigkeit betreffend. Dennoch glaube ich, dass ein streng wissenschaftlicher Nachweis vor großen Problemen steht. Meine prinzipielle Skepsis hat mit der enormen Komplexität zu tun und betrifft genauso auch anerkannte therapeutische Methoden, deren Wirksamkeit nicht streng wissenschaftlich prüfbar ist, nehme ich an.


    Zweifellos können wir in einem gewissen Ausmaß lernen, durch Meditation willentlich eine liebevolle Stimmung zu erzeugen, die uns sodann während der folgenden Zeit ein wenig begleiten. Dieser Weg über die Emotion zum Gefühl und zur ausgedehnten Stimmung bedarf wohl keines Beweises. Die Frage nach Wissenschaftlichkeit meint hingegen einen möglichen positiven Einfluss auf unsere persönlichen Eigenschaften, die uns ja über viel längere Zeiträume begleiten.


    Nach meiner Ansicht ist ein Vergleich mit Sport und dessen Wirkung angebracht. Das Training von Liebevoller Güte bzw. Mitgefühl vermag eine instinktive Veranlagung temporär zu verstärken und kann solcherart verblüffend zu unserem geistigen Wohlbefinden beitragen. Auch wenn dies vielleicht eine nur vorübergehende Wirkung wäre, hilft sie dabei, eine unerschütterliche Überzeugung zu entwickeln, worauf es für das eigene Wohlbefinden ankommt. Dieser Zusammenhang von liebevoller Güte und Wohlbefinden mag für manche Menschen ein selbstverständliches Wissen sein, für andere ist er aber doch eine tiefgreifende neue Erfahrung.

    kilaya:

    Ich finde die Exkurse in die "westliche" Ethikrelevant, da der DL sich 1. sehr stark damit befasst und 2. Philosophie eine der Wissenschaften ist, die auf besondere Weise von einem gegenseitigen Austausch profitiert.


    Die Philosophie kann enorm von dieser Ethik profitieren, die, so ist zu vermuten, stark von buddhistische Psychologie geprägt ist. Besonders für einen Religionslehrer sollte es wertvoll sein, Erklärungen für Nächstenliebe und christliche Werte zu finden, die nicht monokausal auf Gott gründen. Ebenso müssten Ethiklehrer leicht einsehen, dass sie mit der modernen Form westlicher Metaethik in der Patsche sitzen und sich hieraus null Gewinn für einen sinnvollen Ethikunterricht ziehen lässt. Der DL präsentiert eine sehr überzeugende Tugendethik (auch wenn der Begriff Tugend überholt erscheint), die eine sinnvolle Begründung bestimmter Werte wie Mitgefühl, Mäßigung, Disziplin usw. enthält und einen meditativen Weg zur praktischen Stärkung der Verbundenheit mit anderen Menschen erklärt.


    kilaya:

    Zygmunt Bauman (ein n) wendet sich gegen einen starren Ethikbegriff, der auf gesellschaftlichen Konventionen basiert. Statt dessen skizziert er einen Moralbegriff, der einen inneren Impuls meint, der aus dem innersten menschlichen "Gutsein" hervorgeht. Er definiert wie so manche Philosophen gebräuchliche Begriffe neu und sehr präzise, daher müsste man sich intensiver damit befassen. Ich wollte das nur anschneiden, weil es im Buddhismus beide Arten von Ethik gibt: die, die auf Regeln basiert, und die, die aus dem inneren Impuls hervorgeht. Was in der Philosophie teilweise als These und Antithese auftritt, findet sich im Buddhismus teilweise als Synthese.


    Der Dalai Lama schreibt: Tatsächlich ist die Dimension der inneren Motivation der wichtigste Aspekt der Ethik. Denn wenn unsere Motivation ehrlich und wahrhaftig auf das Wohl anderer gerichtet ist, wird unser Handeln naturgemäß moralisch einwandfrei sein.
    Die Ethik des DL fußt nicht auf äußeren Regeln. Eine solche Ethik fände ich auch relativ sinnlos. Erstens lesen Menschen, die mehr Zwang von außen benötigen, in der Regel keine Ethikbücher. In einer modernen Gesellschaft unterscheidet sich Ethik zudem vom Recht. Gesetze benötigen keine innere Zustimmung, der Staat kann Menschen notfalls dazu zwingen, sie zu befolgen.

    (Ich würde Ethik zudem von Moral unterscheiden, die mit gesellschaftlicher Achtung und Missachtung zu tun hat. Beispielsweise schenkt man der Frau eines Freundes keine roten Rosen und uriniert nicht an fremde Häuser. Solche Dinge lassen sich schon als moralische Regeln fassen.)

    Ich möchte ein paar Überlegungen zu einem Spezialthema anstellen. Es ist ein Thema, das für viele nicht so interessant ist, fürchte ich. Um die Frage zu untersuchen, welchen Einfluss der DL auf die Ethik nimmt, möchte ich zunächst die Richtungen philosophischer Ethik skizzieren. Dies soll zeigen, in welcher Situation ich diese Ethik in heutiger Zeit sehe und welche Relevanz darum der Ethik des DL zukommt.


    Die deutsche akademische Ethik stand lange unter dem Einfluss Kants und seiner Idee einer reinen Vernunft, welche im Sinne der Aufklärung menschliches Tun bestimmen soll. Dem gegenüber fand sich der englische Utilitarismus. Der englische Utilitarismus setzt ebenso auf die Vernunft, doch ist sein Grundsatz etwas anders als derjenige der Kant Richtung. Was der richtige Grundsatz für vernünftiges Handeln sei, war also lange Zeit ein wichtiges Streitthema philosophischer Ethik.


    Nach meiner Ansicht verfolgen auch modernere Ethiker wie Habermas oder John Rawls diesen Glauben an eine moralische Vernunft und verteidigen ihn gegenüber postmoderner Skepsis an der menschlichen Vernunft, indem sie von der individuellen Vernunft auf die Gruppenvernunft ausweichen. Dennoch ist die postmoderne Kritik an der Idee einer moralischen Vernunft maßgeblich und wirkt sehr überzeugend.


    Daher geriet diese hauptsächliche Auseinandersetzung in den letzten 20 Jahren zunehmend ins Hintertreffen zugunsten von zwei ehemals weniger bedeutenden Richtungen der Ethik, deren Haltung gegenüber der Vernunft wesentlich distanzierter ist.


    Dominant wurde einerseits die Metaethik, die den Anspruch stellt, besonders wissenschaftlich zu sein. Sie hat ihren Ursprung in Positivismus und Wiener Kreis. Der Anspruch der Metaethik ist es, aus einem übergeordneten Blickwinkel philosophische Theorien zu beurteilen. Metaethiker treffen also keine Aussagen darüber, wie Menschen leben und entscheiden sollen, sondern systematisieren vorhandene Philosophien (etwa Kant und Utilitarismus) unter dem wissenschaftlichen Anspruch, dies wertfrei zu tun.


    In gewisser Hinsicht verabschiedet sich die Metaethik also davon, Ethik sein zu wollen. Die kritische Haltung der Metaethik gegenüber der Vernunft der Aufklärung liegt ein bisschen im Verborgenen. Sie besteht in der Überzeugung, dass es gar nicht möglich sei, wissenschaftlich über menschliches Verhalten zu befinden.


    Der zweite Strang kommt von Aristoteles und wird als Tugendethik bezeichnet. Diese Richtung fand über Thomas von Aquin Eingang ins Christentum und wurde zur christlichen Ethik, deren Einfluss auf die philosophische Ethik dann aber mit der Aufklärung verschwand. Akademisch geriet die Tugendethik als religiöse Ethik mit Einsetzen der Aufklärung für den Bereich der Philosophie eher in Vergessenheit.


    Anders als in der Metaethik ist die Ablehnung reiner Vernunft in der christlichen Ethik offenkundig. Denn das Leitbild christlicher Ethik gilt weniger der Vernunft und viel mehr dem Gefühl - also der Nächstenliebe, die menschliches Handeln prägen soll. Philosophen wie Kant wendeten sich noch entschieden gegen das Gefühl als Bestimmungsgrund und misstrauten ihm.


    Betrachten wir diese Entwicklung philosophischer Ethik mit einigem Abstand, zeigt sich Folgendes. Die ehemals ganzheitliche Tugendethik eines Aristoteles, die den menschlichen Charakter und das menschliche Leben in allen Belangen anvisierte, wurde zur christlichen Ethik und erfuhr als solche in der Aufklärung eine deutliche Verengung. Thema, worüber in den folgenden Jahrhunderten philosophisch gestritten wurde, war nunmehr allein und ausschließlich das moralische Urteil.


    Die postmoderne Kritik, dass ein solches Urteil gar nicht möglich sei, weil es gar keine reine und moralische Vernunft gibt, sägte dann der philosophischen Ethik quasi den Ast ab. Die philosophische Ethik wurde zur Metaethik, die "nur mehr" sich selbst und ihre Geschichte und Sprache untersucht, nicht aber menschliches Verhalten.


    Quo vadis, Ethik?


    Mag ja sein, dass der eine oder andere Lehrer noch immer "seinen" Kant usw. referiert, weil sich dies so schön unterrichten lässt. Überzeugen wird er damit kaum. Beachtete Beiträge zum menschlichen Verhalten speisen sich demgegenüber aus Biologie und Evolutionstheorie, Psychoanalyse und Neurowissenschaft, Ökonomie und Politikwissenschaft. (Mag auch sein, dass dies immer schon so war.)


    Genauso gibt es ein eher zeitloses Interesse an christlicher Tugendethik. Dieses steht jedoch in engem Zusammenhang mit dem christlichen Glauben und bezieht seine Argumentation aus dem Glauben. In Kurzform meint diese Argumentation: Gott hat gesagt, dass wir alle lieb sein sollen. (Christliche Ethiker formulieren das natürlich anspruchsvoller.)


    Dabei bestimmt das Christentum den Motivationsgrund für moralisches Handeln aus meiner Sicht völlig richtig: Er liegt im Gefühl, dem Mitgefühl und der Nächstenliebe, und nicht in jener (scheinheiligen) Vernunft, die die Philosophen der Aufklärung erträumten.


    Wenn man die These teilt, dass die Vermittlung von Tugenden gesellschaftlich sinnvoll ist, aus diesem Grund Ethik-Unterricht (etwa für Flüchtlinge) sogar vorschreibt, zeigt sich also aus meiner Sicht
    • eine philosophische Ethik, die dazu nicht in der Lage ist,
    • sowie eine religiöse Ethik, die für anders religiöse Menschen und nichtreligiöse Gesellschaftsgruppen überhaupt nicht nachvollziehbar ist.


    Um eine für eine moderne Gesellschaft sinnvolle Tugendethik zu leisten, braucht es daher zwei Zutaten: Diese Ethik sollte auf den Erkenntnissen echter Wissenschaften beruhen und zweitens sollte sie menschliche Beweggründe wie Empathie, Nächstenliebe, Solidarität usw. in ihr Zentrum stellen.


    Wenn wir nach einer solchen Ethik suchen, dann ist die säkulare Ethik des DL nicht bloß Nischenprodukt. Ganz im Gegenteil würde ich aufgrund der Qualität seiner Werke und der immensen Popularität des DL sogar sagen, dass der DL der Platzhirsch auf diesem Gebiet der Ethik ist, der Aristoteles unserer Zeit. :)


    Ein spannendes Thema! Danke dafür! Ich glaube ja, dass du mehr den asketischen Weg schätzt (der sich bezeichnenderweise als Rezept im lebenslustigen Südasien durchgesetzt hat), wogegen der DL für Mäßigung, aber nicht für Verzicht eintritt. Vielleicht rede ich auch im Folgenden an deiner Frage vorbei...


    Sicher ist die Quantenphysik für den DL im Sinne einer Bestätigung der Metaphysik der Leerheit wichtig.


    Entscheidend scheint mir jedoch die Evolutionstheorie. Nun ist es aber nicht so, dass der DL seine Überzeugung dem Buddhismus überstülpt. Viel mehr hat er sie als säkulare Ethik formuliert. Diese stimmt mit dem Buddhismus überein, insofern Mitgefühl im Zentrum steht. Um Mitgefühl in seiner Bedeutung für unser Menschsein herauszustellen, benutzt der DL jedoch keine religiöse Argumentation, sondern vorrangig eine biologische. Die Entwicklung von Säugetieren, die für ihren Nachwuchs Nähe empfinden und sorgen, über Primaten, die fürsorgliche Eigenschaften zeigen, hin zu altruistischen menschlichen Verhaltensweisen, scheint dem DL eine tiefe Bestätigung zu geben. Im Zentrum seiner Ethik steht die meditative Vertiefung, Intensivierung evolutionär angelegter Empfindungen.


    Buddhismus ist ja keine zentral gesteuerte Religion wie der Katholizismus, wo Synoden Werte neu definieren und Kompromisse suchen. Dennoch scheint mir die Botschaft für den Buddhismus eindeutig, die Evolutionstheorie uneingeschränkt anzuerkennen.


    Die spannende Frage ist jene nach der Bedeutung seiner Ethik für das Weltbild der Menschheit.

    pamokkha:
    Dalai Lama:

    In der Einleitung zu Die Welt in einem einzigen Atom fasst er zusammen:


    (...) Ganz sicher jedoch müssen gewissen Aspekte des buddhistischen Denkens - seine alten kosmologischen Theorien zum Beispiel, aber auch seine unausgereifte Physik - im Lichte zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnisse neu formuliert werden.


    Wird das in dem Buch spezifiziert? Was beinhalten die "alten kosmologischen Theorien"? Ist da nur Berg Meru gemeint oder aber auch die Höllen- und Götterwelten, die Buddhaländer usw. und damit die Verkürzung auf Mensch und Tier?


    Nach meiner Erinnerung wird das in diesem Buch nicht näher ausgeführt. Das Buch handelt viel von Physik. Kapitel 4 titelt: Der Urknall und das anfanglose Universum des Buddhismus...

    In der Einleitung zu Die Welt in einem einzigen Atom fasst er zusammen:


    (...) Welche persönlichen Ansichten der oder die Einzelne im Hinblick auf die Wissenschaft auch hegen mag, kein glaubwürdiges Verständnis der Natur und der Existenz des Menschen (...) kann sich der grundlegenden Einsichten solcher zentralen Theorien wie der Evolutionstheorie, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik entziehen. (...) Ganz sicher jedoch müssen gewissen Aspekte des buddhistischen Denkens - seine alten kosmologischen Theorien zum Beispiel, aber auch seine unausgereifte Physik - im Lichte zeitgenössischer wissenschaftlicher Erkenntnisse neu formuliert werden.