Beiträge von Sudhana im Thema „Was ist Glück?“

    Karnataka:

    Endlich eine Gelegenheit, meine literarischen Ergüsse zu veröffentlichen! :oops:

    Eine amüsante Satire (Danke dafür), die jedoch lediglich mit ihrem Unterhaltungswert zur Diskussion hier beiträgt. Die Unterstellung einer pathologischen Emotionsarmut ist natürlich ein bloßes argumentum ad hominem (wobei "argumentum" schon geschmeichelt ist) gegen Kants Auffassung - wollte man das ernst nehmen (wobei ich nicht denke, dass es so gemeint war), müsste man dem Text bescheinigen, nicht mehr als Polemik zu sein, die nach dem billigen Beifall derer schielt, die sich gewohnheitsmäßig der Unbequemlichkeit eines abgewogenen und begründeten Urteils entziehen.


    Jedenfalls dürfte durch die Zitate aus der KpV (wenn man sie denn gelesen und gedanklich nachvollzogen hat) deutlich geworden sein, dass es Kant eben nicht darum geht, wie behauptet, "die Glückseligkeit aus der Ethik zu verdrängen" - er weist ihr lediglich den ihr angemessenen Platz zu, nämlich als Bestimmungsgrund persönlicher Handlungsmaximen die, wenn sie dem Anspruch ethischer (also allgemein normativer) Geltung genügen sollen, unter dem Vorbehalt der 'Sozialverträglichkeit' um nicht zu sagen sozialen Nützlichkeit stehen müssen. Die Bedeutung dieser Absage an Glückseligkeit (die schon in der Antike sehr unterschiedlich bestimmt wurde) als Fundament einer Ethik, also an den utilitaristischen Eudämonismus, ist vor allem, dass dies gleichzeitig eine Absage an jegliche Zwangsbeglückung ist - gleich, ob diese nun auf einer religiösen oder politischen Definition von Glückseligkeit (etwa der Erlösung durch den Glauben an Jesus Christus oder das Marx'sche Reich der Freiheit jenseits der Notwendigkeit) aufsetzt. Genau das ist auch das aufklärerische an Kants Ethik, das seinen Niederschlag in den konkreten Lebensbedingungen von Menschen in demokratisch und säkular verfassten Gemeinwesen gefunden hat - beileibe keine Sache nur für Hörsäle. Um so deutlicher wird dies, wenn man es an dem aufklärerischen Defizit insbesondere der Gemeinwesen mit islamisch geprägter Kultur misst, dessen Aufarbeitung dringend notwendig ist. Ein Defizit, das nicht zuletzt auch in Gesellschaften mit einem ausgeprägten Nationalismus buddhistischer Couleur wie in Myanmar oder Sri Lanka festzustellen ist.


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    Nochmals dazu:

    Karnataka:

    Besonders scheint es mir falsch, die „Glückseligkeit“ aus der Ethik zu verdrängen, wie Kant das tut.

    Das ist schlicht falsch, auch wenn Kant unter 'Glückseligkeit' möglicherweise etwas anderes versteht als Du (und sicher etwas anderes als christliche Ethiker). Wobei Kants Definition durchaus in Richtung dieser Aussage von Dir geht:

    Karnataka:

    Wir sind so beschaffen, dass es uns um Eigennutz geht.

    Jedenfalls schreibt Kant:

    Kant:

    Alle materialen praktischen Prinzipien sind, als solche, insgesamt von einer und derselben Art, und gehören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit.


    Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einer Sache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begehrens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Empfänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Dasein eines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie dem Sinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an, der eine Beziehung der Vorstellung auf ein Objekt, nach Begriffen, aber nicht auf das Subjekt, nach Gefühlen, ausdrückt. Sie ist also nur so fern praktisch, als die Empfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt von der Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Begehrungsvermögen bestimmt. Nun ist aber das Bewußtsein eines vernünftigen Wesens von der Annehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen sein ganzes Dasein begleitet, die Glückseligkeit, und das Prinzip, diese sich zum höchsten Bestimmungsgrunde der Willkür zu machen, das Prinzip der Selbstliebe. Also sind alle materialen Prinzipien, die den Bestimmungsgrund der Willkür in der, aus irgend eines Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden, Lust oder Unlust setzen, so fern gänzlich von einerlei Art, daß sie insgesamt zum Prinzip der Selbstliebe, oder eigenen Glückseligkeit gehören.
    (KpV, §3, Lehrsatz II)

    Vor allem in Anmerkung II zu diesem Lehrsatz erläutert Kant, warum das Streben nach Glückseligkeit in diesem Sinn kein Fundament für eine Ethik sein kann:

    Kant:

    Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangen jedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und also ein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Begehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit seinem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicher Besitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein seiner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzen würde, sondern ein durch seine endliche Natur selbst ihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist, und dieses Bedürfnis betrifft die Materie seines Begehrungsvermögens, d.i. etwas, was sich auf ein subjektiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oder Unlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheit mit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird. Aber eben darum, weil dieser materiale Bestimmungsgrund von dem Subjekte bloß empirisch erkannt werden kann, ist es unmöglich diese Aufgabe als ein Gesetz zu betrachten, weil dieses als objektiv in allen Fällen und für alle vernünftigen Wesen eben denselben Bestimmungsgrund des Willens enthalten müßte. Denn obgleich der Begriff der Glückseligkeit der praktischen Beziehung der Objekte aufs Begehrungsvermögen allerwärts zum Grunde liegt, so ist er doch nur der allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungsgründe, und bestimmt nichts spezifisch, darum es doch in dieser praktischen Aufgabe allein zu tun ist, und ohne welche Bestimmung sie gar nicht aufgelöset werden kann. Worin nämlich jeder seine Glückseligkeit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderes Gefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einem und demselben Subjekt auf die Verschiedenheit des Bedürfnisses, nach den Abänderungen dieses Gefühls, und ein subjektiv notwendiges Gesetz (als Naturgesetz) ist also objektiv ein gar sehr zufälliges praktisches Prinzip, das in verschiedenen Subjekten sehr verschieden sein kann und muß, mithin niemals ein Gesetz abgeben kann, weil es, bei der Begierde nach Glückseligkeit, nicht auf die Form der Gesetzmäßigkeit, sondern lediglich auf die Materie ankommt, nämlich ob und wie viel Vergnügen ich in der Befolgung des Gesetzes zu erwarten habe. Prinzipien der Selbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Geschicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) enthalten, alsdann sind es aber bloß theoretische Prinzipien [...]. Aber praktische Vorschriften, die sich auf sie gründen, können niemals allgemein sein, denn der Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf das Gefühl der Lust und Unlust, das niemals als allgemein, auf dieselben Gegenstände gerichtet, angenommen werden kann, gegründet.

    Sodann in der Anmerkung zu §4, Lehrsatz III:

    Kant:

    Es ist daher wunderlich, wie, da die Begierde zur Glückseligkeit, mithin auch die Maxime, dadurch sich jeder diese letztere zum Bestimmungsgrunde seines Willens setzt, allgemein ist, es verständigen Männern habe in den Sinn kommen können, es darum für ein allgemein praktisches Gesetz auszugeben. Denn da sonst ein allgemeines Naturgesetz alles einstimmig macht, so würde hier, wenn man der Maxime die Allgemeinheit eines Gesetzes geben wollte, grade das äußerste Widerspiel der Einstimmung, der ärgste Widerstreit und die gänzliche Vernichtung der Maxime selbst und ihrer Absicht erfolgen. Denn der Wille Aller hat alsdann nicht ein und dasselbe Objekt, sondern ein jeder hat das seinige (sein eigenes Wohlbefinden), welches sich zwar zufälligerweise, auch mit anderer ihren Absichten, die sie gleichfalls auf sich selbst richten, vertragen kann, aber lange nicht zum Gesetze hinreichend ist, weil die Ausnahmen, die man gelegentlich zu machen befugt ist, endlos sind, und gar nicht bestimmt in eine allgemeine Regel befaßt werden können.

    Sodann aus Anmerkung II zu §8 Lehrsatz IV:

    Kant:

    Das Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maximen, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzen des Willens tauglich wären, selbst wenn man sich die allgemeine Glückseligkeit zum Objekte machte. Denn, weil dieser ihre Erkenntnis auf lauter Erfahrungsdatis beruht, weil jedes Urteil darüber gar sehr von jedes seiner Meinung, die noch dazu selbst sehr veränderlich ist, abhängt, so kann es wohl generelle, aber niemals universelle Regeln, d.i. solche, die im Durchschnitte am öftesten zutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und notwendig gültig sein müssen, geben, mithin können keine praktischen Gesetze darauf gegründet werden. Eben darum, weil hier ein Objekt der Willkür der Regel derselben zum Grunde gelegt und also vor dieser vorhergehen muß, so kann diese nicht worauf anders, als auf das, was man empfiehlt, und also auf Erfahrung bezogen und darauf gegründet werden, und da muß die Verschiedenheit des Urteils endlos sein. Dieses Prinzip schreibt also nicht allen vernünftigen Wesen eben dieselben praktischen Regeln vor, ob sie zwar unter einem gemeinsamen Titel, nämlich dem der Glückseligkeit, stehen. Das moralische Gesetz wird aber nur darum als objektiv notwendig gedacht, weil es für jedermann gelten soll, der Vernunft und Willen hat.


    Diese Argumentation scheint mir vor allem hinsichtlich des Zusammenhanges von Glückseligkeit mit Begehren bzw. Selbstliebe auch im allgemeinen Zusammenhang unseres Threads hier bemerkenswert.


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    Karnataka:

    Denn es gibt keinen Grundsatz für eine reine Vernunft, der immer und überall in der realen Welt gültig wäre.

    Ich vermute mal, dass Dir nicht wirklich klar ist, was "reine Vernunft" eigentlich bedeutet - z.B. bei Kant, dem Aufklärer par excellence. Sie ist per definitionem "immer und überall" "gültig" - allerdings ist sie eben gerade nicht auf die "reale Welt" bezogen, insofern man darunter sinnlich Erfahrbares versteht. Die Formulierung eines "Grundsatzes", wie Kants kategorischer Imperativ einer ist, der wiederum das Fundament von Kants aufklärerischer Ethik ist, beruht daher auf dem, was Kant im Gegensatz zur reinen Vernunft als praktische Vernunft bezeichnet.


    Nun ist beispielsweise der kategorische Imperativ nicht mehr und nicht weniger "immer und überall in der realen Welt gültig" wie andere Ethiken, einschließlich der des Dalai Lama (was auch immer das für eine sein mag). Es handelt sich bei diesem Grundsatz - wie bei jedem ethischen Grundsatz - um eine Antwort auf eine philosophische Grundfrage. Und zwar, um bei Kant zu bleiben, auf die zweite der von ihm formulierten vier philosophischen Grundfragen:
    1. Was kann ich wissen?
    2. Was soll ich tun?
    3. Was darf ich hoffen?
    4. Was ist der Mensch?
    Das aufklärerische an Kants Antwort auf die Frage "Was soll ich tun?" liegt darin, dass er in seiner Antwort darauf - anders als beispielsweise die christliche Ethik, die auf per Offenbarung vermittelten göttlichen Geboten basiert - auf ein transzendentes Fundament verzichtet und versucht, eine Ethik auf Grundlage praktischer(sic!) Vernunft zu begründen. Was im übrigen auch der Ansatz des Buddhismus ist, der sich da allerdings am menschlichen Grundproblem der Leidhaftigkeit seiner Existenz orientiert und entsprechend dem Schema der vier aryasatya bei Handlungen mit Körper, Geist oder Sprache zwischen kuśaladharma und akuśaladharma ('heilsamen' und 'unheilsamen' Faktoren) unterscheidet.


    Und - um den Bezug zum Threadthema nicht ganz außer Sicht zulassen - es ist das Erzeugen von kuśaladharma, wo es neben prajñá (heilsamer Kognition) und samādhi (heilsamem mentalem Training) eben auch den ethischen Aspekt śīla, sozial heilsamen Handelns, gibt, das zum "Glück" im Sinne einer Überwindung des Leidens führt.

    Karnataka:

    Mal ist es gut, eine Minderheit zu schützen, mal ist es besser, zum Vorteil der Mehrheit zu handeln.

    Ist das denn ein Widerspruch? Ist es wirklich "besser", zum Vorteil der Mehrheit eine Minderheit nicht zu schützen? Ist das wirklich ein "Vorteil" für die Mehrheit - denn wie sich eine Mehrheit konstituiert, ist ja immer abhängig von einer ganz konkreten Fragestellung. Wer im Sinne einer Fragestellung - sagen wir mal beispielhaft: der Pigmentierung seiner Haut - zur Mehrheit gehört, kann sich schnell im Sinne einer anderen Fragestellung - etwa der Religionszugehörigkeit - in einer Minderheit wiederfinden. Da ist dann die Nichtberücksichtigung eines Minderheitenschutzes plötzlich nicht mehr so vorteilhaft.

    Karnataka:

    Es braucht also nicht nur Vernunft, sondern eine mitfühlende Vernunft.

    Ich persönlich halte einen Mangel an Mitgefühl für alles andere als vernünftig. Vernunft ist mitfühlend, weil sie von Egoismen, von eigenen (vermeintlichen) Vorteilen absieht. Was übrigens gerade beim kategorischen Imperativ der springende Punkt ist, auch wenn das da nicht durch Mitgefühl begründet wird, sondern eben aus Erwägungen praktischer Vernunft. Ohne Mitgefühl handelt es sich lediglich um egoistische Berechnung. Und zwar eine, die sich nach buddhistischer Sichtweise aus avidya, aus einer kognitiven Fehlhaltung heraus speist. Das ist gerade das Gegenteil von Vernunft.

    Karnataka:

    Besonders scheint es mir falsch, die „Glückseligkeit“ aus der Ethik zu verdrängen, wie Kant das tut.

    Das ist zum einen Geschmackssache und zum anderen vor allem der Tatsache geschuldet, dass "Glückseligkeit" zu Kants Zeiten nahezu ausschließlich (christlich-)religiös konnotiert war. Davon abgesehen - auch wenn ich Kants ethischen Ansatz nicht teile (insbesondere Schopenhauers Kritik daran, der stattdessen eine - durchaus vernünftige - Mitleidsethik formuliert hat, halte ich für schlüssig), so finde ich ihn erfrischend nüchtern. Diese Nüchternheit finde ich auch in der buddhistischen Ethik wieder. Da sind sukha ("Glückseligkeit") und duhkha schlicht Komplemente - die Anwesenheit der einen Empfindung ist durch Abwesenheit der anderen gekennzeichnet und umgekehrt. Wobei hier speziell das Problem der Unbeständigkeit (anitya) eine wesentliche Rolle spielt, insofern sukha als lediglich episodische Erfahrung mit Verlusterfahrung gekoppelt ist und damit selbst im Kern duhkatā, also leidhaft ist. Ob man nun die Erfahrungsqualität von jemandem, der duhka vollständig und irreversibel überwunden hat, als sukha bezeichnet oder anderswie - das ist nun eine Frage von sehr nachrangigem Interesse. Meine persönliche Auffassung ist schlicht die, dass das jenseits der Dualität sukha-duhkha liegt und es generell wenig Sinn macht, darüber zu spekulieren. Wem es es bei seiner Praxis hilft, sich vorzustellen, diese würde zu einem dauerhaften Zustand höchster Glückseligkeit führen, soll dies ruhig tun. Buddhistische Praxis führt früher oder später dazu, dass man solche Vorstellungen und Erwartungen schlicht fallen lässt. Ist wie mit dem Floss ...

    Karnataka:

    Wir sind so beschaffen, dass es uns um Eigennutz geht.

    Nein. Wir sind so beschaffen, dass wir im Stadium von avidya nicht wissen, was hinsichtlich duhkha heilsam und was unheilsam ist. Aber wir sind auch so beschaffen, dass wir das Potential haben, diese kognitive Fehlhaltung lernend zu korrigieren.

    Karnataka:

    Daher ist die philosophische Ethik eine Sache für Hörsäle.

    Es gibt nicht "die philosophische Ethik", es gibt eine Vielzahl von Ethiken. Und da Ethik - wie schon oben geschrieben - eine Antwort auf die Frage "Was soll ich tun?" ist, ist das eine Sache, die in den universitären Hörsaal so gut wie auf den Marktplatz gehört. Es ist eine Frage, die jeden Menschen angeht.


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