Für eine sachliche Herangehensweise sollte zunächst einmal klar gestellt werden, wovon man eigentlich spricht, wenn man hier von 'Tradition' spricht.
Zunächst einmal gibt es eine Tradition von Körperstrafen, nicht nur in Ostasien, sondern auch im Westen. Wobei diese Tradition zumindest bei uns aus der Rechtspflege und aus dem öffentlichen Erziehungswesen verschwunden ist (genauer gesagt: eindeutig illegal ist). Darüber hinaus gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass Körperstrafen auch im privaten Bereich inakzeptabel sind und auch hier gibt es dann nicht nur Sanktionen in Form gesellschaftlicher Ächtung, sondern auch rechtlicher, wenn etwa Ehepartner oder Kinder geschlagen werden. Das ist "modern" und "liberal" - und auch, wenn ich diese Etikettierungen für wenig aussagekräftig halte, kann ich in dem, was sie hier etikettieren, nichts Negatives sehen. Tradition ist nicht an sich etwas Gutes - es gibt welche, auf die kann man ohne Bedauern verzichtern.
Zu der speziellen Tradition, um die es hier geht, gehört z.B. auch das Züchtigungsrecht, das Äbte buddhistischer Klöster in China gegenüber ihren Mönchen hatten. Das war die traditionelle Art, wie in China in größeren sozialen Gemeinschaften (und die größeren Klöster hatten einige hundert Mönche) Ordnung aufrechterhalten und durchgesetzt wurde. In der Regel dürften die zum geflügelten Wort gewordenen "dreissig Stockschläge" allerdings für etwas nachvollziehbarere Vergehen verhängt worden sein, als das in den alten Geschichten und Präzedenzfällen der Fall ist - wo sie ja dann in der Regel auch gnädig erlassen werden. Im profanen, privaten Bereich fand dies seine Entsprechung (wenn auch nicht, wie in Klöstern, explizit durch Regeln festgelegt) natürlich in der Familie (bei wohlhabenden Familien das Dienstpersonal mit eingeschlossen) und im Bereich beruflicher Ausbildung (Mönch ist schließlich auch nur ein Beruf). Man kann das zusammenfassen als Körperstrafen mit erzieherischer Funktion (oder besser: Intention). Ich hatte dies als "eine nicht hinterfragte kulturelle Normalität" bezeichnet - wobei man hier noch einmal betonen sollte, dass es im Kontext unserer Diskussion hier nicht um kulturelle Normen etwa der fünfziger oder sechziger Jahre in Deutschland geht (auch ich kam in der Grundschule noch in den 'Genuss' von Prügelstrafen), sondern um die im China der Tang-Dynastie vorliegenden. Anders gesagt: die während der formativen Phase des klassischen Chan / Zen existierenden, die somit auf eben diese Formation Einfluss nahmen. Ein nicht nur geographisch, sondern auch zeitlich mit über einem Jahrtausend sehr ferner Raum. Genau hier - unter Berücksichtigung des im vorangegangenen Absatz gesagten - stellt sich dann auch die ebenfalls bereits angesprochene Frage kultureller Inkompatibilität. Das scheint zunächst eine nur theoretische Fragestellung zu sein, es geht dabei jedoch um die konkrete psychologische Disposition von Menschen heute und hier in unserem Kulturkreis. Anders ausgedrückt: um eine Frage der Inkulturation von Zen.
Unbestritten ist, wie schon gesagt, dass der oben umrissene Kulturwandel im Westen relativ jungen Datums ist und deswegen (hauptsächlich) Ältere hinsichtlich erzieherischer Gewalt keine Inkompatibilität sehen. Oder auch vielleicht gerade deswegen eine solche sehen. Ich denke, das hängt davon ab, ob man zur "guten alten Zeit" und gerade solchen zumindest hier weitgehend überwundenen kulturellen Traditionen zurück will. Das mag jeder mit sich selbst ausmachen. Mit "Zen" hat das aber meines Erachtens herzlich wenig zu tun.
Was nun hier - mE unzulässig - mit dem Aspekt von physischer Gewalt mit erzieherischer Intention vermengt wurde, sollte sauber davon getrennt werden: der aus Kontrollverlust von Affekten resultierende Gebrauch physischer Gewalt. Ellviral hatte da z.B. Ungeduld angesprochen, und das wurde dann ja auch aufgegriffen: "So kann es auch einmal, durch menschliche Schwäche, passieren, dass einem "Meister" der Geduldsfaden reißt und er handgreiflich wird" (um nun doch einmal zu zitieren). Beides, aus erzieherischer Intention resultierende und aus Kontrollverlust resultierende physische Gewalt sollte differenziert betrachtet und auch bewertet werden. Dass ich persönlich ersteres im Kontext eines inkulturierten Zen für inakzeptabel halte und das zweite generell für eine Disqualifikation eines "Meisters", ist sicher deutlich geworden. Auch insofern war die Diskussion zwischen IkkyuSan und mir sachbezogener, als es anscheinend hier wahrgenommen wurde.
Wo auch deutlich getrennt werden sollte, das ist zwischen dem erzieherischen Gebrauch tatsächlicher physischer Gewalt, dem bokatsu (wobei ich hier natürlich speziell vom bo spreche, nicht vom katsu), und dem Gebrauch physischer Gewalt in Form literarischer Fiktion - auch dies wurde bereits von mir angesprochen. Letzteres hat ja, zumindest wenn ich meiner in dieser Hinsicht sicher begrenzten Wahrnehmung folge, weitgehend die physische Anwendung des bo, von Ohrfeigen, Boxhieben usw. ersetzt - und das bereits während der Song-Dynastie, also bevor und während Chan in Japan als Zen inkulturiert wurde. Hier wird ein sehr spezieller, aber im aktuellen, westlichen Inkulturationsprozess wichtiger Aspekt von Tadition angesprochen - nämlich die Frage, wie weit diese postfaktisch fabriziert ist. Da ist es dann durchaus von Vorteil, mit dem "Gelehrten-Zen" (das es nicht gibt, es gibt lediglich Zen-Gelehrte) ein wenig vertraut zu sein. Da wird man dann sehen, dass wir hier tatsächlich in großem Ausmaß eine fabrizierte Tradition überliefert bekommen - wobei das Ausmaß der Fabrikation aufgrund des großen zeitlichen Abstandes naturgemäß schwierig bestimmbar ist. Diese Fabrikation setzt bereits während der Tang-Dynastie ein und setzt sich vor allem in Form der hagiographischen Yulu-Literatur (der Quelle, aus der heraus die klassische Koan-Literatur entstand) bis in die Gegenwart in Form moderner 'Meister-Biographien' fort. Was ich übrigens mit etwas gemischten Gefühlen auch in meiner eigenen Tradition beobachte. Dieses Phänomen der Fabrikation findet sich auch in anderen Texten - gut belegt ist es insbesondere beim Tanjing, dem Plattform Sutra, mit seinen diversen Anwachsungen und Weglassungen in den verschiedenen Varianten von der Tang-Dynastie (die Dunhang-Manuskripte) bis hin zur mingzeitlichen Edition. Yanagida, McRae, Adamek, Heine und Bodiford (um nur einige Namen zu nennen) haben dazu wertvolle, weil desillusionierende Aufklärungsarbeit geleistet. Wer ernsthaft Zen übt, tut nach meiner Auffassung gut daran, die Arbeit dieser "Zen-Gelehrten" zumindest in ihren Grundzügen zu kennen und deren Ergebnisse nicht zu ignorieren.
Hinsichtlich der Frage, ob speziell die bokatsu-Tradition ein unentbehrliches Element der Zen-Schulung ist oder ob eine solche ohne das Element physischer Gewaltanwendung (im Sinne erzieherischer Gewalt) zumindest "verwässert" wird, gilt es zu beachten, dass es hier lediglich um eine Teiltradition des Zen geht, worauf ich bereits wiederholt hingewiesen hatte. Bejaht man diese Frage, dann qualifiziert man damit die Guiyang-, Fayan- und die Caodong-Übertragunslinien als defizitär oder verwässert. Und - was wichtiger ist - ignoriert dabei völlig, dass Chan schon eine ganze Weile existierte, bevor Deshan und Huangbo auftraten und mit solchen 'geschickten Mitteln' arbeiteten. Ein Mittel - und um nicht mehr geht es hier, um eines von vielen Mitteln - ist grundsätzlich geschickt oder ungeschickt hinsichtlich der (zeitgebundenen) Umstände und Bedingungen, unter denen es angewandt wird. Das ist der "Kontext", von dem IkkyuSan schrieb und den auch ich nicht übersehe. Die eingangs dieses Absatzes angesprochene Frage reduziert sich damit auf die Frage, ob physische Gewalt unter den Umständen und Bedingungen westlicher Kultur des 21. Jahrhunderts und dadurch psychologisch disponierter Zen-Übender ein geschicktes oder ein ungeschicktes Mittel ist. Auf Tradition als Selbstzweck ist doch geschissen. Ohne genau diese Einstellung hätte es Chan und Zen nie gegeben.
Ein beachtenswerter Aspekt, auf den ebenfalls bereits hingewiesen wurde, ist die Instrumentalisierung der Tradition gewalttätiger Rhetorik wie auch gewalttätiger Praxis - sei letztere nun 'echt' oder postfaktisch fabriziert - als Mittel zur theoretischen Begründung, um ein auf eine Vielzahl in aller Regel völlig 'unspiritueller' Faktoren zurückzuführendes, gewalttätiges Handeln im Bedarfsfall zu rechtfertigen. Das finden wir im sog. Samurai-Zen und in seiner entartetsten Form im 'Zen des kaiserlichen Weges'. Beispiele in Fülle finden sich u.a. bei Brian Victoria; mE sollte das Pflichtlektüre Jedes ernsthaft an Zen Interessierten sein.
Um ein mögliches Missverständnis anzusprechen bzw. nochmals aufzugreifen: wie ich bereits am Anfang des Threads versucht habe deutlich zu machen, ist der kyosaku ein Thema für sich, dass nur mittelbar mit unserem Thema zu tun hat. Was zweifellos 'Außenstehenden' schwierig zu vermitteln ist (aber nicht nur denen). Der kyosaku ist nach meiner Auffassung kein erzieherisches, sondern ein (physio-)therapeutisches Mittel und hat vom diesem Grundsatz her mit physischer Gewalt so wenig zu tun wie eine Massage. Allerdings gibt es - auch das war angesprochen - einen weitverbreiteten stümperhaften Gebrauch, der häufig auch Missbrauch im Sinne affektiven Kontrollverlustes ist und darüber hinaus ist seine Anwendung aufgrund der oben angesprochenen psychologischen Disposition vieler westlicher Übenden problematisch.
()