Der Rigpa-Verhaltenskodex vom Juni 2018 enthält eine bemerkenswerte Formulierung (Hervorhebung von mir):
Zitat Lehrer*innen, Kursleiter*innen und alle, die Rigpa repräsentieren, auf welcher Ebene auch immer, verpflichten sich [...] während einer Veranstaltung, eines Retreats, eines Kurses oder in jeglicher Situation, in der sie als Autoritätsperson auftreten, keine intime Beziehung mit einem*r Teilnehmer*in anzufangen. Außerhalb der eben genannten Umstände wird erwartet, dass jegliche intime Beziehung auf gegenseitigem Respekt basiert und offen bekannt ist, das heißt, nicht im Geheimen geführt wird.
Nun kann man hinsichtlich intimer Beziehungen Anderer trefflich mutmaßen, ob und wie weit sie "auf gegenseitigem Respekt" basieren oder nicht und erwarten kann man viel. Das ist lediglich eine pompöse Leerformel. Entscheidend ist, dass anders als in 'Ethics Codes' anderer Gemeinschaften, sexuelle Beziehungen zwischen Meister(in) und Schüler(in) nach wie vor als zulässig angesehen werden. In anderen Codes wird hingegen gefordert, vor Aufnahme einer sexuellen Beziehung die Lehrer-Schüler-Beziehung aufzulösen und für die Lehrerrolle jemand anderen zu finden. Das ist die einzige Möglichkeit, (bei Nichtordinierten, versteht sich) sexuelle Beziehungen zuzulassen, ohne dass diese durch das zwischen den Beteiligten bestehende Autoritätsgefälle kontaminiert werden. Nur so kann einigermaßen sicher gestellt werden, dass der schwächere Teil diese sexuelle Beziehung tatsächlich selbstbestimmt eingeht.
Wenn man sagt, ein Austausch des Lehrers sei im Vajrayana nicht möglich und dann sexuelle Beziehungen nicht grundsätzlich ausschließen will, dann sollte man das auch offen sagen: wenn du bei Rigpa Schüler(in) wirst, dann musst Du damit rechnen, dass dein Lehrer/Meister versucht, dich flachzulegen. Komm damit klar oder lass es bleiben. Oder, in den Worten der Vorsitzenden von Rigpa e.V.: "das ist bei uns Tradition". So viel unmissverständliche Deutlichkeit hätte ich mir von dem Papier gewünscht - da weiss wenigstens Jeder, woran er ist, wenn er zu Rigpa geht. Abgesehen vom Verzicht auf 'Geheimhaltung' (was aber lediglich "erwartet" wird) steht diese Vorgabe Zuständen, wie sie in Sogyal Lakars 'lama care' - Harem herrschten, in keiner Weise entgegen.
Das Papier 'Gemeinsame Werte und Richtlinien der Rigpa-Gemeinschaft' (ebenfalls Juni 2018) enthält einen speziellen Abschnitt betreffend "qualifzierte Vajrayana- und Dzogchen-Meister*innen", der jedoch zum Thema 'sexuelle Beziehungen' lediglich eine äußerst vage Formulierung enthält:
Zitat Im Rahmen der Meister*in-Schüler*in-Beziehung ist es sowohl für den*die Schüler*in als auch den*die Lehrer*in vollkommen angemessen, seine*ihre jeweiligen Grenzen zum Ausdruck zu bringen, und mit Unterstützung erfahrener Schüler*innen, Kursleiter*innen oder Lehrer*innen den*die Lehrer*in um Klärung zu bitten.
Das kann man so verstehen, dass es auch im Rahmen einer "Meister*in-Schüler*in-Beziehung" in Ordnung ist, sexuelle Avancen abzuweisen und damit "seine*ihre jeweiligen Grenzen zum Ausdruck zu bringen". Falls das so gemeint sein sollte, wäre eine deutlichere Sprache sinnvoll. Insbesondere, wenn man sich den Abschnitt "Den Vajrayana-Pfad einschlagen" genauer anschaut:
Zitat Menschen, die für sich entscheiden, dem Vajrayana-Pfad zu folgen und sich von einem*r Meister*in leiten lassen, wie es in den Vajrayana- und Dzogchen-Lehren dargelegt wird, können dies nur tun, indem sie formell diese Stufe der spirituellen Anleitung erbitten. [...] Stellt ein*e Schüler*in freiwillig und auf eigenen Wunsch einen derartigen formellen Antrag, gilt dies als Zustimmung zu dieser Stufe spiritueller Anleitung.
Das erinnert zumindest mich doch sehr an Dzongsar Jamyang Khyentses berüchtigten "Vertrag". Auch da wäre es wünschenswert, etwas genauer zu spezifizieren, was "spirituelle Anleitung" auf solcher "Stufe" so alles umfassen kann. Beleidigungen? Schläge? Sexuelle Übergriffe? Das liest sich für mich wie vorsorgliches juristisches ass-covering.
Insgesamt ist dies alles nach meiner Auffassung noch sehr weit entfernt von der Empfehlung des Lewis Silkin-Berichts:
Zitat Es sollten umfassende und schriftliche Schutzbestimmungen eingeführt werden, um sicherzustellen [...] dass sexuelle Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern entweder komplett untersagt sind oder spezifischen Schutzmaßnahmen unterliegen, die sicherzustellen, dass kein Machtmissbrauch geschehen kann.
"Aufarbeitung" würde ich das jetzt nicht nennen - eher Kosmetik.