Doch dann kam die Wende in den frühen 1990er Jahren. Seither geht es bergab. Und zwar nicht nur in Bulgarien, sondern in ganz Osteuropa: Die Arbeitslosigkeit kletterte auf 80 Prozent, die Kindersterblichkeit ist in die Höhe geschnellt, das Alter von Erstgebärenden liegt zwischen 15 und 18 Jahren.
Wenn in einer Roma-Familie heute noch jemand die Landessprache spricht, sind es die Grosseltern. Die anderen sind bei Behördengängen oder im Austausch mit Einheimischen auf Übersetzung angewiesen.
Die ärmsten der Armen schliesslich verlassen Nadhezda nie. Es sei denn, sie können sich kriminellen Organisationen anschliessen, die mit Prostitution und Bettelei im Ausland ein Auskommen bieten. Organisatoren sind praktisch ausschliesslich Männer aus der Gemeinschaft, die gegen Geld Reise und Unterkunft anbieten, die Arbeit im Ausland überwachen und den Zahltag einziehen. Die meisten der «Angestellten» haben sich schon vor der Reise bei den Organisatoren verschuldet.
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Aus einer durchschnittlichen Ehe gehen mindestens vier Kinder hervor. Häufiger sind es aber mehr, manchmal gar zehn oder zwölf. Oft sind es ungewollte Schwangerschaften, da sich die Familien die Kinderschar kaum leisten können. Nicht jedes Neugeborene überlebt. Die Kindersterblichkeit in Nadhezda ist die höchste in ganz Europa.
Überleben die Mädchen, so werden sie ab Geschlechtsreife aus der Schule genommen und verheiratet. Das heisst, falls die Eltern sie jemals zur Schule geschickt haben. Viele Roma behalten die Kinder zu Hause. Kinderehen sind häufig. Entsprechend jung sind die Mütter bei Geburt ihres ersten Kindes.
Im letzten Jahr sind im Spital von Sliwen 185 Babys auf die Welt gekommen, deren Mütter selbst noch Kinder sind. Die jüngste Mutter kam vor drei Jahren in die Frauenklinik. Sie war elfjährig und wusste nicht, dass eine Schwangerschaft gleichzeitig bedeutet, ein Kind zu bekommen.
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Der dritte Faktor wird für gewöhnlich vernachlässigt in der Debatte, meistens aus falsch verstandener politischer Korrektheit. Nadhezda mag auf westliche Besucher wie ein anarchistischer Slum wirken, doch der Eindruck täuscht. Das Ghetto hat eine starre, von reaktionären Männern geprägte Struktur, die jede Entwicklung zu einer modernen Gesellschaft verhindert.
Diese Patriarchen verweigern ihren Kindern die Bildung, weil sie der Meinung sind, von den Bulgaren ohnehin um gute Bildung und wirtschaftliche Teilhabe betrogen zu werden. Sie verunmöglichen Fortschritt, indem sie ihre Töchter mit 14 Jahren verheiraten, beim Geschlechtsverkehr auf Kondome verzichten und ihre Frauen damit Dutzende von Kindern gebären lassen, die sich die Familie nicht leisten kann. Wer es aus diesem patriarchalen Gefüge nach draussen schafft, kommt nie mehr zurück.
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«Ein riesiger Teil der Mittel aus der EU ist in schwarzen Kassen des bulgarischen Staates verschwunden», sagt Kjutschukow. Er stützt sich dabei auf einen Bericht der EU-Kommission, der eigentlich nie direkte Folgen für Bulgarien hatte. Die Macho-Community, wie auch Kjutschukow sie nennt, lebt derweil als käufliche Masse. «Die bulgarischen Politiker erinnern sich bloss an die Roma, wenn Wahlen sind. Dann gehen sie in die Ghettos und kaufen Stimmen.»