Karnataka:
Denn es gibt keinen Grundsatz für eine reine Vernunft, der immer und überall in der realen Welt gültig wäre.
Ich vermute mal, dass Dir nicht wirklich klar ist, was "reine Vernunft" eigentlich bedeutet - z.B. bei Kant, dem Aufklärer par excellence. Sie ist per definitionem "immer und überall" "gültig" - allerdings ist sie eben gerade nicht auf die "reale Welt" bezogen, insofern man darunter sinnlich Erfahrbares versteht. Die Formulierung eines "Grundsatzes", wie Kants kategorischer Imperativ einer ist, der wiederum das Fundament von Kants aufklärerischer Ethik ist, beruht daher auf dem, was Kant im Gegensatz zur reinen Vernunft als praktische Vernunft bezeichnet.
Nun ist beispielsweise der kategorische Imperativ nicht mehr und nicht weniger "immer und überall in der realen Welt gültig" wie andere Ethiken, einschließlich der des Dalai Lama (was auch immer das für eine sein mag). Es handelt sich bei diesem Grundsatz - wie bei jedem ethischen Grundsatz - um eine Antwort auf eine philosophische Grundfrage. Und zwar, um bei Kant zu bleiben, auf die zweite der von ihm formulierten vier philosophischen Grundfragen:
1. Was kann ich wissen?
2. Was soll ich tun?
3. Was darf ich hoffen?
4. Was ist der Mensch?
Das aufklärerische an Kants Antwort auf die Frage "Was soll ich tun?" liegt darin, dass er in seiner Antwort darauf - anders als beispielsweise die christliche Ethik, die auf per Offenbarung vermittelten göttlichen Geboten basiert - auf ein transzendentes Fundament verzichtet und versucht, eine Ethik auf Grundlage praktischer(sic!) Vernunft zu begründen. Was im übrigen auch der Ansatz des Buddhismus ist, der sich da allerdings am menschlichen Grundproblem der Leidhaftigkeit seiner Existenz orientiert und entsprechend dem Schema der vier aryasatya bei Handlungen mit Körper, Geist oder Sprache zwischen kuśaladharma und akuśaladharma ('heilsamen' und 'unheilsamen' Faktoren) unterscheidet.
Und - um den Bezug zum Threadthema nicht ganz außer Sicht zulassen - es ist das Erzeugen von kuśaladharma, wo es neben prajñá (heilsamer Kognition) und samādhi (heilsamem mentalem Training) eben auch den ethischen Aspekt śīla, sozial heilsamen Handelns, gibt, das zum "Glück" im Sinne einer Überwindung des Leidens führt.
Karnataka:
Mal ist es gut, eine Minderheit zu schützen, mal ist es besser, zum Vorteil der Mehrheit zu handeln.
Ist das denn ein Widerspruch? Ist es wirklich "besser", zum Vorteil der Mehrheit eine Minderheit nicht zu schützen? Ist das wirklich ein "Vorteil" für die Mehrheit - denn wie sich eine Mehrheit konstituiert, ist ja immer abhängig von einer ganz konkreten Fragestellung. Wer im Sinne einer Fragestellung - sagen wir mal beispielhaft: der Pigmentierung seiner Haut - zur Mehrheit gehört, kann sich schnell im Sinne einer anderen Fragestellung - etwa der Religionszugehörigkeit - in einer Minderheit wiederfinden. Da ist dann die Nichtberücksichtigung eines Minderheitenschutzes plötzlich nicht mehr so vorteilhaft.
Karnataka:
Es braucht also nicht nur Vernunft, sondern eine mitfühlende Vernunft.
Ich persönlich halte einen Mangel an Mitgefühl für alles andere als vernünftig. Vernunft ist mitfühlend, weil sie von Egoismen, von eigenen (vermeintlichen) Vorteilen absieht. Was übrigens gerade beim kategorischen Imperativ der springende Punkt ist, auch wenn das da nicht durch Mitgefühl begründet wird, sondern eben aus Erwägungen praktischer Vernunft. Ohne Mitgefühl handelt es sich lediglich um egoistische Berechnung. Und zwar eine, die sich nach buddhistischer Sichtweise aus avidya, aus einer kognitiven Fehlhaltung heraus speist. Das ist gerade das Gegenteil von Vernunft.
Karnataka:
Besonders scheint es mir falsch, die „Glückseligkeit“ aus der Ethik zu verdrängen, wie Kant das tut.
Das ist zum einen Geschmackssache und zum anderen vor allem der Tatsache geschuldet, dass "Glückseligkeit" zu Kants Zeiten nahezu ausschließlich (christlich-)religiös konnotiert war. Davon abgesehen - auch wenn ich Kants ethischen Ansatz nicht teile (insbesondere Schopenhauers Kritik daran, der stattdessen eine - durchaus vernünftige - Mitleidsethik formuliert hat, halte ich für schlüssig), so finde ich ihn erfrischend nüchtern. Diese Nüchternheit finde ich auch in der buddhistischen Ethik wieder. Da sind sukha ("Glückseligkeit") und duhkha schlicht Komplemente - die Anwesenheit der einen Empfindung ist durch Abwesenheit der anderen gekennzeichnet und umgekehrt. Wobei hier speziell das Problem der Unbeständigkeit (anitya) eine wesentliche Rolle spielt, insofern sukha als lediglich episodische Erfahrung mit Verlusterfahrung gekoppelt ist und damit selbst im Kern duhkatā, also leidhaft ist. Ob man nun die Erfahrungsqualität von jemandem, der duhka vollständig und irreversibel überwunden hat, als sukha bezeichnet oder anderswie - das ist nun eine Frage von sehr nachrangigem Interesse. Meine persönliche Auffassung ist schlicht die, dass das jenseits der Dualität sukha-duhkha liegt und es generell wenig Sinn macht, darüber zu spekulieren. Wem es es bei seiner Praxis hilft, sich vorzustellen, diese würde zu einem dauerhaften Zustand höchster Glückseligkeit führen, soll dies ruhig tun. Buddhistische Praxis führt früher oder später dazu, dass man solche Vorstellungen und Erwartungen schlicht fallen lässt. Ist wie mit dem Floss ...
Karnataka:
Wir sind so beschaffen, dass es uns um Eigennutz geht.
Nein. Wir sind so beschaffen, dass wir im Stadium von avidya nicht wissen, was hinsichtlich duhkha heilsam und was unheilsam ist. Aber wir sind auch so beschaffen, dass wir das Potential haben, diese kognitive Fehlhaltung lernend zu korrigieren.
Karnataka:
Daher ist die philosophische Ethik eine Sache für Hörsäle.
Es gibt nicht "die philosophische Ethik", es gibt eine Vielzahl von Ethiken. Und da Ethik - wie schon oben geschrieben - eine Antwort auf die Frage "Was soll ich tun?" ist, ist das eine Sache, die in den universitären Hörsaal so gut wie auf den Marktplatz gehört. Es ist eine Frage, die jeden Menschen angeht.
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